Montag, 20. Januar 2025

Ein Jahrhundertbuch: Marko Martin: „Brauchen wir Ketzer?“ – Stimmen gegen die Macht

 




Marko Martin: „Brauchen wir Ketzer?“ – Über beunruhigende Macht und Ohnmacht

Marko Martin porträtiert elf jüdische Intellektuelle in den Ideologiekämpfen der dunkelsten Dekade des 20. Jahrhunderts. Der Autor liest dabei ihre Werke vergangener Tage und erkennt Wiederkehrendes in unserer Zeit. Zu Recht.



In den 1990ern begegnete ich im Zuge einer Lesung in Thüringen mit Volkmar von Zühlsdorf den einstigen Direktor der American Guild for German Cultural Freedom, die Hunderten vom Nazireich verfolgten Schriftstellern mit Stipendien und Reisepapieren half. Darunter lesen wir Namen wie Bertolt Brecht, Hanns Eisler, John Heartfield, Lion Feuchtwanger, Robert Musil, Joseph Roth, Anna Seghers, Hilde Marx, befürwortet von Erika Mann, oder Maria Leitner, die jedoch trotz des nachfassenden Bemühens der Guild um ein Visum, 1941 in Marseille, wie Joseph Roth 1939 in Paris, ein unverdientes Ende fand. Ich durfte mich glücklich schätzen, mit dem zugesandten Katalog eine Wissenslücke zu schließen und freute mich, ihn, wenn auch nur seitlich erwähnt, wiederzufinden in Marko Martins genauer Sammlung von elf Schaffensportraits ähnlich guter Namen in „Brauchen wir Ketzer? Stimmen gegen die Macht“.

In diesem herausragenden Buch treffen wir mit Ludwig Marcuse, Alice Rühle-Gerstel, Anna Seghers, Hermann Broch, Primo Levi, Leo Lenia, Stefan Heym, Fritz Beer, Hilde Spiel, Hans Habe und Friedrich Torberg auf elf jüdische Intellektuelle, die vom Nazireich verfolgt, durch Länder ziehend, außergewöhnliche Werke schrieben und der überzerstörenden Macht entgegensetzten.

Das Ergebnis dieses sauber recherchierten und kommentierten Panoramas ist gigantisch. Vom folgenschweren Münchner Abkommen ausgehend, mit der selbstbetrügenden Hoffnung „Peace for our Time“ vom britischen und vom französischen Premier Chamberlain und Daladier unterschrieben, von Hitler und Mussolini missbraucht, zeichnet dieser wunderbare Autor die Ungebrochenheit einer Schule nach, deren Anhänger in Wesen und Werken so sehr gegen das Unrecht sind, dass diejenigen, die nur menschlich tun, auch „keine Freude daran haben“. Als Waffe nur das Wort, hinweisend auf unverdiente Missstände, auf gesellschaftliches Welken, wohin anmaßende Macht ihren Fuß setzt, folgen wir ihnen von Europa bis nach Nord- und Südamerika. Die Luft zittert von lebensbedrohlichen Verfolgungen und Verweigerung, leider auch durch nahestehende Künstler, die es sich wiederum anderswo nicht verscherzen wollen.

Ein immer wiederkehrendes Zittern. Der Rezensent erinnert sich an ein Gespräch mit einem Sendedirektor von n-tv, der die DKP aus Angst vor der Verfolgung seiner Familie bis zum Ende des Kalten Krieges nicht verlassen hat. Wir kennen Romantitel wie „Die Satanischen Verse“ und das Schicksal des Autors Salman Rushdie in heutiger Zeit. Wir kennen die Namen der ermordeten, auf Missstände hinweisenden Journalisten seit dem Ende der Teilung Europas. Und es war Anna Seghers, die in Ostberlin die Frage prägte, warum alles verwelkt, wohin die Ideologie, der sie schweigend beisaß, ihren Fuß setzte. Und legt den Gedanken nicht nur nahe, wie bedeutungslos jener Macht bedeutende Werke sind, sobald ihr die Urheber nicht um den Hals fallen.

Beschreibt Marko Martin in seinem vorangegangenen, zu Recht hoch gelobten Buch „Dissidentisches Denken: Reisen zu den Zeugen eines Zeitalters“ in zutreffenden Bildern Autoren im Widerstand gegen den autoritären Kommunismus, die vor dem Ende des Roten Reiches keinesfalls selten von Gläubigen zu Renegaten geworden sind, bilden die „Ketzer“ im Widerstand gegen den Nationalsozialismus, und frei davon, erst abtrünnig werden zu müssen, ein gemeinsames Kompendium genauester Beobachtungen, treffender Analysen, bei so einer gewaltigen Schönheit der Sprache, wie sie das 20. Jahrhundert kaum noch einmal hervorgebracht hat.

Und vieles bricht hier, ob Verbindungen, Vertrauen, Verlässliches, und bildet doch einen Bruchgraben, in den der Autor die Bücher dieser Intellektuellen so sinnig nacherzählend zusammenfließen lässt, dass ein sich selbst erhaltendes Werk entsteht, das die Leser in diese Welt wie noch nie vorher eintauchen und mitfühlen lässt.

Sicherlich sind Ketzer darin auch Kinder ihrer Zeit, der gesellschaftlichen Umstände, doch die Zeit hat viele Kinder, und mit einer gewissen Höhe an Wesens- und Herzensbildung ist die ehrenvolle Haltung gegen das Unrecht in Wahrheit nichtsGeringeres als die Verteidigung der Freiheit, die für jeden und jede ist.

Wenn dies als Wesensmerkmal gilt, sind dann aber nicht doch Abweichungen möglich? Kritisch wurde dahingehend schon nach Anna Seghers und ihrer doch ergebenen Rolle in der SED-Diktatur gefragt. Weder bei der Ausbürgerung Wolf Biermanns noch beim großen Rauschmiss von neun Autoren aus dem Schriftstellerverband war ihre Stimme zu hören.

Marko Martin verschweigt dies nicht, sondern hinterfragt es selbst, und dabei sind seine vorgestellten Portraits wirklich feinnervig und so klug kuratiert, dass er fast mit leichter Hand (nichts ist leicht) zeigt, wie einmalig die scharfsinnige Sicht auf Missstände ist, auch für den Menschen selbst, und auf welches gefährlich-feindschaftliches Denken es stoßen kann. Ein Denken, das selbst der kritischen Haltung feindliche Gefühle zur Verteidigung von Ruhm und Wohlstanbeimischen kann, in einer Schrecksekunde wie in einer anderen Welt.

So schreibt über das bis zum Machtrausch verführte Denken Friedrich Torberg in seiner ab Seite 448 zu lesenden Passage: Dann war auch das Allerletzte schon hinausgestorben in die Stille, verschluckt von ihr und begraben, versunken tief und tot in dieser halben Stunde, die abgeblockt lag zwischen Nichtmehr und Nochnicht, in einem rätselhaften unheimlichen Stillstand – bis sie krachen aus der Zeit hervorbrach, und krachend brach die Zeit dann los, brach über die Stadt herein und war eine andere Zeit…Es war auch keineswegs so, daß dies alles sich hätte bloß aufpropfen wollen und abgeglitten wäre, ach nein. Sondern es war eingedrungen in die Stadt, und die Stadt nahm es auf, schweigsam und willfährig, und versank darin, und war eine andere Stadt.

Und Marko Martin schreibt dazu: „Gäbe es von Friedrich Torberg nur diese Passage, und die folgenden, in denen er – exakt ein halbes Jahrhundert vor Thomas Bernhards Heldenplatz – den illusionären Machtrausch der Wiener, die>>seine Wiener<< ab da nie mehr sein können, beschreibt und lautmalerisch zu schrecklicher Geltung bringt: allein das würde seinen Rang bestätigen.“

Und das tut auch der durchgehalten dichte Grundtenor dieses in Gänze grandiosen und allen Kultur- und Lehrbereichen der Gesellschaft ans Herz gelegten Buches, das ein namhafter Autor vergangenen Sommer auf dem Campus der Robert-Havemann-Stiftung, nach seiner Buchempfehlung gefragt, nannte und kurz und bündig erklärte: „ein Jahrhundertbuch!“

Darf der Rezensent zustimmen? Er tut’s. Keine Frage: Marko Martins „Ketzer“ sind ein Meisterwerk!

Das Buch: Marko Martin: Brauchen wir Ketzer? – Stimmen gegen die Macht. Arco Verlag, Wuppertal 2023. 482 S., 20 Euro.


Quelle: https://www.tabularasamagazin.de/axel-reitel-marko-martin-brauchen-wir-ketzer-ueber-beunruhigende-macht-und-ohnmacht/ (20. Januar2025) 

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