Mittwoch, 11. Mai 2022

Warum sich Chamberlain von Hitler täuschen ließ und warum „Peace of our time“ keine Zivilisationsformel ist Ein Rückblick auf 1938 und die Folgen

 

Über Appeasement und Desinformation

Ist „Peace of our time“ unsere Zivilisationsformel?

Anmerkungen zu Greta Kuckhoff und der „Roten Kapelle“

Ein Rückblick auf 1938 und die Folgen

von

Axel Reitel

für Ule und Maria Mägdefrau


Revived bitterness

is unnecessary unless

one is ignorant“.

Aus dem Gedicht „The past is the present“

von Marianne Moore (1887–1972)


Können wir unseren Mitmenschen vertrauen?“ Teilnehmer einer seit 1981 bislang sechsmal durchgeführten internationalen Studie geben mit der Beantwortung dieser Frage, die Stadt und Land, Regierung und Straße einschließt, einerseits ein alarmierendes und andererseits ein hoffnungsvolles Zeichen. Demnach hat, abgesehen von erfreulichen Ausnahmen, in den meisten Ländern das Vertrauen in die Mitmenschen abgenommen. Ich lese diesen Artikel, erschienen Anfang Oktober 2018 in der „Neuen Zürcher Zeitung“, am selben Tag, an dem ich diese Anmerkungen zur „Roten Kapelle“ abschließe.

Als ich im Februar 1979 im Windschatten meines Jugendfreundes Ule dessen Oma am Leninplatz in Ost-Berlin besuche, hatte ich ihr als „Lebensbericht“ untertiteltes Buch „Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle“ bereits gelesen. Die 1902 geborene, weißhaarige freundliche Dame war die hervorstechende Persönlichkeit der Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“. Greta Kuckhoff war elegant gekleidet in mausgrauer Nadelcordhose, seidener Blümchenbluse und türkiser Wollstrickjacke. Wir tranken Tee im Wintergarten. Vor dem Fenster erhob sich das tonnenschwere Lenin-Denkmal, dessen Kopf zweieinhalb Jahrzehnte später als Epiphanie im Film „Good Bye, Lenin!“ erstaunt.

Ohne Vertrauen hätten wir es nie zu diesem Zusammenhalt geschafft.“ „Ohne Vertrauen ist das ganze Leben nichts wert.“ Wurden diese Sätze in unserem kurzen Gespräch vor bald vierzig Jahren wirklich ausgesprochen? Als ich vor kurzem, auf Ules Anraten, den Nachlass seiner Großmutter im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde sichtete, kommt es mir immer wieder so vor, als seien diese beiden Kernsätze tatsächlich gefallen. Umso mehr, als ich nach und nach verstehe, wie deutlich sich im Jahr 1938 eine der größten Katastrophen des 20. Jahrhunderts abzeichnete, deren vorbereitete Verhinderung aber dennoch kurz bevorstand.

Das Jahr 1938 als Wegscheide

Mit der Unterzeichnung des Münchner Abkommens in der Nacht vom 29. auf den 30. September 1938 besiegelten Deutschland, Italien, Frankreich und Großbritannien nicht nur das Ende der ersten Tschechoslowakischen Republik. Die Unterzeichner Adolf Hitler, Benito Mussolini, Édouard Daladier und Neville Chamberlain legten dort ebenfalls fest, dass die Tschechoslowakei binnen einer Frist von zehn Tagen das Sudetenland zu räumen und an das Deutsche Reich abzutreten habe.

An der Konferenz teilnehmen durften weder die Tschechoslowakei selbst noch die mit ihr verbündete Sowjetunion. Die reichsdeutsche Außenpolitik wusste das Mittel einer fragwürdigen „pax germanica“, bei gleichzeitiger Kriegsandrohung im Falle der Nichtunterzeichnung, erfolgreich einzusetzen. Dem italienischen Diktator Mussolini, Moderator des Abkommens, waren die Absichten zur Zerstörung der Tschechoslowakei bereits vor dem 29. September 1938 bekannt. Hitlers Pläne sahen bis zum Treffen in München vor, die Tschechoslowakei in einem gemeinsamen Feldzug gegen Ungarn und Polen zu überfallen.

Den notwendigen Freiraum sollte eine Stärkung der revisionistischen Kräfte in diesen Staaten und eine Ablenkungstaktik gegenüber den Garantiemächten eröffnen. Dass Hitler dabei mit verdeckten Karten spielte, demonstrierte sein Verhalten während eines Gesprächs am 15. September 1938 auf dem Obersalzberg: Hitler verweigerte dem britischen Premierminister die Übergabe des Protokolls. Stattdessen erhielt Chamberlain eine gekürzte Fassung, aus der alle kompromittierenden und bewussten Falsch Darstellungen heraus retuschiert wurden.

Die bei den Verhandlungen eintreffende Nachricht von der Mobilmachung der tschechoslowakischen Truppen war inszenierter Theaterdonner, der dennoch einen Wendepunkt markierte. Den fehlenden „Zwischenkieferknochen“ in der Geschichte Hitlerdeutschlands liefert General Dr. Hans Emil Speidel in seinem 1949 erschienenen Buch "Invasion 1944". Es ist die durch gewichtige Indizien gestützte These, dass die NS-Diktatur nach fünf Jahren hätte beendet werden können und Hitler in jenen Tagen zu stoppen gewesen wäre. Dem gegenüber stand zunächst einmal der Nebel eines Wahns, der auf weitem Feld bloße Phantasiebilder als objektive Tatbestände erscheinen ließ. „Der düsteren politischen Lage entsprach die militärische […] Hitler und Goebbels nutzten massenpsychologische Momente geschickt aus und erstrebten den ‚revolutionären Militarismus‘. Das Ergebnis, daß ein Teil der Offiziere, berauscht von napoleonischen Wunschträumen, ‚Funktionäre‘ wurden [...]“, schreibt Speidel in der Invasion 1944.

Dabei räumt er ein, dass sämtlich alle militärischen Führer und Persönlichkeiten „Kinder ihrer Zeit“ waren, die „nicht alles sahen, was sie erkennen mußten“. Das ist wahr und ging doch auch anders, wie wir am Beispiel von Greta Kuckhoff und ihren Mitstreitern sehen können. Andererseits beschreibt Speidel in seinem Buch eine Bewegung innerhalb der Wehrmacht unter Generaloberst Ludwig Beck, die besonders im Jahr 1938 erfolglos versuchte, dem „zum äußersten entschlossenen Staatsoberhaupt Einhalt zu gebieten“. Die Armeestruktur unter Beck wollte den Führer nach seiner Rückkehr aus München verhaften. Doch eben dazu sollte es nicht kommen. Im Fazit von Speidel heißt es: „Der außenpolitische Erfolg Hitlers in München, zu dem ihm die Alliierten verholfen hatten, schlug Beck und seinem Nachfolger Halder die Waffen aus der Hand.“

Appeasement und Desinformation

Die als Sprachlehrerin und Übersetzerin tätige Greta Kuckhoff reiste im Sommer 1938, beauftragt von der Gruppe Harnack-Boysen, nach London. Sie sollte gegen das Münchner Abkommen agitieren und mächtige Verbündete finden. Auch dieser Versuch scheiterte. Die Beschwichtigungspolitik (Appeasement) dominierte auf der Insel und verhinderte eine ausreichende Bereitschaft zum Widerspruch gegen das nationalsozialistische Deutschland. Die massenwirksame Erklärung des Premierministers Chamberlain, die er am 30. September 1938, dem Tag der Unterzeichnung, vom Balkon des Buckingham Palastes an die britische Nation richtete, enthielt das berühmte Credo „Peace for our Time“, das sich nur ein Jahr später als schlimmer Irrtum herausstellte.

Wie weitreichend und erfolgreich Hitlers Desinformatoren die Welt in Atem hielten, belegt das brachiale Scheitern des sowjetischen Volkskommissars für Staatssicherheit, Wsewolod Nikolajewitsch Merkulow. Als Merkulow Stalin am 17. Juni 1941 „einen alarmierenden Vermerk“ vorlegt „über Vorbereitungen Deutschlands für einen Krieg gegen die Sowjetunion“, erhält er eine Abfuhr. Stalin hält den echten Informanten für einen Desinformator. Fünf Tage später erfährt er die Tragik seines Fehlschlusses. Am 22. Juni 1941 griffen deutsche Truppen die Sowjetunion an.

Der von Stalin geschmähte Informant war Harro Schulze-Boysen, ein Offizier im Reichsluftfahrtministerium. Er wusste wie wenige andere von dem bevorstehenden Einmarsch und beschloss, gemeinsam mit anderen deutschen Widerständlern, die sowjetische Seite zu warnen. Kuckhoffs knappe Bemerkung in ihrer memorierenden Erzählung „‚Ules Welt‘“, während des kurzen Besuches in London habe ihr Walt Disneys „Schneewittchen“ „ein funkelnagelneues Kinderherz neben das versorgte und grämende in die Brust gezaubert“, ist dabei von einiger Bedeutung (BArch N 2506/198 Bl. 145). Bei ihrer Rückkehr wird sie von Arvid Harnack, einem Kopf der Gruppe, gerügt, denn sie hätte mit ihrem Kinobesuch nur wichtige Zeit für die Agitation verschwendet.

Harnack war ein an der US-amerikanischen Universität Wisconsin in Madison ausgebildeter Nationalökonom und Vetter des Berliner Pfarrers Dietrich Bonhoeffer. Seine Ehefrau, Mildred Fish, war gebürtige US-Amerikanerin und studierte Literaturwissenschaftlerin. Greta Kuckhoff besuchte, noch unter ihrem Geburtsnamen Margaretha Lorke, ebenfalls die Universität in Madison, wo sie ihr 1924 an der Berliner Humboldt-Universität begonnenes und in Würzburg fortgesetztes Studium der Philosophie, Soziologie und Ökonomie im Jahr 1929 abschloss. Mildred und Arvid Harnack lernte sie im freitags tagenden „Friday Niters Club“ kennen.

Die Jahre 1930 bis 1932 lebte Kuckhoff in Zürich und arbeitete sowohl für einen Rechtsanwalt als auch als freischaffende Sprachtrainerin und Übersetzerin im Bereich Wirtschaftsrecht. Zurück in Deutschland wurde sie Sekretärin des Soziologen Karl Mannheim am Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Danach studierte sie kurzzeitig an der London School of Economics. Hauptsächlich aber bereitete sie die Flucht Mannheims vor, dessen Institut von den Nazis bereits im März 1933 geschlossen wurde. Im selben Jahr lernte sie den Schriftsteller Adam Kuckhoff kennen, sie heiraten am 28. August 1933. Ihr Sohn Ule wurde am 8. Januar 1938 geboren. Auch sein Sohn, mein späterer Jugendfreund, wird einmal Ule heißen.

Foto: Greta Lorke in Zürich, 1932.                                                                                                                            Im Jahr 1937 heiratete sie den Schriftsteller                                                                                                                Adam Kuckhoff (1887– 1943).                                                                                                                                    Quelle: Gedenkstätte Deutscher Widerstand,                                                                                                              Berlin.

Mein Kampf“ zur Aufklärung übersetzen

In ihrem Memoiren-Roman „Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle“ schildert Gretas Mann Adam in einer Passage, was entgegen der Rüge Harnacks steht und warum er „Dichter geworden“ ist. Der nämlich irrt sich, „der denkt, wenn wir erst den Kommunismus haben, kommt das Gefühl für ewige Werte, für Schönheit nicht nur in der Natur, vor allem in den menschlichen Beziehungen, von selbst. Nichts kommt von selbst.“

Die „Rote Kapelle“ setzte sich aus ganz verschiedenen beruflichen Gruppen zusammen. Am Glauben an Literatur und Kunst halten Greta und Adam Kuckhoff auch in ihren Gefängnisbriefen, kurz vor den sicheren Todesurteilen, fest. In jenem „elitären Zirkel aus Kunst, Wissenschaft und Verwaltung“, der das Dritte Reich stürzen und Opfern der Verfolgung helfen will, gerät sie ohne Zweifel durch ihren Ehemann Adam. Aus Sicht des NS-Terrorregimes ist der Kreis lediglich ein Spionagering, den Leopold Trepper, ein polnischer Jude und Kommunist, Widerstandskämpfer und Publizist, im Auftrag des sowjetischen militärischen Nachrichtendienstes (GRU) aufgebaut hat. Es ist folglich auch die Geheime Staatspolizei (Gestapo), die der Widerstandsgruppe den Namen „Rote Kapelle“ verpasst. Rot für die Farbe des Kommunismus. Kapelle als interne Bezeichnung für eine Gruppe von Funkern.

Zu diesem Ring gehören neben den Harnacks der Publizist Harro Schulze- Boysen und seine extravagante Frau Libertas sowie Sophie und John Sieg, ein in Detroit geborener Sohn deutscher Einwanderer, der sich in den 1920er Jahren in Deutschland niederließ und schriftstellerisch aktiv war. Im Jahr 1933 wurde er als KPD-Mitglied für mehrere Monate von der Sturmabteilung (SA) gequält und festgehalten. Sie alle trafen in Berlin immer wieder zusammen: das intellektuelle Paar, das Paar der feinen Gesellschaft, das Pärchen des Proletariats, das Paar der Häuslichkeit. Herausragend ist an der Gruppe, dass Männer und Frauen gleichstark in die Sache des Widerstandes einbezogen sind. Zu ihren Unterstützern gehört der Schriftsteller und Widerständler Günter Weisenborn. Als die Gruppe während des Krieges auffliegt, geschieht das nicht durch Verrat oder Wagemut, sondern aufgrund der Unbedachtheit und Inkompetenz der Geheimdienstler in Moskau, die Namen und Adressen einiger Berliner Mitglieder in einem Funkspruch erwähnen.

Äußerlich war die Vernetzung des Zirkels mit auswärtigen und inländischen Widerstandsgruppen durch einwandfreie Anstellungen in diversen Reichsministerien getarnt. So erhielt Greta Kuckhoff über Schulze-Boysen eine freiberufliche Stelle im Reichsministerium für öffentliche Aufklärung und Propaganda. Ihre Aufträge beinhalten das Übersetzen von Kongressreden, aber auch von Artikeln über die Rassenpolitik der NSDAP.

Das Jahr 1939 beginnt sie in der Hoffnung, die britische Öffentlichkeit über die wahren Absichten Hitlers mit einer selbstständigen Übersetzung von "Mein Kampf" aufzuklären. Erschrocken ist sie vor allem durch die inszenierte Täuschung von Hitlers Desinformationsbüros in Großbritannien. Als ihr eine andere englische Übersetzung im März 1939 zuvorkommt, führt dies in London zu einer denkwürdigen Auseinandersetzung über den Charakter des Nationalsozialismus zwischen dem sowjetischen Botschafter Iwan Michailowitsch Maiski und dem Mitglied des britischen Unterhauses und früheren Premierministers David Lloyd George. In der Debatte mit Maiski verteidigt Lloyd George zunächst den deutschen Reichskanzler vehement.

Die vom Londoner Verlag Hurst & Blackett herausgegebene Übersetzung, für die Hitler selbst das Vorwort schrieb, enthielt allerdings nur ein Siebtel der Originalfassung und wies nirgends auf die Art der Auslassungen hin. Maiski, der das Original kannte, betonte im Streitgespräch die innewohnende Aggressivität des Buches als eine „Bibel des Nazismus“. Hitlers erklärtes Ziel sei die Zerschlagung und Unterwerfung Frankreichs und die Eroberung von sogenanntem Lebensraum im Osten: in Polen, im Baltikum, in der UdSSR und vor allem in der Ukraine.

Foto: Das 1972 publizierte Erinnerungsbuch                                                                                                      von Greta Kuckhoff (1902–1981) erlebte in                                                                                                                der DDR mehrere Auflagen, erschienen im                                                                                                                  Verlag Neues Leben. Quelle: GWS-Archiv

Lloyd George hielt die Kritik für ungerechtfertigt und „hitlerfeindliche Propaganda“. Maiski schickte Lloyd George nach der Unterredung eine neu angefertigte Übersetzung der vorenthaltenen Buchteile. Dieser zeigte sich aber weniger von den Auslassungen erschüttert als vielmehr von der Tatsache, dass dem englischen Leser viele Kapitel unterschlagen wurden, wie im Kuckhoff-Nachlass nachzulesen ist. (BArch N 2506/132 Bl. 45 f.) Nach Greta Kuckhoffs eigenen Bekundungen arbeitete sie wochenlang gemeinsam mit dem englischen Übersetzer James Murphy an einer vollständigen Edition von Mein Kampf. Als Ende 1939 in den USA eine „unbereingte“ Ausgabe erschien, erfährt sie nicht, wie sie in der „Kapelle“ schreibt, ob ihre Arbeit ebenfalls „eingeflossen“ ist. Am 12. September 1942 wurde sie in Berlin durch die Gestapo verhaftet. Was wäre gewesen, wenn ...

Wir können uns dem Jahr 1938 nur kontrafaktisch, entgegen der historischen Tatsachen, annähern. Mit der Einlassung General Speidels, dem verhängnisvollen Treiben Hitlers nach dessen Rückkehr von der Münchner Konferenz durch Verhaftung ein Ende zu machen, wird das Verhängnis der diplomatisch beschlossenen Beschwichtigung gegenüber dem aggressiven Diktator überdeutlich. Die Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ war eine umsichtige und sich solidarisch mit anderen Gruppen verhaltende antitotalitäre Organisation. Das in der DDR verzerrte Bild einer rein kommunistischen Spionagegruppe färbte sich auf die Rezeption in der Bundesrepublik ab.

Die vielfältigen Berichte über die letzten Stunden der zum Tode Verurteilten stellen die anfangs aufgeworfenen Vertrauensfragen neu. Adam und Greta Kuckhoff werden vom Volksgerichtshof zum Tode verurteilt. Adam wird, wie viele Mitglieder der „Roten Kapelle“, im Gefängnis Berlin-Plötzensee hingerichtet, Gretas Todesurteil in eine zehnjährige Zuchthausstrafe umgewandelt. Der Briefwechsel der Eheleute wird bis zum Tod Adams zur Brücke über dem Abgrund, den die Machthaber aufgerissen haben.

Greta Kuckhoff notiert in ihren nachgelassenen Erinnerungen: „Am 23. August 1943 teilte mir Pfarrer Ohm mit, daß Adam und 11 unserer Frauen am 5. August in Plötzensee hingerichtet worden seien. Ich erwartete nun, daß ich, die einzig Überlebende der mir bekannten Mitglieder der „Roten Kapelle“, den Weg nach Plötzensee in den nächsten Tagen würde antreten müssen. Das gleiche dachten sowohl meine zu Freiheitsstrafen verurteilten Kameradinnen wie der Geistliche und das Gefängnispersonal einschließlich der Leiterin.

Ich erhielt die Genehmigung, in einer Einzelzelle während des Tages meine grundsätzlichen Gedanken, die Erziehung Ules betreffend, niederzuschreiben. Es tat mir wohl, allein sein zu dürfen. Die Niederschrift selbst wurde jedoch nicht vollendet, da die Entwicklung in jenen Wochen so unsicher war, daß sie keine feste Grundlage für meine Erziehungsgedanken bot.“ (BArch N 2506/198 Bl. 102) Im Winter 1943 geht Greta Kuckhoff auf „Transport“ in das Frauenzuchthaus Cottbus. Sie bleibt dort bis zum Herbst 1944 und kommt danach in das Zuchthaus Waldheim, wo sie im Mai 1945 von der Sowjetarmee befreit wird.

Intrige, Wandlitz, Stolperstein

Nach Kriegsende wirkte Kuckhoff in verschiedenen Funktionen und Gremien. Im Oktober 1947 sprach sie auf dem 1. Deutschen Schriftstellerkongress in Berlin. Von 1954 bis 1958 war sie Abgeordnete der Volkskammer, von 1950 bis 1958 Präsidentin der Deutschen Notenbank (DNB). Hier wurde sie offensichtlich Opfer einer Intrige. Als die Bürger der DDR am Sonntag, dem 13. Oktober 1957, via Radiosender vom Ministerpräsident der DDR, Otto Grotewohl, aufgefordert wurden, dass sie noch am selben Tag, zwischen 12 und 22 Uhr, die alten Banknoten der Deutschen Mark bei den Umtauschstellen der Deutschen Notenbank abzugeben hätten und neue Banknoten erhalten würden, wird Kuckhoff als Präsidentin der Notenbank davon überrascht. Sie war in den Währungsumtausch nicht einbezogen, dennoch muss sie den „Währungscoup“ vor der Presse inhaltlich vertreten. Politisch überlebte sie den Vorgang nicht. Im April 1958 trat sie als Präsidentin der DNB zurück. Im Nachlass findet sich ihr persönlicher Blick auf Hintergründe: „Der Deutschen Notenbank wird der Vorwurf gemacht, daß sie sich über die Regierung stellt oder zumindest möglichst unabhängig von ihr – und damit auch von den Parteibeschlüssen – gestellt sein möchte. Die alten kapitalistischen Reichsbankallüren versucht man aufrecht zu erhalten.

Ich habe Gründe anzunehmen, daß die Hauptargumente zu dieser Meinung von den Genossen des Ministeriums der Finanzen stammen.“ (BArch, N 2506/267, Bl. 281) Nach der politisch motivierten Entbindung aus dieser Position engagierte sie sich im von der SED gesteuerten Friedensrat der DDR – ab 1964 als dessen Vizepräsidentin und zugleich als Mitglied im Weltfriedensrat.

Greta Kuckhoff heiratet nicht wieder. Ab 1946 lebt sie in eheähnlicher Beziehung mit Margarete „Grete“ Wittkowski. Diese bestritt mehrere hohe Staatsämter, unter anderem als stellvertretende Vorsitzende des Ministerrats, zuständig für den Bereich Handel, Versorgung und Konsumgüterproduktion sowie als Stellvertreterin des Vorsitzenden Otto Grotewohl. 1968 folgte Wittkowski ihrer Lebensgefährtin auf den Stuhl als Präsidentin der Notenbank. Im Jahr 1972 erschien "Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle", nicht ohne Eingriffe der Zensur. Ein geplantes zweites Erinnerungsbuch, das Kuckhoffs Leben nach 1945 behandeln sollte, kam nicht zustande. Auch eine Residenz in der abgeschotteten Waldsiedlung Wandlitz erhielt Greta Kuckhoff nicht, sondern eine Wohnung am abgelegenen Rande vor dem "Wandlitzer Ghetto" (Wolf Biermann).

2009 erschien mit "Red Orchestra. The Story of the Berlin Underground and the Circle of Friends Who Resisted Hitler" ein neues Standardwerk der US-amerikanischen Journalistin Anne Nelson über die „Rote Kapelle“, 2010 auch in deutscher Übersetzung. Die britische Kulturwissenschaftlerin Joanne Sayner widmete Kuckhoff eine erste umfangreiche Einzelstudie mit dem 2013 publizierten Buch "Reframing Antifascism. Memory, Genre and the Life Writings of Greta Kuckhoff". Im Mai 2012 verlegte der Künstler Gunter Demnig einen Stolperstein im Gedenken an Greta Kuckhoff in ihrer Geburtsstadt Frankfurt (Oder).


Foto: Premiere des DEFA-Films „KLK an PTX – Die Rote Kapelle“ im Ostberliner Filmtheater „Kosmos“, 25. März 1971. Greta Kuckhoff (M.) bei dem Besuch einer kleinen Ausstellung mit persönlichen Gegenständen von antifaschistischen Widerstandskämpfern im Foyer des Kinos. Neben ihr die Schauspielerin Barbara Adolph (li.), die sie im Film verkörpert, und der Minister für Staatssicherheit Erich Mielke (re.), dessen Ministerium für den Film „Produktionshilfe“ leistete.

Quelle: Gerbergasse 18 / Ausgabe 4 / 2018: 32-35.

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