Sonntag, 25. August 2013

Golden Mugge Vol. 9: Du bist für mich da



Axel Reitel & collegium novum "Du bist für mich da"




Ein schönes Lied mit einem Debussynesken Fender Rhodes - La mer, la mer!
Anhören:
http://www.youtube.com/watch?v=0UstbpMRzss


Das Lied "Du bist für mich da" stammt aus dem Album "Ghettos in petto".
Es ist das dritte Lied auf der EP. Manche halten es für das beste Lied der Scheibe.
Komposition und Text: Axel Reitel
Arrangement: Andreas Gemeinhardt
Es spielen:
Axel Reitel & collegium novum:
Andreas Gemeinhardt: Gitarren, Keyboards, Background-Vocal, Sound-Art
Andreas Sittig: Bass
Holger Oertel: Fender - Rhodes
Nils Leicht: Percussion
Yvonne Nitsche: Background-Vocal 
Axel Reitel: Vocal, Mundharmonika
Mix: 
Jonas Bergler, Audio-Studios Berlin


















Freitag, 23. August 2013

Golden Mugge Vol.8: Die Huren von Ch.

Im deutschen Songtext geht es um eines der dunkelsten Kapitel nach der samtenen Revolution 1989: der Kinderprostitution im deutsch-tschechischen Grenzgebiet. Das Entsetzen über die unerhörten Fakten eines Verbrechens, zu dem sexuell durchgeknallte Männer, emotionslose Zuhälter und geldgierige Familien gehören, die ihre Kinder für eine Hand voll Geld prostituieren.In German lyric is about one of the darkest chapters after the Velvet Revolution of 1989 : child prostitution in the German - Czech border region. The horror of the unprecedented fact of a crime , belong to the sexually crazed men , emotionless pimps and greedy families who prostitute their children for a handful of money.

Es ist das Eröffnungslied der Konzept-EP Ghettos in petto.





Anhören:
http://www.youtube.com/watch?v=VH7yddvvDqI


Das Lied entstand während der Recherche für das Radiofeature "Grenzgänger - Kinderprostitution an der deutsch-tschechischen Grenze" (zwischen As und Cheb). Es war ein Blick in eines der dunkelsten Kapitel der osteuropäischen Nach-1989iger-Revolutionsphase

Axel Reitel & collegium novum - Die Huren von Ch.
Axel Reitel: Komp./ Text, Voc.
Andreas Gemeinhardt: Arrangement, Gitarre, Bass, Posaune, Sound-Art.
Burchard Weber: Oboe
Stefan Nobis: Orgel
Nils Leicht: Percussion
Birgit Fritzsch: Rezitativ

Die Huren von Ch.
(Komposition: AR/ Andreas Gemeinhardt/ Text: AR)


Das neue Leben geht wie es scheint leicht von der Hand.
Noch gestern stand hier Freiheit und anderes an jeder Wand.
Die Friedenstauben zeigen heute ihr zweites Gesicht
Im Kaufhaus Eden brennt bis spät das hellste Licht
Mmh, wie‘s scheint sind wirklich alle Zeichen verdreht
Was auf dem Kopf stand, wurde auf die Seite gedreht
Friedenstauben aus Papier gab‘s in der Majova allemal
In der Nacht hörst du dort Kinder rufen, mein Herr wollen sie Spezial?
Sieh meine Lieb wie viele Vögel heut der Himmel hat
Eine Stadt feiert Orgie und frisst sich an ihren Kindern satt
Im Sturzflug fliegen Krähen mit ‘nem Schrei nach nebenan
Im goldenen Zeitalter kommen auf ´ne Frau an die hundert Mann
Die Stadt schließt ihre Paläste mit dem ersten Hahnenschrei
Dort feilscht man um Kinder, die wurden irre dabei.
Im Morgenrot was zum Fressen finden die Tauben allemal
Die Nacht gehört den irren Kindern: Mein Herr woll‘n sie spezial?
Unsere Welt ist noch immer nicht das Gelbe vom Ei
Utopien vergeh‘n im großen Welteinerlei
Und die Stadt ist auch kein rettender Ort
Utopie ist nur ein Fünfundzwanzigdollarwort
Helena auf der Flucht ward zum Menschenraub
Aus‘m Sexclub lunzt ‘n Kind als sähe es nur noch Staub
‘n paar Schatten schleichen ums Eck in die Prärie
‘ne Schattenhand schreibt federleicht Vivat- La Sodomie!
Für ein paar Kröten geben Brüder ihre Schwestern zum Fraß
Das neue Gesetz heißt: Liebe! Versteck deinen Hass!
Von Hurenkulturen wusste man in den Streets allemal
Die Nacht gehört den irren Kindern: Mein Herr wollen sie Spezial?
Unsere Welt ist noch immer nicht das Gelbe vom Ei
Utopien vergehen im großen Welteinerlei
Und die Stadt ist auch kein rettender Ort
Utopie ist nur ein Fünfundzwanzigdollarwort
Wahrhaftig niemand ist mehr ohne Auftrag wie‘s scheint
Per Knopfdruck und mit goldner Kamera wird die Welt neu vereint
Vivat liebt dich schreibt heute die Schattenhand
Was Freiheit? Schreibt ein Bettler an eine Wand
Und Helena das Bettelweib, Ungeheuer von ´nem Kind
Schreibt das Hureneinmaleins und wie die Freier so sind
Das was man anderswo kaputt nennt ist hier ganz normal
Der Handel mit verbrannter Erde blüht hier phänomenal
Unsere Welt ist noch immer nicht das Gelbe vom Ei
Utopien vergehen im großen Welteinerlei
Und die Stadt ist auch kein rettender Ort

Utopie ist nur ein Fünfundzwanzigdollarwort
Ah! Die Wand und die Wörter gibt es längst nicht mehr
Es ging wohl ums Leben heut scheint so geht‘s um mehr
Erst Krieg jetzt Democracy die Nacht als Bummerland
Heut bleibt nicht einmal der Spatz in der Hand
Der neue Mensch gibt sich hoffnungsfatal
Er weiß wenn auch nicht wirklich die Zeit vom großen Knall
Vielleicht flöten ja die Huren auf Wunsch die Neunte ins Ohr
Nur auf Helena wartet vergeblich der ganze Männerchor
Utopie als Wortgeflirre kannte man in der Majova allemal
Die Nacht gehört den irren Kindern: Mein Herr wollen sie Spezial?

© 2002 Axel Reitel, Ghettos in petto


Golden Mugge Vol.7: Scheinwerfer (In memoriam Jürgen Fuchs)


Jürgen Fuchs was a civil rights activist, writer and psychologist. Fox died in 1999 due to his leukemia disease. His disease-related death was fueling the suspicion, he was been suspended deliberately gamma rays as a prisoner of the MfS. His friend Wolf Biermann wrote: "his death at the age of 48 is one of the clues. Fox died of a blood cancer, pointing to radiation damage. 
Anhören:
http://www.youtube.com/watch?v=PecsOTlXEHI

"[...] Jürgen Fuchs (1950-1999)  war ein Bürgerrechtler, Schriftsteller und Psychologe.
Fuchs starb 1999 infolge seiner Leukämieerkrankung. Sein krankheitsbedingter Tod nährte den Verdacht, er sei als Häftling des MfS vorsätzlich Gammastrahlen ausgesetzt worden.[6][7] Sein Freund Wolf Biermann schrieb dazu: „Sein Tod mit 48 Jahren ist eines der Indizien. Fuchs starb an einem Blutkrebs, der auf Strahlenschäden hinweist. Der damalige Bundesbeauftragte für die Stasiunterlagen Joachim Gauck veranlasste eine wissenschaftliche Untersuchung. Die Gauck-Behörde konnte nach umfangreichen Recherchen aber nicht feststellen, dass radioaktive Substanzen oder Röntgenstrahlen gezielt zur Schädigung von Oppositionellen eingesetzt wurden. Jedoch offenbarte die Untersuchung verschiedene leichtfertige Verwendungen radioaktiver Substanzen durch die Staatssicherheit, zum Beispiel für die Markierung von Geldscheinen, die in Briefen verschickt wurden und der Aufklärung von Postdiebstählen dienen sollten, oder für die radioaktive Markierung von Manuskripten des SED-Kritikers Rudolf Bahro."

Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/J%C3%BCrgen_Fuchs_(Schriftsteller)

Axel Reitel & collegium novum - Scheinwerfer
Text: Jürgen Fuchs (das Gedicht Scheinwerfer erschienen zuerst 1974 in der DDR-Lyrikzeitschrift "neue lyrik, neue namen)
Komposition: Axel Reitel
Arrangement: AR, Jörg Hoffmann und collegium novum
Titel 9 der CD "ohne anzuklopfen"
Axel Reitel: Vocal
Jörg Hoffmann: Gitarre
Rainer Müller:Trompete
Hendrick Ertel: E-Gitarre


Dienstag, 20. August 2013

Kolumne: MEIN LIEBER FRIEDRICH: KOLUMNE (1) Weiberfeinde









Aus der "Morgenröte"

von 

Friedrich Nietzsche 


Aphorismus 346.


W e i b e r f e i n d e -

"Das Weib ist unser Feind!" -
wer so als Mann zu Männern spricht,
aus dem redet der ungebändigte Trieb,
der nicht nur sich selber,
sondern auch seine Mittel hasst.



Veranstaltungstipp: Lesungen: am 4.9.2013 in der RAAB-Galerie

AXEL REITEL

liest seine Erzählung "Karl Marx in den Wolken"


Anläßlich der Leseperformance "berlin liest" zum Auftakt des 13. Internationalen Literaturfestivals Berlin
liest Axel Reitel  am 4. September 2012 von 17.10 Uhr bis 17.30 Uhr seinen Text:
"Karl Marx in Wolken"; abgedruckt in: Via Knast in den Westen: Das Kaßberg-Gefängnis und seine Geschichte.
Herausgegeben von Nancy Aris | Clemens Heitmann. Evangelische Verlagsanstalt Leipzig 2013.

Anfahrt:
mit der U-Bahn bis:
Zoologischer Garten
Kurfürstendamm
Uhlandstraße

mit der S-Bahn bis :
Savignyplatz

Stadtplan:
http://www.stadtplandienst.de/

Mit freundlicher Empfehlung zur RAAB-Galerie:
http://www.raab-galerie.de/Pages_de/ausstellung.php?vid=247&pressetext=/WWWROOT/62795/htdocs/Pages/pressetexte/2013AxelReitel.html&titel=AXEL%20REITEL%20liest%20seine%20Erz%EF%BF%BDhlung

Radiofeature: PODCAST und BOOKLET Freigekauft - Die geheimen Geschäfte mit politischen Gefangenen in der DDR





Hier zu hören der Podcast der MDR/RBB-Originalversion. Knackig, packend, und immer noch erstaunlich für den Autor in der Rückschau, dass er selbst zu den Freigekauften gehörte. ("Das war meine Magical Mystery Tour")Dass es diese Möglichkeit gab, in wirklich diese deutsch-deutsche Grenze, dieses mit NVA - Scharfschützen*  bewachte Minenfeld samt dieser Berliner Mauer komfortabel in einem klimatisierten Bus zu überwinden, über diese Grenze chauffiert zu werden,  grenzt noch heute an ein Wunder. Freilich war der Fahrpreis mit knapp 100.000 DM etwas hoch. Aber die Bundesrepublik hat sich den geleistet - und die Bundesrepublik konnte sich den leisten.
Auch mein Dank währt noch.


Anhören:
http://www.podcast.de/episode/1890251/Podcast%253A%2B%2522Freigekauft%2522%2B-%2BEin%2BFeature%2Bvon%2BAxel%2BReitel/









Montag, 19. August 2013

Hörbuch: Das kleine Hörbuch: Reiner Kunze : Wer bist du, Dichter - gelesen von Axel Reitel






Aus: Reiner Kunze " Fern kann er nicht mehr sein"  Edition Toni Pongratz 2013

Das schmale Heft bekam ich dankenswerterweise vor wenigen Tagen von Reiner Kunze geschickt. Es
beinhaltet auch das Gedicht 'Wer bist Du, Dichter', von dem ich sofort angetan war. 

Über zwei Tage, am 18. und 19. August 2013, versuchte ich dem Gedicht deklamatorisch gerecht zu werden. 

Zu hören sind Take IV und Take II. In dieser Reihenfolge.

Anhören:





Anhören:

Samstag, 17. August 2013

Golden Mugge - Vol. 6: Dunkles Liebeslied



Vol. 6 DOING GUITAR AND STUDY PHILOSOPHY: Der Musiker in mir: Dunkles Liebeslied

Foto: Katrin Zeh, Januar 1992, Totes Meer


Anhören hier:
http://www.youtube.com/watch?v=jiSHZ-550-4

Das Lied "Dunkles Liebeslied" stammt von der CD "ohne zuklopfen"
von Axel Reitel & collegium novum

Diese konzeptionelle Band wurde im Jahr 2000 in Plauen/ Vogtland gegründet. In losen Besetzungen bestand die Band beispielsweise bei der Einspielung ihrer ersten CD "ohne anzuklopfen" (VÖ:15. Mai 2000) aus siebzehn in der Mehrzahl akademisch
ausgebildeten Mitspielern. Für Ideenreichtum, Ohrwurmcharakter und eine "perfekte Einheit von Text und Musik" (MUSIKER) wurde von der Kritik vor allem diese erste CD gelobt.

hematisiert werden in den einzelnen Songs menschliche Phänomene wie Hoffnung, Sorge, Liebe, Verrat, Verfolgung, Widerstand, Verlust, Prostitution, Sehnsucht, Mutterwitz, Alternativen, Großstadtleben. Die Texte bestehen aus poetisch- dichten Bildern, die mit persönlichen Lebensreflexionen gemischt sind. Zugrunde liegen oft tatsächliche Ereignisse. Zu hören sind kleine musikalische Filme noir.
Der musikalische Aufbau basiert auf Chanson,-Blues,-Jazz,-Klassikelementen. Die Zusammensetzung der Musikinstrumente ist vielschichtig. Zur konventionellen Besetzung Gitarre, Schlagzeug, Bass gesellen sich Konzertgitarre, Trompete, Bachtrompete, Oboe, Posaune, Saxophon, gestrichener Kontrabass, Akkordeon, Bluesharp, Mundharmonika, Maultrommel, Keyboard, Orgel, Fender-Rhodes, Cembalo, Violine, Teufelsgeige, Cachon.

ohne anzuklopfen (2000)

    1. ohne anzuklopfen - 4:03
    2. Jodie - 5:35
    3. Kleine Gymnastik - 3:54
    4. Paris, Paris - 5:13
    5. Liebe (in Theresienstadt)- 6:42
    6. Dunkles Liebeslied - 4:57
    7. Menetekel - 4:51
    8. Die Provinz - 6:35
    9. Scheinwerfer - 2:42
    10. Am Ende eines Tages - 0:35

Quelle: http://www.cdwiki.de/Axel_%26_Collegium_Novum_Reitel:_Berlin

Sonntag, 11. August 2013

Geburtstage: DER GROßE DEUTSCHE DICHTER REINER KUNZE WIRD 80: ein Stimmensammlung befreundeter Kollegen

REINER KUNZE WIRD 80
In wenigen Tagen, am 16. August 2013, wird Reiner Kunze 80. Aus diesem Anlass versammelte der Londoner Verleger Andreas W. Mytze ein Geburtstagsständchen befreundeter Stimmen. 
Eine zweites Heft für Reiner Kunze, mit weiteren Stimmen von Freunden und Weggefährten, ist in Vorbereitung. Darin dann u.a. Jörg B. Bilke.



Redaktion: A.W. Mytze, 1 The Riding, London NW 11 8HL, awmytze@hotmail.com





Verfolgte Jugenddichtung: Liebe (in Theresienstadt) Musik von AR/CN Text von Dagmar Hilarová



Gibt es eine Vererbung der Schuld? Es bejubelten von 1933-1945 Männer wie Frauen die braunen Machthaber. Machten sie sich schuldig? Die aktiv dabei waren, machten sie sich schuldig? Alle Welt
kennt Käthe Kollwitz' Antikriegszyklus:"Nie wieder!" [in progress]

Liebe (in Theresienstadt) Text: Dagmar Hilarová

Anzuhören hier: http://www.youtube.com/watch?v=EYVHfJDUN-M



                                             Der Titels der Autobiografie von Dagmar Hilarová,
                                             "Nemám žadné jméno" ("Ich habe keinen Namen"), 
                                             findet sich enfalls wieder in ihrem vertonten Gedicht 
                                             Liebe, das die 16jährige Dichterin in KZ/Ghetto 
                                             Theresienstadt schrieb. Als ich meine Melodie zu den
                                             Versen fand, war meine Tochter gerade Sechzehn
                                             geworden [in progress]
                                             
                                              



Gewidmet Elisabeth und Reiner Kunze (die Widmung ist angenommen)
Musik für: Judith Schubert (Sopran) Jörg Hoffmann (Gitarre), Burkhard Weber (Oboe), Andreas Gemeinhardt (additionale Gitarre), Andreas Sittig (gestrichener Kontrabaß), AR (Rezitation)
Text: Dagmar Hilarová (1928-1996)
 

                                    "Hundert Farben hat der Regenogen"




VÖ als Lied Nr. 5 der CD 'ohne anzuklopfen' am 15. Mai 2000.
 

"Dagmar Hilarová wurde 1928 in Prag geboren (Mädchenname Berzetti). Sie wurde als 14jährige ins Ghetto Theresienstadt deportiert, wo sie im Gesundheitswesen arbeitete. Nach der Befreiung kehrte sie nach Prag zurück und heiratete 1947 =>Ežen Hilar, der ebenfalls Häftling in Theresienstadt gewesen war. Ihre Gedichte wurden in viele Sprachen übersetzt und von sieben Komponisten vertont. Gedichtsammlung: „Hundert Farben hat der Regenbogen“, Berlin 1967." 
Quelle: http://www.ghetto-theresienstadt.info/pages/h/hilarovad.htm (Stand 11.08.2013)

Archiv: Gesehen "das Böse, das der Welt im dunklen Untergrund innewohnt -"* Deutscher Alltag nach 1945: Der furchtbare Kellner.




Bericht des IMs - "Michael" an seinen Führungsoffizier "Falke". "Michael" war Erzieher von 1964 bis 1989 im DDR-Jugendknast Halle. Vom MfS wurde er beauftragt mit der Observierung u.a. von Kollegen, Wohnblocks und Gaststätten. 

Halle, den 26. Juni 1975



* Peter Weiss, Notizbücher 1971-1980. Erster Band. FFM, Mai 1981, S.118.

Samstag, 10. August 2013

Novelle: Sascha oder Die Bibel. Die härteste Schachnovelle der Welt.

Sacha oder Die Bibel
- die härteste Schachnovelle der Welt -
von
Axel Reitel

Das Sterben ist nur eine Folge
unserer Art zu leben
Robert Musili


[...] Das Telefon klingelte.
Der Genosse[geschwärzt] 
nahm den Hörer ab und sagte: 
"Ja, hier Kindervernichtungslager H****!"
                                                                                                                                                                                     gez. IM "Michael""ii


Thüringen zwischen Werra, Unstrut und Saale. Zwischen Unstrut und Saale liegt das Thüringer Becken. Zwischen Unstrut und Werra der Thüringer Wald. Westlich des Thüringer Beckens, zwischen Bad Langensalza und Erfurt, gelegen an der Hauptstraße 249, liegt Gräfentonna. Durch den Thüringer Wald führt die Fernverkehrsstraße Nummer 4 von Eisfeld nach Nordhausen. Zwischen Arnstadt und Erfurt, auf dieser Strecke, kommt Ichtershausen auf halbem Weg. Ichtershausen und Gräfentonna, zwei Kleinstädte in Urlauberlandschaft. Oberhof. Schwarzatal. Tambach-Dietharz. Großer Buchenberg. Schlösser und Museen gehören zum Repertoire im Ausflugsangebot der Urlauberheime und Kinder- und Jugenderholungszentren.

Nun sehe ich sie, die Kinder, wie sie fröhlich die Treppen zum Altertum steigen. Hinter den Kindern kommend die Leiterin des Ferienlagers, wie die Zentren in der Sprache hier heißen. Die beiden Jugendgefängnisse Thüringens befinden sich in unseren beiden Kleinstädten, in Ichtershausen und in Gräfentonna. Nach Ichtershausen bin ich nicht gekommen. Die Ankunft dort kann ich nicht beschreiben.

Wenn du in Gräfentonna ankommst, steigst du zum Gefängnis eine schmale Gasse hinauf. Die schmale Gasse heißt Braugasse. Am oberen Ende der schmalen Braugasse befindet sich, hinter einem Schiebetor, der Schleuse, das Gefängnis. Das Gefängnis war einst eine Burg. In der Geschichte überliefert als Kettenburg. Und noch immer verschwindet in der Kettenburg jeder Fortschritt zurück in die Geschichte. Das Gefängnis in der Braugasse teilt sich auf in Kinder und Männer. Kinder, rufen die volljährigen Gefangenen die minderjährigen Gefangenen. Männer, rufen die minderjährigen Gefangenen die volljährigen Gefangenen. Am Tag unterscheiden sich die Kinder von den Männern einem entfernt stehenden Beobachter nicht. Gemeinsam arbeiten sie am Neubau des alten Hauses. Sie schlagen sich um die Brotration oder um ein gestohlenes Frauenbild. Sie heben sich über die Gefängnismauer, einmal am Tag das Bestehen der freien Welt zu prüfen. Im Winter gefriert dem Heizer die Kohle. Im Sommer stinken die Männer und die Kinder nach Dreck und Schweiß. Gemeinsam tragen sie die einheitlich blaue grobe Tuchkleidung. Wachtmeister haben wenig zu tun. Streit gibt es genug. Denn es geht allen gleich.


Der Prinzenhof der Kettenburg in Gräfentonna*

Auf dem Hof, in der Betriebszeit der Burg der Prinzenhof, stehen die jugendlichen Gefangenen wie die erwachsenen Gefangenen in Reih und Glied und reagieren zackig auf jeden Befehl. Bauarbeiten an der Innenmauer der Burg, dort wird eine Garage gebaut; Außenkommandos fahren in das Schreibmaschinenwerk VEB Optima nach Erfurt; es gibt eine Schule für die jugendlichen Gefangenen; viele sind ab der allgemeinen Strafmündigkeit, im 14. Lebensjahr, auch gleich straffällig geworden; blieben vorher öfter in  der Schule sitzen und schlagen sich nun mit Wiederholungen der Schulklassen 6 bis 10 herum. Dann die Summiarbeiten, die unterste Stufe. Auf der befanden sich in der Jugendhaus-Hierarchie die sogenannten Primitivstrukturierten, so wurden sie von den Wärtern genannt. Vor den Fenstern dieser Werkräume waren immer Sichtblenden. Nie drang ein Laut aus den Werkräumen heraus - als würden sich diese Jugendgefangenen während ihres Arbeitstages nicht einmal getrauen zu atmen. Wir hörten nur, dass manche in Waisenhäusern aufgewachsen seien, einige seien adoptiert wurden, doch hätten sich ihre neuen Eltern nie fürsorglich um sie gekümmert. Wie belastet mussten diese Kinder in Geist und Seele sein. Ich habe in den 49 Tagen, die ich an diesem Ort des ideologischen Drills und der dunklen Nischen gelebt habe, nie einen von ihnen zu Gesicht bekommen und ich habe ihre Anwesenheit, weil ich mich nicht noch mehr Belastungen aussetzen wollte, täglich verdrängt. O, ihr ins Dunkel gestoßenen Prinzen von Thüringen, wie viele schwarze Stunden hattet ihr zu erdulden!iii

Einmal, hörte ich, aber vielleicht geschah das auch in Ichterhausen, in Dessau, in Halle, in Raßnitz, eben in einem anderen Jugendhaus, dass bei geringen Vergehen Jugendliche von den Genossen Wärter mit Schlagstöcken geschlagen werden. Einmal, als einige beim Rauchen im Schlafraum erwischt wurden, wurde jeder einzeln im Nachthemd in einem dunklen Raum geholt. Dort mussten sie sich bücken und bekamen Schläge mit dem Schlagstock auf das „Hinterteil“. Wie widerlich kann der Mensch sein! Ein Genosse Wärter hat Jugendliche auf sein Dienstzimmer geholt. Dort hatten sie Liegestütze mit den Kinn über der Fußspitze des Genossen Wärter auszuführen. Ein anderer Jugendlicher wurde im Erzieherzimmer von drei Genossen Wärter mit Schlagstöcken, Koppel und blanken Fäusten geschlagen und nachher in Absonderung gesteckt, bis die Verletzungen ausgeheilt waren. Einmal hätte sich ein Jugendlicher empört: „Wir agitieren immer, es wäre eine Schande, im Kapitalismus Kinder einzusperren und wir machen doch das gleiche. Man braucht doch nur herum zu gucken, wer alles im Jugendhaus sitzt.“ "Das war im Jahr 1975 gewesen", erzählte der Altarbeiter, dessen Baubrigade ich zugeordnete war. "Dieser Jugendliche, das war ich. „Ich fand das alles empörend und später dreht ich durch. Das tat mir innerlich gut. Der Genosse Wärter besuchte einige Wochen das Krankenhaus. Jetzt habe ich noch zwei Jahre vor mir.“ Die älteren Strafgefangenen, Altstrafer oder Altarbeiter, die Männer, nahmen die Jugendlichen gegen die Genossen Wärter in Schutz. Die Genossen Wärter zeigten vor den Altarbeitern Respekt. Die Altarbeitern hatten viele Berufe. Fast jeder Genossen wollte von den Altarbeitern eine Sonderleistung: der Ausbau der privaten Garage, der Bau der Datsche, die Antenne fürs Fernsehen. Den Jugendlichen, die den Brigaden der Männer zugeordnet waren, ging es gut. Die Abende sahen anders aus. 

Abends werden die Kinder von den Männern getrennt. Die Männer haben ihren Block Die Kinder haben ihren Block. Der Abend heißt Waschen und Zählung. Die Zählung passiert wie im Sportunterricht, l, 2, 3, 4 ... 11 durch. Der Block der Kinder ist vier Stockwerke hoch. Jedes Stockwerk heißt Erziehungsbereich. Im Sprachgebrauch EB. Jeder EB hat seinen Erzieher. Unser Erzieher heißt Handschuh. Oberleutnant Handschuh. Das ist kein Spitzname. Oberleutnant Handschuh hält die Zählung ab. Neben Handschuh stehen immer zwei Wachtmeister.


Erziehungsbereich mit Flur und abgehenden Zellen**
                                                             
Ein Wachtmeister zur Linken von Handschuh, ein Wachtmeister zur Rechten von Handschuh. Die Wachtmeister sind nicht immer die gleichen. Manche Wachtmeister sind nervös. Sie klimpern mit den Schlüsseln, ratschen mit Eisenstangen in den Gitterstäben entlang, und manche dreschen hart mit Schlüsseln oder Stangen gegen die Zellentüren, als Wecksignal. Ein Wachtmeister hat sich eine Trillerpfeife gekauft, die Aufmerksamkeit der Kinder zu erregen, ein anderer Wachtmeister eignet sich die Kunst der Grimasse an. Wieder ein anderer Wachtmeister die Kunst der Chamäleons. Darum bekommen die Wachtmeister Spitznamen. Sie sind nicht immer die gleichen. Handschuh ist immer der gleiche. Trotzdem gibt es Witze über Handschuh.

Ein Stammwitz ist zum Beispiel dieser: Auf einem Parteiball verbeugt sich Handschuh vor der Frau eines Genossen und sagt: „Frau Schmidt, du siehst heute wunderschön aus." - "Es tut mir Leid", antwortet Frau Schmidt, "aber dieses Kompliment, Genösse, kann ich dir nicht machen." - "Dann mach's wie ich", sagt darauf  Handschuh, "Lüge, Genossin.“
Witze werden im Gefängnis gehandelt wie Wein, gehütet wie Brot. Nach der Zählung geht Handschuh mit den Wachtmeistern fort. Die Wachtmeister gehen ins „Casino". Handschuh geht nach Hause. Das „Casino" ist ein kleiner Aufenthaltsraum, in dem die Wachtmeister ihre „Bereitschaft" totschlagen, mit Kartenspielen und Würfeln.  Das Lieblingsspiel der Genossen Wachtmeister ist Doppelkopf. Sie spielen um Geld. Geld gibt es für die Jugendlichen nicht. Für einen Monat Arbeit erhält jeder Gefangenen Gutscheine. Gefangene spielen um Zigaretten oder Sonstiges. Viele der Genossen Wärter wohnen nicht weit vom Jugendhaus entfernt.
Handschuh wohnt in Bad Langensalza.Das ist zehn Kilometer von unseren Zellen entfernt. Wenn man den Klang ihrer Schlüssel nicht mehr hört, ist Handschuh in seinem Ledermantel unterwegs, die Wachtmeister haben mit dem Spiel begonnen. Dann sind wir Kinder allein wie Schatten. Dann heißt der Abend Tabakstaub und Zeitungspapier zur Hand nehmen. Rauchen. Geschichten erzählen. Schach spielen. In unseren langen weißen Nachthemden auf dem Korridor spazieren. Besuche halten. Kein Kind ist allein. Ein Kamerad heißt hier Spanner. Von Gespann. Spanner teilen alles. Jedes Kind sucht sich seinen Kameraden. Nur einmal erlebte ich, daß ein Kind allein blieb: Sascha. Sascha war fünfzehn. Ein dünnes, kränkelndes Kind mit hellen Augen. Martin kümmerte sich einmal um Sascha. Aber Martin war Fritz sein Spanner. Deshalb wurde Fritz sehr wütend.

Fritz ist unser Erziehungsbereichsältester, ist siebzehn, brutal, er kennt die Welt der Gefängnisse. Der Aufenthalt in Gräfentonna ist sein vierter Gefängnisaufenthalt nach Dessau, Ichtershausen und Torgau.
In Ichtershausen, erzählt Fritz, gibt es Tunten, die andere Gefangene, die sich nicht eingliedern können, zwangsvergewaltigen. Wer als Kind in den Gefängnissen zu Hause ist, ohne zu Haus sein zu können, lernt, die Welt unter den Augen des Bizeps zu sehen. Was Tunten sind, erzählte mir Peter. Peter ist mein Spanner. Männliche Nutten, sagt Peter, die beißen dir für Geld den Schwanz ab.

Die Aufgabe des Erziehungsbereichsältesten ist, für Ruhe, Ordnung und Sauberkeit zu sorgen. Wenn er diese Aufgabe erfüllt, erhält er die einzige Freiheit, die die Gefängnisdirektionen ihren Gefangenen bieten, die Freiheit des Privilegs, das sich der Gefangene durch Loyalität gegenüber dem Gefängnispersonal verdienen muss.

Ein Erziehungsbereichsältester ist, wenn er seiner Aufgabe mit Konsequenz nachgeht, König in seinem Reich. Er kann sich jeden Freund wählen. Seine Wahl ist eine Auszeichnung. Martin ist ein faules Kind. Aber er hat keine Angst, daß ihm, wenn er aus Faulheit die Arbeitsnorm nicht erreicht, Ordnungsübungen drohen: Toiletten reinigen mit   Zahnbürste, Gefängnishof kehren. Mannschaftsschuhputzen. Denn Martin dient Fritz mit seinem Körper. Über Fritz kommt niemand an Martin heran. Aber als Sascha auf unseren EB kam, nahm Martin seinen Waschplatz neben Sascha ein, stand während der Zählung neben ihm, schaffte seine Arbeitsnorm über die hundert Prozent und gab Sascha vom Überschuss ab.
Während wir aßen, aß Martin nichts, Martin schob seinen Teller Suppe Sascha hin, der ihn gierig nahm. All das führte dazu, daß die nächste Exekution eine beschlossen Sache war.

Schau nur den Mond an, noch ein paar Tage und er ist voll, kann ja was werden, so wie Fritz kocht", sagte Peter, als wir uns beim Schachspielen über Martin und Sascha unterhielten.
Der Mond hat seine Besonderheiten in der Braugasse. „Zum Viertelmond", sagt Peter, der alle Vorkommnisse aus Kreisläufen kommend sieht, „sind Kinder wie Fritz noch Kameraden. Wenn du nur deine Arbeitsnorm schaffst, kommst du immer davon. Zum Halbmond sind sie Banditen, aber gutmütig. Sie klauen den Wachtmeistern Zigaretten und Schokolade, manches davon geben sie ab. Zum Vollmond aber werden sie, was sie sind: Verbrecher. Alle Dummheiten müssen sie umsetzen.
Ich habe bald ein ganzes Jahr die Abstände ihrer Wandlungen beobachtet, alles stimmt." Dieses Spiel, das nun nach dem Turnus des Mondes ausgerichtet ist, gibt unserem Gefängnis etwas von der Bedeutung einer Festlichkeit des Mittelalters. Im Mittelalter, lernte ich aus den Büchern, berauschten sich die Völker an Hinrichtungen und öffentlicher Folter, die Damen ließen sich beim Zuschauen begatten. Wenn die Wachtmeister in den Casinos würfeln, wenn die Erzieher mit ihren Frauen schlafen, ist Fritz der oberste Herr. Er wählt sich Adjutanten, die seine Sklaven sind. Dann heißen die Abende Blut.

Drei Sätze kenne ich über den Mond. Der erste Satz heißt: Der Mond ist eine platte Wunschbüchse. Der zunehmende und der Viertelmond, der Halb- und der Dreiviertelmond sind platte Wunschbüchsen. Einige werden ausgewählt, ihre Geschichte, weshalb sie ins Gefängnis gekommen sind, zu erzählen. Nach diesen Geschichten hält Franz mit seinen Adjutanten Zwiesprache. Vorbereitet wird ein Gerichtsverhandlung. Es ist die gleiche Verhandlung, die der Gefangene schon einmal, bevor er hier ankam, über sich ergehen lassen musste und dass er, als er in einen Erziehungsbereich eingegliedert wurde, den anderen Gefangen peinlich genau erzählen musste. Nun würde sich also alles wiederholen. Die Verhandlung. Das Urteil. Aber der Erzähler wird noch einmal davonkommen. Vielleicht muss er Wasser saufen, bis er sich erbricht. Vielleicht wird ihm sein Körper mit Schuhcreme verziert. Vielleicht bekommt er Brusthufe: pro Monat der Verurteilung einen kräftigen Faustschlag gegen den Brustkorb. Wer nicht kräftig draufschlägt, erhält das gleiche Urteil, ohne Verhandlungsspiel.
Anderer Art sind die Exekutionen. Ihnen gehört der zweite Satz: Der Mond ist ein Teller blutiger Suppe. Wenn es Fritz aus Langeweile unerträglich wird, denkt er sich besondere Spiele aus. Als Fritz Martin mit Sascha sah, als er sah, daß Martin Sascha seine Schokolade brachte, ihn streichelte und auf den Mund küsste, war die nächste Exekution beschlossen.
Der dritte Satz über den Mond kommt von Oberleutnant Handschuh. Klaus und Mark haben über die Möglichkeit gestritten, ob der Mond nun eben doch nichts weiter ist als eben der Mond.
Eben", sagte Handschuh im Vorübergehen, „der Mond ist eben der Mond. Im Traum sehen wir manches Besondere, auch den Mond, aber das Besondere bringt nur das Besondere hervor. Unser Direktor träumt bestimmt auch nicht schlecht. Alter der Mond, nun, der Mond bleibt eben doch nur der Mond. Guten Tag."iv
Deshalb konnte Handschuh nicht sehen, daß der Mond an diesem Abend als Teller blutiger Suppe kam. Die Exekution bereitete Fritz über eine Woche vor. Jeden Abend kam er in Saschas Zelle.

Jeden Abend malte er einen dünnen schwarzen Strich an die Wand. Jeden Abend sah er Sascha nicht an, ging wortlos. Es ist die ungeheure Langsamkeit, mit der er sich in Bewegung setzt, die alles noch dunkler und voller Gefahr werden lässt. Martin schlug er die Schneidezähne aus, zwei Blutergüsse auf die Stirn. Martin hat Sascha erzählt, dass die nächste Exekution ihm gilt. Obwohl Sascha noch ein Kind war, lernte er schnell und gründlich die Gesetze der Gefängniswelt. Zu einem Wachtmeister oder zum Erzieher zu gehen, war ohne Gewinn. In den Jugendhäusern galt die Systematik der Selbsterziehung. Die Erziehung des Gefangenen durch sich selbst. Diese Systematik ist kompliziert und überfordert die ungeduldigen oder die nervösen Existenzen der Erzieher und Wachtmeister. Die Gefangenen üben die Erziehung hierarchisch aus. Ein Fritz löst den anderen ab.Wenige Erzieher haben Handschuhs Qualität. Aber jede Meldung ist ein Anschiss. Meldung aus Selbstschutz ist Anschiss aus Egozentrik. Der Anscheißer ist ein Denunziant. Dem Denunzianten gehört nichts als in die Fresse. Der Denunziant muß geprügelt werden, bis er die Sprache verliert.
Die Exekution nach Fritz ist einmalig brutal. Die Exekution durch die Belegschaft dauert eine kaum zu überstehende lange Zeit.

Sascha besaß einen Schatz, den er, unglaublich für uns, in unser Gefängnis gebracht hat. Sascha besaß eine Bibel. In diesem Buch laß Sascha jeden Abend. Die Bibel war Saschas Spanner. Diesem Buch vertraute er wohl alles an. Sascha versteckte die Bibel hinter einem losen Ziegel, unter seinem Bett.

Wie ist das mit Gott", fragte ich Sascha am siebenten Abend, „Fritz wird dir sehr weh tun." „Vielleicht kann er mir weh tun", antwortete Sascha, „aber Gott kann er nicht einmal kratzen." „Warum mußt du's auch mit Jungen treiben", sagte Peter, der alle Neuen mit Zigaretten versorgt, bis sie sich Tabak kaufen können.“ „Ich weiß nicht, ich will das alles nicht, das mit Martin nicht, wer ist schon Martin, ein armer Homo, vielleicht können sie mir weh tun, aber Gott nicht, Gott nicht." Dann sah Sascha mit wasserblauen Augen zum siebenten Strich an die Wand und weinte. Draußen fingen die Geräusche an. Es gab nichts mehr für uns zu tun. Wir gingen unsere Schachpartie beenden. Wir spielten die spanische Partie. „Immer deine Pferde", sage ich, als die Geräusche auf dem Korridor lauter werden. „Sie kommen", sagt Mark. Mark und Klaus stehen vor der Schlafzelle und rauchen. „So ein Dummkopf", sagen sie noch und meinen Sascha. „Paß doch auf, ich geb 'deinem Läufer eins drüber", sagt Peter. Aber ich kenne ihn. Immer gibt er zu früh an.
Mein Pferd", sage ich, „mein Pferd und Schach." An manchen Abenden ist der Korridor durch ein Gitter in zwei Hälften geteilt. Hinter dem Gitter steht Fritz mit einer Blechschüssel. In der Mitte der Kinder, ganz in die Stäbe gequetscht, hockt Martin. Er hält sein Nachthemd übern Bauch. Die Adjutanten drehen Sascha die Arme auf den Rücken. Silvo, der auf jeden Pfiff wie auf sein verabredetes Zeichen hört, rührt in eine, Teller Wasserfarbe rot. ,,Dein Pferd, blöder Gaul, du passt nicht auf, ich brenn' ihm eins drüber."
Brenn' ihm eins drüber, ich hab den Faden verloren." ,,Was ist das für ein Spiel. Will ich dir mal was sagen. Hauptbahnhof Leipzig also. Um mich herum eine Schlägerei. Polen und Deutsche.Keine Polizei. Noch lange nicht. Hab ich gegen einen Rumänen gespielt. Königsindisch. Siebzehn Stunden. Von zu Hause ausgerückt, Ich brauchte das Geld. Um hundert Mark also. Er: weiß."

Solche Geschichten kennt man. Die Welt unter den Augen des Bizeps. Gleich wird er dem Rumänen seine Uhr abnehmen. Dann die Brille vom Kopf schlagen. Davon leben wir. Peter, der Geschichten erfindet, um sich durch Originalität zu schützen. Martin, der sich aus Mädchen nichts macht, der seinen Wert in den täglichen Einnahmen und Vergünstigungen sieht. Fritz, der jetzt in die Blechschüssel pisst. Sascha, den Silvo von der anderen Seite aus an die Gitterstäbe quetscht, daß sich die Körperchen Saschas und Martins berühren, und dann Sascha die rote Farbsuppe und nachher den Urin aus der Schüssel saufen lässt.
Die Stimmen auf dem Korridor haben den Klang zertretener Trompeten. Unser Schachspiel wird oft unterbrochen, von den Anweisungen, die Fritz seinen Adjutanten gibt.

Dann der Mond. Die Gesichter des Mondes sind nicht an Orte gebunden. In unserer Zelle steht der Mond rotgelb. Einmal habe ich ein Ei aufgeschlagen. Darin war Dotter mit totem Küken gemischt. Rotgelb. Ein Ei. Untersuchungshaft Kassberg. Das ist ein Gefängnis in Sachsen. Oder es war ein Frühstück bei Madelaine. Ralf, Madelaine und ich. Wir saßen immer zusammen, wenn ich nach Rudolstadt gekommen war, um sie auf der Bühne die Tragödien der Liebe spielen zu sehen.

Ralf ist mein Bruder. Früher lebten wir in Chrieschwitz, einem kleinen Vorort im Vogtland, in einem hellen Haus mit Schlangentapeten. Diese Tapeten waren ein Mythos, und ich litt unter Schlafstörungen und Halluzinationen. Aber eines Tages tauschte Ralf seine Drittes-Reich-Briefmarkensammlung gegen einen Wolfshund ein. Ein stolz schreitendes Tier. Darum nannte Ralf den Hund Prinz.
Nach Chrieschwitz zogen meine Eltern, weil ich ein lungenkrankes Kind war. Hier erholte sich meine Lunge, als ich mit Prinz und Ralf durch den Schnee eines langen Winters die angrenzenden Hügel, hinter denen die Wälder in den Horizont wuchsen, erstürmte und für Stunden täglich die Anweisungen meiner Mutter vergaß, die verharrschten Wege nicht zu verlassen. Aber der Frühling kam und Prinz verschwand. Die Schlangentapeten, die ich nicht mehr beachtet habe, verdrehten meine Träume erneut in dumme Hexereien. Als Prinz zurückkam, kam er mit der Tollwut in den Augen und ums schäumige Maul. Als er mich nicht mehr erkannte, Ralf nicht und nicht die anderen Geschwister, als sein Fell nicht mehr aufhören wollte sich zu sträuben, warf mein Vater einen Strick um Prinz, und der Abdecker erschoß den Spielgefährten eines schönen Winters für eine Mark. Das war der Anfang vieler Abschiede. In den Tragödien sehe ich die alten Freunde lebend, und das Glück klopft in mir an.

Ja, es war ein Frühstück bei Madelaine. Unterm Hain, ein schmaler Weg, Treppen steigen vom Marktplatz zur Heidecksburg hinauf, von der Burg führt der Weg zum Maus 12 durch Buchen, Eichen und Tannen. Der Stadtlärm auch Rauch der Industrieschornsteine liegt unter uns, hinter dem Rauch eine weite Sicht. Ralf spielte Gitarre. Madelaine Violine ungarisch. Und meine Stimme erhob sich klar über der Stadt in unserer grünen Schwemme. 

Jetzt wird mir leicht

Das Dunkel weicht
aus unsrer warmen Scheune
Der Regen geht
Der Wind verweht
die schwarzen Regenträumeiiv

Die Schallplatte „Vogtländische Volksmusik" brachte Ralf Madelaine als Geschenk mit. Denn immer wollte Madelaine wissen wie die Mundart unserer Heimat ist. Dann pellte ich das Ei auf, und im Hintergrund lief dazu, gesprochen von Stefanie Hertel:

A Bauer kam auf Plaue rei, sei großer Gung woar aa dorbei - und weil se beide hungrig sei, da kehrn se in a Wirtshaus ei. Bestelln sich Butterbrot und Eier und muffeln wie de Widerkeier. Auf amol dud der Gung ne Aldn, e durchgeschnittnes Ei hiehaldn. - Guck, Vader, do ho iech entdeckt, deß in de Ei a Hienl steckt. - Im Himmelswilln, schreis ned so laud, deß ewwa goar dr Wird herschaud Friß ner fix nei, e es jemand sieht, sonst zahln mers Hienle aa noch miet“.vi

Wir haben schön gelacht. Ralf, Madelaine und ich. Madelaine, unsere Freundin, bei der wir auch manche Nacht so lagen, eine Kollegin meines Bruders am Stadttheater Rudolstadt. Dort ist mein Bruder als Schauspieler angestellt. Und dort spielt Madelaine die Ophelia und bringt das Publikum zum Weinen, wenn sie die Blumen aus der Luft zupft und mit dem Sterben beginnt. Ralf spielt nicht den Hamlet. Als er an einem politischen Liederabend des Ensembles Brechts „Vom Mitmensch" rezitierte:

Schon als ein Mann, die Monde zählend

Ihn herauszog wie an einem Stiel
Schrie er laut auf, als er, rot, elend
Und klein aus einem Weibe fiel.vii

brauchte er zwei Nächte dazu, die Politische Polizei davon zu überzeugen, daß er nicht selbst der Verfasser des Gedichtes ist. Aus Sicherheitsgründen aber, oder, wie es in deren Sprache heißt, auf Bewährung, wurden meinem Bruder Hauptrollen auf unbestimmte Zeit nicht mehr gegeben. So kam Ralf zur Rolle des Geistes von Hamlets Vater und darf die Worte nicht sprechen:

Es ist nicht, und es wird auch nimmer gut
Doch brich, mein Herz, mein Mund muß schweigen.vviii

Und du bist der Einzige, der nun weiß, worüber die Ophelia jammert wie ne Katze", sagte Peter, als ich ihm die Geschichte erzählte.
Und du hättest sehen sollen, wie Madelaine ins Textbuch gebissen hat, als das Küken aus der Pelle schielte", sagte ich. Und wir sahen aus einer Zelle des Aufnahmetrakts in den Gefängnishof und dachten noch, daß der Knast schon nicht so hart sein wird. Die Wachtmeister gehen mütterlich mit den Neuen um. Ihre Neugier ist groß. Denn jede Neuigkeit unterbricht für eine kurze Zeit die Langeweile der Unterhaltung mit den Würfeln oder den Karten - und manch ein Genosse Wärter verzockt auf die Wiese nicht seinen Lohn. 

Die Wachtmeister langweilen sic in den „Casinos". Handschuh schläft mit seiner Frau. Bad Langensalza. Das ist zehntausend Meter weit weg vor unseren Zellen. Unsere Zellen sind nachts offen.


Manchmal ist der Korridor durch ein Gitter getrennt. Durch die Gitterstäbe binden sie Saschas Arme mit den anderen Armen fest. Fritz schlägt Martin in den Rücken und lacht. Martin tritt Sascha in die Hoden. Sascha gleitet konvulsivisch um Steinboden hinab. Er muss Silvos Glied in den Mund nehmen. Dann von Christlob. Dann von Carlos. Dann von Martin. Dann erbricht Sascha einen dicken Strahl. An seiner roten glänzenden Haut gleiten Erbrochenes, Urin und Samenreste.
Die rote Wasserfarbe glänzt. Die rote Farbe um das Wasserblau seiner weinenden Augen. Dieser Abend heißt Blut. 

„Schach matt", ruft Peter, „meine Dame gedeckt durch Läufer. Macht zehn Zigaretten." In Ordnung", sagte ich, „jetzt spielen wir um 20 Zigaretten." Und während ich meine Figuren neu ordne, haben sich die Geräusche auf dem Korridor zerstreut. Sascha fällt Mit einem dumpfen Aufschlag in seine Zelle. Lange noch werden wir sein sich in Krämpfen entladendes Weinen hören.
Der wird keine Ruhe haben", sagt Mark. „Wie lange dauert Vollmond", fragt Klaus. „Alles Mist mit dem Mond", sagt Mark noch. „Sag so was nicht", antwortet Peter und verteilt seine gewonnenen Zigaretten, „der Mond hat seine Bedeutung."

Aber ich scheiß auf den Mond, was sind denn das für Gefängnisse, hat dein Bruder gerufen, als er davon erfuhr, daß du jetzt im Gefängnis bist, darum kam die Politische Polizei ein zweites Mal und nahm ihn wieder fest. Er mußte eine Erklärung unterschreiben, daß er nicht beabsichtigt, unser Land verlassen zu wollen. Dann haben sie ihm den Ausweis weggenommen und ein Ersatzpapier gegeben, womit er aber keine Grenze passieren kann. Dann erst durfte er gehen", erzählte Madelaine, als sie mich besuchen kam. Wir spielten die Revanche und ich verlor auch die zwanzig Zigaretten an Peter. Dann ging das Licht aus und wir legten uns schlafen. In dieser Nacht hörte keiner, wie Sascha sein Schlafkleid zerriß. Am Morgen aber sahen alle den rotverkrümmten Körper in Zelle 17, den Sascha in dieser Nacht verlassen hatte. 
Die Bibel fand niemand mehr.

(Frühsommer 1988)


Nachbemerkung:

[Das war] genau wie bei den Nazis“, sagte mein Vater nach der Lektüre im Herbst 1989, in der neuen elterlichen Wohnung in Berlin-West (Reinickendorf), Frauenfelder Weg 28.
(10.8.2013)


Zuerst gedruckt in: „Das Glück in Mäusebach. Erzählungen“. Berlin, September 1989.

Neu durchgesehen, 10.8.2013.
Endnoten


i Die Verwirrung des Zöglings Törleß. Motto eingefügt am 10.8. 2013. Die Erzählung enthielt ursprünglich kein Zitat. Die Törleß-Lektüre lag ungefähr in der Zeit des ersten Fassung der Bibel-Erzählung.

ii Motto Nachgetragen 18.2013. IM-Michael - Spitzelbericht vom [Datum folgt]. IM „Michael“ war ein Erzieher im DDR-Jugendknast in Halle, der zum als inoffizieller Mitarbeiter (IM) für den Staatssicherheitsdienst der DDR (Ministerium für Staatssichherheit - MfS), der Bezirksverwaltung (BV) Halle, von 1964 bis 1989 tätig war. In Folge der langen Zeitspanne, schrieb er hunderte lakonische, teils atmosphärisch dichte, teils inhaltlich-elende Spitzelberichte wie diesen. Der Vorgang "Michael" liegt dem Autor ausführlich vor. 
iii Dieser Absatz der Erzählung wurde geschrieben und neu hinzugefügt am 10.8. 2013.
iv Die Belesenheit dieses Erziehers im DDR-Jugendstrafvollzug ging über weit das Gros des DDR-Strafvollzugspersonals hinaus. Vgl. Johannes Borowski, Mäusenest, in: Boehlendorff und Mäusenest, Union Verlag, 2. Auflage 1966, S.101.
v Wolf Biermann, Die grüne Schwemme, LP/CD „Liebeslieder“, 1. Lied, ©1975/1996 Wolf Biermann
vi Vogtländische Anekdote, Titel und Publikationsjahr der Eterna-Schallplatte sind mir entfallen.
vii Bertolt Brecht, Hauspostille, Zweite Lektion: Exerzitien, 1. Gedicht, Vom Mitmensch, in: Die Gedichte Bertolt Brecht in einem Band, FFM, S. 190.
viii W. Shakespeare, Hamlet, 1. Aufzug, 2. Szene (Zitat-Übersetzung: AR).


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