Mittwoch, 14. Dezember 2016

Ausgezeichnet: Dankbarkeitsmedaille (Medal Wdzięczności) der Solidarność für Axel Reitel und andere ehemalige politische Gefangene

Sir Elton John, Heinrich Böll (posthum), Lew Kopelew (posthum) u.a. haben sie schon bekommen.

Polen: Hohe Auszeichnung für ehem. Politische Gefangene          

cw – 1981 waren die drei Männer im Cottbuser Gefängnis in den Hungerstreik getreten. Sie wollten damit die Ideen der Gewerkschaftsbewegung Solidarność unterstützen. Für diese mutige Haltung erhielten Knut Dahlbor, Axel Reitel und Viktor Witt am 12. Dezember in Danzig die „Dankbarkeitsmedaille“ des Europäischen Zentrums für Solidarität. International bekannt wurde ihr Schicksal durch den DW(Deutsche Welle)-Film „Lernt Polnisch”. Die 45minütige Dokumentation wurde in Co-Produktion mit Telewizja Polska (TVP) produziert und 2014 der internationalen Öffentlichkeit vorgestellt.
„Diese Männer zeigten ungeheuren Mut und machten klar, dass der Kampf um die Demokratie keine Grenzen kennt“, sagte der stellvertretende Vorsitzende des polnischen Senats und Mitbegründer der Solidarność, Bogdan Borusewicz, zu der Preisverleihung. „Endlich bekommen sie einen handfesten Dank dafür, was sie 1981 in dem Cottbuser Gefängnis für die Demokratie in diesem Teil Europas getan haben.“
Der Film erzählt von den Anfängen des Widerstands einer fast vergessenen Bewegung in der ehemaligen DDR. In eindrücklichen Bildern wird die Aufbruchstimmung und die Courage der DDR-Bürger dokumentiert, die für ihre Ideale ins Gefängnis gingen. Am Ende stehen sich Lech Wałęsa, der damalige Chef von Solidarność, und ehemalige DDR-Oppositionelle gegenüber. Sie reichen sich 25 Jahre nach dem Fall der Mauer die Hand in Danzig, der Stadt, in der alles begann.
Die Dankbarkeitsmedaille wird seit 2010 in Danzig verliehen. Sie dient dem Gedenken an die polnische Oppositionsbewegung Solidarność und soll die Menschen ehren, die Solidarność weltweit in den 1980er-Jahren unterstützten.
Von einer ähnlichen Schaffung einer Auszeichnung in Deutschland ist 26 Jahre nach der Wiedervereinigung nichts bekannt. Auch hier wäre Lernfähigkeit angezeigt. Bereits in den neunziger Jahren erhielt der 17.Juni-Kämpfer und ehemalige Bauarbeiter an der Stalinallee, Manfred Plöckinger, in Anwesenheit der seinerzeitigen Präsidentin des Abgeordnetenhauses, Hanna Renate Laurien, die „Kombattantenmedaille“ Polens, mit der die einstigen Aufständischen in Posen von 1956 ausgezeichnet worden waren. Posthum erhielt Plöckinger nach seinem Tod (2002) ein Ehrengrab im Ehrenhain „17.Juni 1953“ auf dem Friedhof Seestraße im Berliner Bezirk Wedding. Wenigstens das.*




Dankesrede aus Anlass der Verleihung der „Dankbarkeitsmedaille“ an mich und vier andere vom und im Europäischen Solidarność-Zentrum (ECS) in Danzig am 12. Dezember 2016,
von Axel Reitel, Schriftsteller mit Wohnsitz in Berlin. 

Verehrte Teilnehmer und Zeitzeugen der Danziger August-Streiks 1980 und der Zeit des Kriegsrechts ab dem 13. Dezember 1981
Verehrte Mitglieder des Auswahl-Ausschusses,
verehrte Mitglieder des Europäischen Solidarność-Zentrums,
liebe Mit-Geehrte,
liebe Lebensgefährtin,
verehrte Damen und Herren, liebe Freunde!

die „Ausrufung“ der Protestaktion gegen das Kriegsrecht und für die uneingeschränkte Zulassung der Solidarność, geschah  in einem Gefängnis, das vom Ministerium für Staatssicherheit indirekt verwaltet und fest in den Transaktionen der für die Staatsdevisen der DDR verantwortlichen Kommerziellen Koordinierung, kurz: KoKo, verankert war. Sie begann mit handgeschriebenen Aufrufen am 14. Dezember - und erreichte ihren Höhepunkt am 17. Dezember 1981. Das Gefängnisregime war durch Zellenspitzel vom ersten Tag an vorbereitet. Am 17. Dezember erwartete die Arbeitskommandos  in der Speisebaracke eine Hundestaffel. Essen! wurde befohlen. Die Listen aller Verweigerer gibt es: sie werden der Forschung durch die Behörde für die Unterlagen der Staatssicherheit  nur geschwärzt zur Verfügung gestellt.

Während jener vier Tage war das Haftpersonal bewaffnet und lungerte in Scharfschützenmanier auf den Dächern. Wir blickten einander an und die Frage lautete, ob sie schießen. Die Antwort überrascht am Ende vielleicht nicht einmal, aber ich muss gestehen, dass mich die Möglichkeit, einer von dreihundertfünfzig niedergeschossenen politischen Häftlingen zu sein, auch heute noch etwas nervös macht.

Doch es hat sich alles gelohnt.

Der beeindruckende Kampf der Solidarność um Freiheit, Unabhängigkeit und Wohlstand mündete nicht nur im Untergang des hermetischen Ostblocks sondern es erneuerte grundlegend die Europäische Union. Den klugen Köpfen der Solidarność war es aus staatstheoretischer Sicht klar, dass Polen „an seiner Westgrenze ein wiedervereintes Deutschland und keine stalinistische DDR“ braucht. So steht es in den Sonderberichten der Verwaltung Aufklärung des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR vom 12. Dezember 1981. Und weiter dort „Fernziel des ["Komitees zum Schutz der Arbeiter" für inhaftierte Dissidenten, kurz]: KOR ist die Eingliederung der Volksrepublik Polen in ein vereintes Europa mit einem wiedervereinten Deutschland.“ Das ist nun alles so geschehen.

Die ebenfalls notierte „Überzeugung…dass die Entwicklung in Polen auch auf die DDR übergreifen wird“,  hat sich dagegen nicht bestätigt. Gewiss lagen vielen Menschen in der DDR die August-Ereignisse 1980 am Herzen, am Ende traten zu wenige dafür ein. Auch die friedliche Revolution 1989 in der DDR bekannte sich kaum zu ihrem Vorbild Polen. Deshalb ist es auch kaum verwunderlich, dass der von seiner Anzahl größte Protest in der DDR gegen das Kriegsrecht in Polen ausgerechnet in einer DDR- Strafvollzugseinrichtung stattfand. Nirgends im Land war das Wort so frei als im politischen Gefängnis.

Und auch die Antwort auf unsere Frage ist moderner denn je: Die KoKo, die von Honecker 1966 gegründete Kommerzielle-Koordinierung, war unermüdlich damit beschäftigt, harte Weltmartktwährung, Devisen genannt, in die ewig klammen Kassen der DDR zu spülen. Dazu gehörte auch der frei verkaufbare unbekannte politische Häftling (offiziell durfte es den ja nicht geben).

Aktenkundig sind zwar Gespräche zwischen der Gefängnisleitung  und dem zentralen Operativstab der Stasi über den praktischen Einsatz einer bewaffneten Truppe.  Doch welcher praktische, vernunftbegabte Mensch schießt eine Ware im Geld-Wert von 95.847 mal 350, das sind 33.546.450 Valuta, über den Haufen?  Der Chef der Kommerziellen Koordinierung, Schalck-Golodkowski, dessen Vater bereits ein guter Rechner beim russischen Zaren gewesen ist, dürfte sich, hoch oben, im Sitz der KoKo, im 23. Flur des Internationalen Handelszentrums an der Friedrichstraße, die Haare gerauft haben - und da wurde eben nicht geschossen!

Schon für Marx war „in Wirklichkeit die treibende Kraft die Beziehung des Menschen zur Materie und das wichtigste daran seine Produktionsweise. Dadurch [wurde] der Marxsche Materialismus in der Praxis [ja] zur Wirtschaftslehre.“[i]

Aber auch aus anderen Gründen wird weiter nach Marx gegriffen, in Opportunitätserwägungen einbezogen, um unablässig zu schmähen, was nicht den Beschreibungen des eingeübten Standpunktes entspricht. Bis  heute ist „die Rechte nicht eben ein  leuchtendes Vorbild. Aber die Linke ist schizophren“[ii] geblieben. Ihr fehlt weiterhin die „Festigkeit der Überlegung und auch ein wenig Bescheidenheit“, stattdessen ergeht sie sich in „eingebildeten Gewändern“[iii]

Man muss seine Zeit wie einen Erwachsenen betrachten, daß heißt ohne voreingenommene Sympathie oder Antipathie. Das heißt nach den Maßstäben der Kritik und der Vernunft.                                                
Möge diese Medaille also auch Gruß und Zuspruch für alle sein, die verstehen wollen und nicht richten, die für eine gerechte Gemeinschaft kämpfen und für Wahrheit und Freiheit gewaltlos im Einsatz sind. Und auch im Gedenken an die bislang namenlos gebliebenen Mit-Streikenden möchte ich mich noch einmal bei den Mitgliedern des Ausschusses und beim Solidarność-Zentrum für diese hohe Auszeichnung aufrichtig bedanken und Sie alle herzlich grüßen.                                                                                                                                                    

Haben Sie Dank für Ihre  Aufmerksamkeit.                                                                                                   
©2016 by Axel Reitel


[i] Vgl. Bertrand Russel, Philosophie des Abendlandes, Europa Verlag Zürich 2007, S. 791.
[ii] Vgl. Albert Camus, Verteidigung der Freiheit, Rowohlt 1997, S. 119.
[iii] Ebenda.



V.l.n.r.: Basil Kerski, Thomas Zaremba, Viktor Witt, Bogdan Borusewicz, Bernd Schalbe i Axel Reitel








































Fotos: Dominik Paszliński/www.gdansk.pl

* Quelle:  https://17juni1953.wordpress.com/category/hohenecker-bote/ (Letzter Zugriff 07.01.2017)




Mittwoch, 23. November 2016

Veranstaltungstipp: A Christmas Carol in Berlin

Von der Bühne in den TV-Knast und wieder auf die Bühne
Auf Taten folgen nun Worte
Die „Ex-Knackis“ sind jetzt das Lese-Ensemble


Sie kommen von der Bühne, haben sich im „Knast“ kennengelernt und sind nun LESemble} Das Lese-Ensemble. Karen Böhne, Judith Sehrbrock, Egon Hofmann, Armin Dallapiccola und Stefan Puntigam lesen, was ihnen Lust und Laune macht. Geschichten erzählt haben die fünf schon lange – auf der Bühne, ins Mikrofon oder vor der Kamera. 2001 haben sie sich beim RTL Serien Hit „Hinter Gittern“ kennengelernt: Vier „Schlusen & ein Knacki“ -  diese Freundschaft hält bis heute. Vor drei Jahren wurde daraus dann Lesemble} Das Lese-Ensemble und ihre Stimmen wurden zu Sherlock Holmes, Auguste Dupin, Ebenezer Scrooge, Mogli, und noch vielen, vielen anderen.

2013 haben Judith Sehrbrock, Egon Hofmann & Stefan Puntigam zum ersten Mal die weihnachtliche Geistergeschichte „Der Weihnachtsabend“ von Charles Dickens erzählt. Die Geschichte vom herzlosen Geschäftemacher Scrooge und den drei Geistern, die zu seiner Besserung beitragen, ist heute genauso aktuell, wie vor über 170 Jahren. Und für Judith Sehrbrock, Egon Hofmann & Stefan Puntigam ist es die perfekte Einstimmung auf die Weihnachtszeit. Deshalb lesen die drei auch dieses Jahr wieder Charles Dickens Klassiker pünktlich zum Adventbeginn:


Wann:           27. November 2016 um 17 Uhr
Wo:                Filmbühne am Steinplatz, Hardenbergstraße 12,  10623 Berlin
Wer:             Judith Sehrbrock, Egon Hofmann & Stefan Puntigam
Preise:          10,- (6,- ermäßigt)
Kartenreservierung :      0176.65344226  oder  karten@lesemble.de
oder direkt in der Filmbühne


LESemble} – das Lese-Ensemble
liest
Charles Dickens: Der Weihnachtsabend
Empfohlen ab 10 Jahren
Dauer zirka 90 Minuten
Eine Pause

Drei Stimmen, eine Geschichte, Kino im Kopf!

„Besser kann man sich auf die Weihnachtszeit nicht einstimmen.“









Links:



Montag, 1. August 2016

Buchkritik: Die entwendete Handschrift. Gabrielle Alioths neuer Roman


Die entwendete Handschrift - Gabrielle Alioths neuer großartiger Roman

von Axel Reitel
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Richard warf ihr einen zornigen Blick zu. Durch die richtige Kombination aller Erkenntnisse lasse sich die Wahrheit finden. Jeder finde nur seine eigene Wahrheit, entgegnete Hans. Die entwendete Handschrift, S.39

Ich bin sicher, dass der Streit stattgefunden hat, es gibt Zeugen. Ebenda, S. 91.

Professional Jealousy, bring down a nation. Van Morrison, Hymn to the silence


Unser Herz sei groß genug, um zwei Menschen darin zu lieben, entgegnet die Heldin des neuen Romans, Laura Merak, vor Jahren ihrem Ehemann Richard Merak, doch der hielt das für eine Lüge. Damit ist das große Thema in Gabrielle Alioths neuem Roman angeschlagen: die Lebenslüge, die sich am Ende als untilgbar erweist. Die Handlung selbst beginnt mit Lauras Ankunft im Konstanzer Inselhotel, in dem der von ihr getrenntlebende Ehemann am Tag zuvor an einem vermeintlichen Herzinfarkt verstarb. Er war für den Hauptvortrag am Kongress zum 600-jährigen Jubiläum des Konzils von Konstanz eingeladen worden. Seine Beerdigung bringt Laura, die seit fünf Jahren in Irland lebt, für sieben Tage, vom 16. April und bis zum 13. Mai 2015, in ihre Heimatstadt Basel zurück. Dieser Aufenthalt nötigt sie zur Auseinandersetzung mit ihrem früheren Leben als Meraks Ehefrau und dem selbstsüchtigen Basler Patriziat ab, dem Richard Merak abstammt. Sie stößt dabei mehr und mehr auf Widersprüche zwischen der Promotionsarbeit ihres Mannes und den völlig entgegengesetzten Erkenntnissen seines erfolglos bleibenden Rivalen, Hans Peterson, der einige Monate zuvor, nach einem heftigen Streit auf einer öffentlichen Tagung mit Richard Merak, im Rhein ertrunken ist. Kopfverletzung, 1,6 Promille. Meraks wie Petersons Forschungsschwerpunkt umfassen Leben und Werk eines byzantinischen Intellektuellen des 14. Jahrhunderts. Merak wird promoviert, Peterson veröffentlicht seine anderslautenden Erkenntnisse als Artikel und lässt die Promotion sausen. Doch Merak reagiert gereizt auf Petersons Veröffentlichung und versucht ihn beruflich abzuwürgen. Im Gegenzug stellt Peterson Merak als Lügner bloß. An diesem Konflikt entzündet Gabrielle Alioth eine großartig erzählte Eifersuchtsgeschichte zweier konkurrierender Wissenschaftler. Laura Merka dreißig Jahre die Arbeit ihres Mannes. (Sie hatten sich als Kommilitonen an der Universität Basel kennengelernt.) Sie kannte ihn besser als jeder andere Mensch, eingeschlossen dessen Familie, von der sie schlecht behandelt wurde. Die Gründe gehören zu den menschlichen Niederungen: ihre fehlende großbürgerliche Herkunft, zudem stammte Lauras Familie von der falschen Seite des Rheins. Die Auseinandersetzung mit derlei Dünkel und gesellschaftlicher Nicht-Akzeptanz geschieht geschickt am Rande, während Laura -auf der Suche nach den Gründen für die unterschiedlichen Einschätzungen - bald zu dem Schluss kommt, dass zwischen jener öffentlichen Auseinandersetzung und dem Tod der beiden Historiker eine Verbindung bestehen muss. Dass sich die Protagonistin dabei in einem Netz von Heimlichkeiten verfängt und selbst zur Verdächtigen wird, ist zu erwarten. Das Herzstück der Erzählung, die Aufdeckung einer gefälschten Handschrift des byzantinischen Intellektuellen, auf der die Doktorarbeit Richard Meraks im Wesentlichen aufbaut und die Grundlage seiner erfolgreichen wissenschaftliche Karriere bildet, die durch Hans Peterson aufzufliegen droht, erinnert an die an die Verstrickungen in den besten Romanen Umberto Eccos. Auch Richard Merak kommt nicht auf natürliche Weise ums Leben. Doch warum wollen es plötzlich gleich drei Mörder gewesen sein? Gabrielle Alioth erzählt eine bis zur letzten Seite spannend bleibende, noch nicht zuvor gekannte Geschichte, deren Verwicklungen - wie die Vergangenheit, laut Laura Merak - stets Funktionen der Gegenwart sind.

Gabrielle Alioth: Die entwendete Handschrift, Roman, Lenos Verlag 2016, 224 Seiten.
Quelle: http://tabularasamagazin.de/artikel/artikel_7230/ (13.07.2016) Hinweis: der Abdruck bei der Tabula Rasa trägt die Überschrift Auf der falschen Seite des Rheins

Samstag, 2. April 2016

Buchkritik: Herr Hübner und die sibirische Nachtigall. Ein Roman von Schädlich

von Axel Reitel

Das Elend überredet uns
zur Verzweiflung;
der Stolz zur Anmaßung.

Pascal, Pensées, Aphorismus 229



Der Weg ins Paradies führt über das Universum der Niedertracht. Wieviele unsagbare Schicksale bilden das schreckliche Antlitz dieser Welt? Wir sind Verdammte, seit wir das zulassen. Wir sehen, was wir sehen wollen, und das sind vor allem: keine Schwierigkeiten. Romantisch, was wie schön gedeckt mit Kerzenschein aussieht und wenn einer dazu am Klavier sitzt. Und wenn der Klavierspieler gerade von da herkommt, wo gequält wird? Nur Kinder stellen solche Fragen. Das ist so sicher,wie auf ihren Spaziergängen durch die Wohnung keine Tür verschlossen bleibt. Mutti, Vati, was geschieht in einem Lager? Die Antwort lautet – wetten -,dass sich das so einfach gar nicht sagen lässt.

Susanne Schädlich leuchtet in ihrem Roman „Herr Hübner und die sibirische Nachtigall“ das Unsagbare aus und verwebt die Lebensfäden zweier Schicksale zu einer lehrreichen Geschichte: die des Liberaldemokraten Dietrich Hübner, der im Jahr 1948, mit 21, von der sowjetischen Militärverwaltung verhaftet wird. Mara Jakisch, eine Operettensängerin und Filmschauspielerin, ist bei ihrer Verhaftung bereits 42. Beide schmoren in der KGB-Untersuchunghaftanstalt am Münchner Platz in Dresden.

Und beide werden dort für kurze Zeit Zellennachbarn und tauschen sich über Klopfzeichen aus (A 1 bis Z 26, Wortende kurz zweimal kurz, Ende der Info dreimal kurz). Sehen werden sie sich nie, aber sie werden sich für immer im Gedächtnis bewahren. Beide hatten einst vor, die Welt zu verbessern - er über die Politik, sie über die Macht der Musik (was ihr noch helfen wird) -, jetzt warten drakonische Strafen auf sie. Beide erhalten 25 Jahre Arbeitslager. Wobei Dietrich Hübner in der Sowjetisch besetzten Zone bleibt, –die am 07. Oktober 1949 zur Deutsche Demokratische Republik, kurz DDR, umgestaltet wird -,und wünscht sich im Laufe der Haftjahre manchmal nach Sibirien.
Während Mara Jakisch tatsächlich in den sibirischen Gulag kommt und sich nach Deutschland zurücksehnt. Doch gegenüber der Präsenz des Lagers und was es über die Jahre dem Leidtragenden zunehmend an Kraft abringt, spielt am Ende nur noch innere Stärke die Rolle, selbst das Leiden als erträgliche Existenz anzuerkennen.

Lenin, der für ein irdisches Paradies war, hatte die Losung ausgegeben, dass uns Menschen, anstatt mit dem Wahren, Schönen und Guten zu begeistern, stets ordentlich eins über den Schädel gehört. Genau in diesem Sinne gestaltete sich auch die Lagerwelt des KGB.

Was Susanne Schädlich auszeichnet ist, dass sie die Strategie der Lagertechnik eher in der Unschärfe lässt – darüber wurde ja eh schon alles geschrieben -, während ihre ganze Aufmerksamkeit der Technik des Überlebenskampfes der Leidtragenden gilt.

Aufmerksamkeit? Moment mal! Was ist mit den begangenen Verbrechen? Nun ja, wenn das Verbrechen sind. Also: Dietrich Hübner war Liberaldemokrat und damit kein Kommunist. Punkt. Er musste weg. Auch über diese Technik gibt es bereits ausgezeichnete Literatur. Und Mara Jakisch? Die sang auch im braunen Reich, das stimmt. Sang sie aber auch im Herzen für Hitler? Spielte Heinrich George auch im Herzen für Hitler? 1941 war Mara auch in Paris. Von der"Austellung 'Le Juif des France"' (S. 27) hielt sie sich jedoch fern.

Dietrich Hübner war von Herzen Liberaldemokrat und kein Kommunist, das stimmt. Dürfen wir einen Menschen aber nur deswegen zum Verstummen bringen, weil er uns irgendwie nicht - oder nicht mehr -,in den Kram passt? Der KGB durfte das nicht nur, er war besessen vom Verstummenbringen anderer Menschen. Das war sein inneres Ziel. Nur zu diesem Zweck wurden in den Lagern die unwürdigsten Bedinungen geschaffen.

Susanne Schädlichs weist in ihrem ausgezeichnet strukturiertem Roman drei Möglichkeiten auf, die Würde und das Leben in diesen Lagern zu bewahren: ein festes Herz und einen eisernen Willen (Hübner) oder eine goldene Stimme (Jakisch); die größere Rolle aber spielt die Zeit.
Im Roman klingt das so: "An einem kühlen Morgen nahm eine sehr viel ältere russische Frau Maras Gesicht in ihre Hände, küßte die rechte Wange, die linke Wange, die rechte, die linke. Die viel ältere Frau bekreuzigt sich. 'Sobaka umerla! Sobaka umarla!' sagte sie. Der Hund ist tot.'" (S. 90)
Stalin war gestorben und die Zeiten änderten sich. Mara Jakisch durfte im Lager auftreten, singen und sich und den anderen Trost spenden. Auch solche Erfahrungen haben Folgen. Später, als sie längst entlassen ist, in Frankfurt am Main lebt,ist sie, sobald am Himmel der "Mond als Sichel" steht, wieder "in Sibirien".Im Buch klingt das so: "Und sie sah dieses Licht. Dieses blaue Licht von Sibirien. Das sie nicht ersehnte. Das sie nicht losließ." (S. 192)

In der SBZ, seit 1949 DDR,knallten indessen weiter die schweren Riegel. "Gesicht zu Boden." ... "Umdrehen, Gesicht zur Wand." ... "Gehnse." "Stehenbleiben. Gesicht zur Wand." (S. 193) Und diesging bekanntlich weiter so bis zum Herbst 1989, in dem sich - und das in nur drei Wochen -, alle acht Völker des kommunistischen Osteuropas von ihrer Machthabern befreiten. Dietrich Hübner gelangte im August 1964 aus der Haft in die Bundesrepublik und fand erfolgreich seinen Platz in der Politik.

Für beide Protagonisten, für Dietrich Hübner wie für Mara Jakisch, bleiben es in der Erinnerung entbehrungsreiche Jahre voller Schläge, Hunger und Kälte, aber nie voller Einsamkeit. Susanne Schädlichs Buch ist eine kleine wunderbare Enzyklopädie menschlicher Solidarität, das einem das Herz öffnet und wieder einmal eine Axt ist gegen das gefrorene Meer in uns (Thank you, Mister Kafka). Kurz: Susanne Schädlich erzählt knapp, dafür bleibt sie beim wesentlichen. Damit weckt sie unsere Neugier, macht Wegsehen unmöglich, verdammt.


Susanne Schädlich, Herr Hübner und die sibirische Nachtigall, Roman, Droemer 234 Seiten. ISBN 978-3-426-19975


Erstveröffentlichung: http://tabularasamagazin.de/artikel/artikel_5905/

Buchkritik: Feine Herzen, grobe Herzen in Nicki Pawlows neuem Buch “Der bulgarische Arzt”

von Axel Reitel

2019 wird die bulgarische Stadt Plovdiv die europäische Kulturhauptstadt. Und in Plovdiv spielt auch ein Gutteil der spannenden Handlung des Romans der 1964 in Köthen, Sachsen-Anhalt, mitten im Kalten Krieg als Tochter eines bulgarischen Vaters, des Arztes, und einer deutschen Mutter, geborenen Nicki Pawlow. In Plovdiv lebt die Familie des Vaters, dessen wuchtiger Schädel bald einem befreundeten Ostberliner Bildhauer als Vorlage für eine Karl-Marx-Büste dient. Diese wird von der Tochter im “Haus des Lehrers” am Stralauer Platz erinnert, wo sie sie einmal bewundert und von wo sie nach dem Ende der DDR über Nacht verschwindet.


Das wäre sozusagen der Türöffner des Romans, bei dem es sich einerseits um die Spurensuche nach der Biografie des gutherzigen, doch von Wutanfällen heimgesuchten Vaters mit der “slawischen Seele” und der zwischen Narzißmus und Eiseskälte taumelnden deutschen Nachkriegsfamilie der Mutter dreht. Andererseits spielt Nicki Pawlow wie bereits in ihrem Roman, “Die Frau in der Streichholzschachtel”, äußerst geschickt mit politischer Zeitgeschichte und ihren Folgen für die betroffenen Menschen. Und diese treten am deutlichsten am zweiten Schauplatz des Romans hervor, in der zwischen Ost und West gespaltenen DDR. Dass dabei vor allem der Neid auf Freiheit und Besitz der anderen eine Rolle spielte und ganz speziell der Neid auf den Westen, der ganze Familienstrukturen und Liebesverhältnisse zerreißt, arbeitet die Autorin in einer Schlüsselszene heraus, wie in jener zwischen der Mutter Rose und deren Geliebten Jakobi (sic), einem Befürworter des rigiden Staatssystems, heraus: “Sie erzählte, wie Jacobi an einer roten Ampel gehalten hatte und wie ihr Blick auf einen weißen Transporter auf der anderen Straßenseite gefallen war...Vor dem Transporter parkte ein "Tschaika" [russische Luxus-Limousine]. Die Möbelträger verstauten gerade Tische, Stühle, Kommoden und Schränke.” Eine Wohnung eines in den Westen Geflohenen wird von den Dienern der Staatsmacht ausgeräumt, das Interieurs beschlagnahmt, was Rose entrüstet und Jacobi gefällt: “Verräter brauchen kein Privateigentum!” (S.306)


Diese herablassende Haltung des Mitläufers Jacobi, in seiner Neugier auf Schlechtes, empört Roses Prinzip der Bereitschaft zur Freude. Vor allem aufgrund der Tatsache, dass die Unvereinbarkeit, die am Ende der Szene beide voneinander trennt, auch an anderen, heute noch existierenden Orten – und nicht allein in der DDR -, spielen könnte, verweist auch auf die universellen Grundproblematiken innerhalb der Handlung.


Ja, die Autorin Nicki Pawlow führt uns in der Tat so einiges vor Augen und beweist, dass die DDR weder “auserzählt” ist - noch auserzählt sein kann. Wie auch kann von einem Staat mit seinen nahezu zahllosen internationalen Verflechtungen wie zum Beispiel in die Volksrepubliken Afrika, Asien und die Karibik jemals alles erzählt sein? Überall da waren Menschen wie die Familie Nikolow unter der Maßgabe einzuhaltender Gesetze und gegebener Gesetzmäßigkeiten unterwegs. Natürlich waren jene Gesetze auf die Unterwerfung der Menschen ausgerichtet und erzeugten Konflikte. Genau das ist der Stoff, aus dem Nicki Pawlows höchst bemerkenswerter Roman ist. So wird das eigentliche dramaturgische Ziel der Protagonisten, nämlich die Flucht in den Westen, vom äußersten Rand her und durch Nebenfiguren – durch Mitglieder des deutschen Teils der deutsch-bulgarischen Familie-, eingeführt: [...] “Aber es geht doch um die Freiheit!” rief Rose. Und Lotti sagte: “Genau!” “Von einem Schlamassel sind wa in den nächsten jerutscht”, kam es von Max, der nervös an seiner kalten Zigarre zog. “Unser Bruder hat’s richtig gemacht, der ist im Westen!”, sagte Lotti.[...] (S. 68)
Die gesamte Szene entwickelt die Autorin über drei Seiten und sie gehört mit zu den besten des Romans. Vor allem spricht Lottiaus, was Wantschos Familie letzten Endes nur übrigbleibt. Dabei wird vorher zunächst aus der DDR nach Bulgarien zu Wantschos Eltern umgezogen, was sich einerseits aus scheinbar kulturellen Unvereinbarkeiten -die von der deutschen Schwiegermutter Wantscho ständig in wahrlich eiskalten Briefen unter die Nase gerieben werden. Andererseits verdient Wantscho, obwohl er schnell eine gute Stelle als Arzt findet, so gering, dass es zum Ernähren einer Familie – Rose wird in Bulgarien schwanger -, kaum reicht.


So bleibt am Ende nichts anderes als die Rück-Siedlung in der DDR. Dort lässt es sich zunächst gut an, doch überschlagen sich gerade jetzt jene politischen Ereignisse, die heute als Anfang vom Ende des Kommunismus gelten. Die Panzerkolonnen der Warschauer Paktstaaten 1968 überraschen die Familie während des Badeurlaubes in Heiligendamm. 1976 folgt die Ausbürgerung Wolf Biermanns, die sich gerade für die DDR als Sargnagel erwies.


Beeindruckend schildert die Autorin eines der letzten Konzerte Manfred Krugs in jenem kleinen Kaff in Thüringen, in dem Familie Nikolow in der DDR bis zur ihrer ausgeklügelten Flucht in den Westen lebt. Der herzhafte Auftritt des beliebtesten Schauspielers und Jazzsängers der DDR, der sich mit seinem Freund und Kollegen Biermann solidarisierte, gerät zum Alptraum für die zum Konzert geschickten FDJ- und MfS-Schlägerbanden, als Krug von der Bühne herab mit ihnen Klartext redet und anschließend die Bühne verlässt.


Es wimmelt von VoPos und schließlich soll Wantscho wegen des Konzertbesuches der Doktortitel aberkannt werden (S.304). Nichtsdestotrotz erhält er am Tag des Gesundheitswesens eine hohe Auszeichnung, doch als er das Podest für die Dankesrede besteigt, denkt er nur an die eigene Flucht. Auch mit der Beschreibung der beinahe in letzter Sekunde gescheiterten Flucht der Familie Nikolow über Österreich gelingt der Autorin ein Stück ganz hervorragender Prosa.

Überhaupt hält dieser großartig geschriebene Roman das Krachen der Gegensätze von einst in ungeheuer lebendigen Bildern fest. Und last but not least lebt dieser Roman auch von der Tatsache, dass die Autorin, mit Georg Steiner gesprochen, ihr Thema nicht einfach mal so auswählte, sondern hier suchte sich zweifelsfrei ein Thema seine Autorin. Das lässt sich gerade einmal von den Glaubwürdigsten sagen.

Nicki Pawlow, Der bulgarische Arzt, Roman, Langen Müller Verlag, 496 Seiten, € 23,70.

Buchkritik: Ein Hort des Entzückens - Deutscher Kolumnist schreibt den Fußball in die hohe Literatur



von Axel Reitel
„Auch jetzt noch sind die sonntäglichen Sportveranstaltungen in einem zu Bersten gefüllten Stadion und das Theater, das ich mit einer Leidenschaft ohnegleichen liebte, die einzigen Stätten auf der Welt, wo ich mich unschuldig fühle.

Albert Camus, Der Fall


Das Vorwort schon stimmt hoch ein. Und Vorwort-Autor Markus Hesselmann behält auch recht. Die ersten Seiten bereits machen klar, warum diese Texte so hammermäßig gelobt werden. „Die Fußballkunst wird vom interessierten Volk in allen möglichen Formen goutiert“, bekennt der Autor, wem er bei seinen Reportagen aufs Maul schaut, in Kolumne 11 - der die Überschrift auch entnommen ist.

„Fliegen kann jeder“- aber wer schreibt, nimmt „den harten Weg“ (S.9). Ein guter Autor nimmt dabei, was er verwerten kann. Eine Kunst, die von Frank Willmann perfekt beherrscht wird. Dieser Autor fängt so gut wohl wie alles ein, was den Leuten durch den Kopf geht - und was sie mit der Zeit wieder vergessen hätten, weil immerdar abgelenkt und beherrscht davon , „bestimmte Rituale einzuhalten“ (S. 61).

Frank Willmann schreibt klug und phantasievoll, er geißelt, er motzt, er lacht, er sieht die Zusammenhänge und gießt sie in staunen machende, hochpoetische Bilder. Er nimmt auch kein Blatt vor den Mund. Tüchtig teilt vor allem namentlich nach oben aus, etwa wenn Beckenbauer oder Hoeneß verbal unsinnig werden oder wenn eine „Person wie Katrin Müller-Hohenstein ... sich gern mal vor lauter Verzückung einen inneren Reichsparteitag gönnt“ (Seite 156). Er legt den Finger auf die Wunde. Dabei ist der Autor Frank Willmann dem Feminismus keineswegs abhold, im Gegenteil, er schreibt klar und deutlich, dass das brachiale Gehabe mancher Fanschaften es nur beim Männerfußball gibt; auch die hier und da eingeschobenen Familienbilder mit der hochklugen Ehefrau und dem gemeinsamen Sohn klingen inspiriert an.
Frank Willmann legt den Finger auf die Wunde, aber bohrt in der Wunder nicht herum, sondern macht es eher wie „der Geist von Berni“ (S.88f), er „hört hin und gleichsam weg“. Was bleibt ist Quintessenz. Die Schwächen des Einzelnen sind die Schwächen aller.

Schärfer geht er um mit den Abgründen des blasser zwar gewordenen - doch immer noch zupackenden braunen Himmels über Deutschland - sie lassen Frank Willmann (wie auch den Rezensenten) erschauern. An diesem Punk lässt der Kolumnist, zu Recht, Null-Komma -Nichts durchgehen, auch kein „klitzekleines 'Heil'“ im Hallraum des „angestimmten Kurzgesangs 'Sieg'“ (S.154).Und Frank Willmann drückt sich so aus, dass es sitzt. Derartige „Szenerien“ verderben die Weltmeistertitel-Freuden fürwahr.

Der dicke Rest des Buches folgt dem Hauptmotiv indessen: „Lachen ist gesund“. Keine Barrieren. Nirgendwo. Ein Zaun ist „kein Hindernis“, noch wie Zyankali ätzende Fangesänge (S.120). Ob „sympathischer Club“ (S.121) oder „nimmersattes Monstrum“ (S. 151). Frank Willmann ist überall zu Hause und erweist sich als rasender Fußballreporter nicht nur in Deutschland - das er ironisch verkürzt auf Schland - sondern „in jeder Himmelsrichtung“. Ost- und Westeuropa, Südamerika: neben philosophischen Fußballbetrachtungen hat er ebenfalls erstrangige Städtebeschreibungen drauf.

Den Anker dabei tief im Bitumen der unteren Ränge, mitten im Menschenmeer der verschmähten breiten Masse, in der aber eben auch noch Ehrlichkeit , Lebensfreude und Unschärfe als Regulativ zu Hause sind.

Hier lebt man eben noch die Kunst, über menschliche Schwächen hinwegzusehen. Und so mischt auch der Autor Willmann von den gern übersehenen eigentlich nur die großen verzapften Übel in seine Fußballnachrichten mit ein und zeigt so nebenbei, wie wahres Engagement den Spaß nicht einfach so mal auf der Strecke lässt.

Empfiehlt sich hier das Bild von Diogenes? Der Rezensent hat keine Ahnung, er tauchte einfach auf. Wie weiland mit seiner Laterne durch die breiten Masse von Athen, hält er dir den Spiegel vor Augen und ruft: „Menschen suche ich! Menschen!“ Und warum nicht? Zieht doch auch unser Kolumnist von Stadion zu Stadion, stets auf der Suche nach dem Menschlichen im wahren, echten, alle glücklich machenden Fußball.

Der Rezensent bekennt im vollen Umfang seine Begeisterung. Frank Willmann schreibt in seiner Fußballkolumne (in: Der Tagesspiegel) Sätze wie bunte Schüsse, mit denen er den Fußball in die hohe Literatur „schießt“. Wo er bisher kaum war. Was gefehlt hatte bisher. Das ist Frank Willmanns Verdienst. Diese Kolumnen sind so schön wie irre unterhaltsame Filme.„Ein inneres Blumenpflücken“, nennt ein Facebook - Kommentator das Lesen dieser Texte. Eine Stimme aus der breiten Masse. Von den unteren Rängen. Gegönnt sei ihr das letzte Wort hier.

Frank Willmann Kassiber aus der Gummizelle. Geschichten vom Fußball. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2015, 160 Seiten. Englische Broschur. ISBN 978-3-7307-0169-0 € 9,90.

Kunstgeschichte: Trauerweidengepeitsche Kunst. Dieter Hoffmann zum 80.

Trauerweidengepeitschte Kunst

von Axel Reitel
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Über zwei neue Bücher des renommierten F.A.Z.- Kunstkritikers Dieter Hoffmann und aus gegebenem Anlass über Dieter Hoffmann selbst

Es ist wichtig, dass man vieles zusammensieht. 
Dieter Hoffmann zu Hubertus Giebe, S. 76.

Der renommierte Kunstkritiker Dieter Hoffmann wurde 80 


Ein Leben. Und was für ein Leben. Und zum 80ten legen gleich zwei Verlage jeweils einen Übersichtsband vor. Doch wo bleibt das hochverdiente, das große Echo? Wir vergessen zu schnell. Wir sind ja verrückt. Dieter Hoffmann, ein verdienter Mann, fast vergessen? Ich rufe einige Kunstfreunde an, aber so richtig fällt bei denen der Groschen nicht. Ich will Dieter Hoffmann aber nicht vergessen. Sicherlich hat er viele Leute noch immer um sich. Aber eine große Leserschaft, wie er dereinst hatte als Autor der FAZ? Die Zeit ist derart schnelllebig und wir vergessen wie im Rausch. Wir sind ja verrückt. Ich will Dieter Hoffmann aber nicht vergessen.
Ich kannte vor unserer ersten Begegnung von Dieter Hoffmann immerhin ein Gedicht, in: Meine liebsten Gedichte, von Johannes Bobrowski (1985 aus dem Nachlaß herausgegeben). Das Gedicht heißt "Meierei”. Ich schlage Seite 369 auf, ahne wieder etwas und lese: "Quarkgemäuer, / Lehmkuchen, / Meierei in der Lößnitz./ Hahnenschrei glänzt wie Fayence. / Taxushecke dunkelt./ Hochzeitskleid./ Kapelle schwillt./ Vergißmeinnicht, /einst/Blume der Hetären./ Spaziergang volèrenbunt. /Glasbläser trinken./ Nachmittagsgäste / sitzen auf dem breiten / Backblech des Hofes. Erwartend / rosinfarbenen Abend." Es ist so. In nuce enthält dieses Gedicht bereits Hoffmanns Blick auf das, was ihm wichtig ist als Spaziergänger seiner Zeit und auf seine Themen. Johannes Bobrowski entnahm Hoffmanns Gedicht dem 12. Jahrgang des Literaturkalenders "Spektrum des Geistes" .Das war 1964. Dieter Hoffmann ist Anfang Dreißig.
So alt war ich auch, als ich Dieter Hoffmann Anfang der 1990er im Haus von Marlies und Hubertus Giebe erstmals begegnet bin. Ich war frischer Mitbegründer und Redakteur (neben Roland Erb und Utz Rachowski) der brandneuen Dresdner Kulturzeitschrift "Ostragehege" (den Namen setzte Heinz Czechowski durch) und wollte sofort etwas von Dieter Hoffmann bringen (wie das konsenstechnisch so in der Branche heißt).
Über Hubertus Giebe kannte ich ein wenig auch Hoffmanns Biografie sowie einige seiner Kunstessays. Was mir gleich auffiel, war Dieter Hoffmanns General-Thema, das ich, vielleicht etwas salopp, zu verknappend, "Die Stadt Dresden und ihre Bildenden Künstler" nennen möchte. Ein weiterereinnehmender Aspekt für mich wurde sein deutliches Engagement, mit dem er sein Thema ausleuchtet. Es schien ihm einfach nichts Wesentliches zu entgehen.
Ich notiere. Dieter Hoffmann ist Jahrgang 1934, ein gebürtiger Dresdner. Als der Krieg zu Ende geht, ist Dieter Hoffmann elf Jahre, so alt wie Jim Hawkins, der frühjugendliche Erzähler der Schatzinsel und auch Dieter Hoffmann wird reisen, (Kunst-)Schätze heben und unnachahmlich darüber erzählen, wie gesagt, vor allem eben über Dresden und seine bildenden Künstler.
Auch der ein Lebensthema auslösende Schock fehlt nicht. Als der Krieg zu Ende geht, brennt sich Dresdens "Ausbombung" (Eckart Kleßmann), der kunstreichsten Stadt Deutschlands, für immer in ihm ein. Dem "Rückzug aufs Land" (Eckart Kleßmann) bei Dresden folgen weite Erholungsspaziergänge, was in seinem Leben zum Wirkungsprinzip noch werden soll.
Dann die zäh ablaufenden Jahre bis 1949 - Du sollst dich erinnern! - sind geprägt von Schule und autodidaktischen Aktivitäten auf dem Gebiet der Lyrik (!).Durch die Lektüre einer Anthologie expressionistischer Lyrik fühlt er sich bestätigt. Der Titel "Vom Schweigen befreit" wirkt vor allem im Hinblick auf seine Lebensumgebung exemplarisch.
Dieter Hoffmann entscheidet sich zunächst für Vorlesungsbesuche über moderne Dichtung an der Dresdner Volkshochschule. Die Begegnung mit der Malerin Inge Theiß regt ihn jedoch an, einen Berufs-Weg als Maler einzuschlagen, auf dem er bald scheitert, auch den sich anschließenden Berufs-Weg zum Gartenbauarchitekt bricht er ab. Und warum eigentlich nicht? Sein Talent lag anderswo. Aber wo? Er wird ein Flaneur und auf seinen Spaziergängen lernt er wie im Vorübergehen die namhaften Dresdner Künstler kennen, darunter Karl Kröner, Wilhelm Lachnit, Hermann Glöckner – und über sie alle wird er, ihre Werk analysierend, schreiben.
Der Nachkrieg geht vorüber. Das Deutsche Reich wird zweigeteilt, die Bundesrepublik (September 1949) und Deutsche Demokratische Republik (Oktober 1949) entstehen. Die Interessen der West-Alliierten und Stalins erwiesen sich unvereinbar. Dabei zeigt sich Stalins UdSSR - nach außen hin - von ihrer Sahneseite. Russische Briefmarken gehören zu den schönsten im Haus der Philatelie. Auch in der DDR wird früh auf Kunst gesetzt; doch der Staat hält die Zügel fest in der Hand, was zu sagen verboten ist. Der Staatsbürger mit den zwei Gesichtern wird geboren. Dieter Hoffmann weicht oft aus nach West-Berlin und ist schnell hier in der Literaturszene und fühlt sich wohl.
Auch in Dresden ist Dieter Hoffmann schon gefragt und wird gefördert von den Kunsthistorikern Wolfgang Balzer und Fritz Löffler, beide "schanzen" ihm kunstessayistische Aufträge zu. Fast schon nolens volens wird auch Hoffmann der geschätzte und gern gelesene und zitierte Kunstkritiker, verbunden zunächst mit einer bezahlten Anstellung als Redakteur des Dresdner Organs der Ost-CDU, "Die Union". Hier darf er doppelt existieren, auch einige seiner einprägsamen Gedichte werden von der "Union" gedruckt.
Bis 1956 legt Dieter Hoffmann zwei Lyrik-Bände vor, darunter "Mohnwahn", wohl anklingen wollend an Celans schnell berühmt gewordenen Gedicht-Band "Mohn und Gedächtnis", der das Weltgedicht "Die Todesfuge" enthält. Bereits 1957 werden Gerüchte von einer Absperrung Ostberlins laut, worauf Dieter Hoffmann die DDR aus- in diesem Zusammenhang - politisch zu nennenden Gründen verlässt.
Im neuen Heim, in Stuttgart, fasst er rasch Fuß. Er arbeitet wieder als Redakteur, wird ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz, sogar über zwei Wahlperioden deren Vizepräsident.1961 erscheint beim renommierten Verlag „Luchterhand“ ein weiterer Gedichtband. 1963 folgt der Rom-Preis mit Aufenthalt in der Villa Massimo, 1964 die Niederlassung in Frankfurt am Main, wo er als Redakteur für die „Frankfurter Neue Presse” tätig wird. Von 1979 bis 2007 schreibt er unter dem Pseudonym Anton Thormüller für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ über bildende Kunst. Von Anfang an setzt er sich dabei für die klassische Moderne in Ostdeutschland und ganz speziell in Dresden ein.
Der Rest ist die Erfolgsgeschichte eines über Jahrzehnte sich verdient machenden Flaneurs, wie auch der von den Herausgebern Dieter Hoefer und Gisbert Porstmann im "Verlag der Kunst" 2014 - unter dem Titel "Trauerweidengepeitscht" - vorgelegte Prachtband mit Texten aus sechs Dekaden von Dieter Hoffmann - zur Dresdner bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts - hinreißend unter Beweis stellt.
Ach ja,Hoffmanns “Republikflucht” wird – wie großzügig - von der DDR 1974 amnestiert, worauf Hoffmann Dresden promptin Folge besucht. Er kann wieder anknüpfen und es entsteht eine tiefe, nicht mehr abreißende Verbindung.Das erfreuliche Ergebnis dieser seismographischen Verbundenheitstellen uns die Herausgeber des mehrere Kilo wiegenden Prachtbandes “Trauerweidengepeischt. Spaziergänge durch die Dresdner Kunst des 20.Jahrhunderts” nun vor.

Trauerweidengepeitschte Kunst 

Der Band kann sich wohl sehen lassen. In summa summarum fünfundsiebzig genussvollen Kunstkritiken setzt sich Dieter Hoffmann mit den sich ablösenden “Kunstwenden” (Werner Haftmann), beginnend in den 1950er Jahren, auseinander. Und auch ein roter Faden findet sich erfreulicherweise auf den ersten Seiten, wenn Hoffmann (im August 1955 über den Maler Willy Wolff) schreibt:” Es ist nicht immer das gleiche, was die Verkaufsgenossenschaft Bildender Künstler zu bieten hat – dafür aber sind es immer wieder die gleichen, die aus der Masse der Relativitäten herausragen.” (S. 13).
Er lobt (und fordert damit heraus) die “völlig neu gesehene Landschaft” (über Ernst Hassebrauck), den “eigenen Stil” (über Wolff) und Beispiel sein dafür, “was in Dresden doch noch an Kunst geleistet wird” und die Verwandlung des unerträglichen Schweren in inspirierende Stimulans, “in Duft” (über Wilhelm Lachnit und Karl Kröner. S. 14). Dabei verwandelt, dechiffriert der bildende Künstler schließlich das, von was er sich “bewegen” lässt, Vegetation, Stadt, Geschichte, Selbstbildnis, “Ikarus-Thema” (Dieter Hoffmann) oder “sozialkritisches Engagement” (Hans-Jürgen Buderer, Manfred Fath) in eine eigene sichtbare Wirklichkeit. Dass dieses “produktive Verhalten” (über Karl Kröner, S. 19) stets “in den Kampf um eine erneuerte Kunst” (ebenda) mündet, legt uns dieser Band nun nahe. Dazu gehört als Maxime auch, dass sich ein Künstler am Ende nicht “unterkriegen” lässt (über Hans Jüchser, S. 21). Beachten wir dafür bei Rainer Maria Rilke dessen Forderung:“ Überstehen ist alles!”
Darauf kommt Hoffmann mit einem Seitenhieb auf jenes Kunstvereinsleben in der Bundesrepublik zu sprechen, das sich allzu bereitwillig den offiziellen Maßregelungen des DDR- Behörden unterordnete, in dem “ihr Augenmerk ... den Künstlern des Sozialistischen Realismus galt” (S.25), und damit den “inoffiziellen in der DDR lebenden Künstlern” gleichermaßen die Aufmerksamkeit versagte und “den ihm zukommenden Rang nicht zukommen ließ”. (ebenda)Auch wenn am Ende die unbeachteten Künstler diese Herabwürdigungen großartig überstanden, war es in der für sie staatlich “vorgegebenen Wirklichkeit” (Hans-Jürgen Buderer, Manfred Fath) schwer auszuhalten. Das künstlerische “Ringen um jeden Bildzentimeter” (S.25) schärfte gerade ihnen andererseits “deutlich” den “Blick auf die Ursachen und Folgen”.(S.30)
Doch wo die einen den Konsens wählten - der Partei zu gefallen - und sich gemeinhin auf das Jahr 1945 und der Zerstörung Deutschlands als den Sieg des neuen Menschen nach sowjetischen Muster, den „Sozialistischen Realismus“ eben, einschworen, sahen die anderen “eben nicht nur die Zertrümmerung Dresdens, sondern überhaupt das Ende einer Epoche” (S. 37). Dieser Blick - vom Ende her – verschaffte vor allem jenen, die “nie auf DDR-Line ausgerichtet” (über Max Uhlig, auf den sich der Buchtitel bezieht, S. 111)waren, die innere Freiheit, ein genauer “Betrachter durchaus .... seiner alltäglichen Lebenswelt” (Hans-Jürgen Buderer, Manfred Fath) zu sein. Dieter Hoffmann nennt beispielgebend dafür den bereits oben erwähnten Maler Hubertus Giebe, der zu DDR-Zeiten in Dresden“ wiederum ironisiert diese falsch-florentinische Akademie-Kuppel, die ihm täglich vor Augen führt, wie unerreichbar das wahre Florenz für die DDR-Bürger ... ist”. (S. 41).
Natürlich geht es vor allem um Malerei, auch wenn Kunstwenden noch nie ohne eine aufrechte Haltung des Künstlers auch errungen wurden. Die Schwierigkeit bei der Gestaltung der “chaotischen Überfülle, die nun einmal Gegenwart kennzeichnet” (Werner Haftmann), bringt Hoffmann bei der Dresdner Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts nun auf die erfindungsreiche Formel einer “Kunst als Abwehr”. Also doch nicht nur Malerei? Abgewehrt werden muss, was “die getanen Taten, sprich Bilder” (Dieter Hoffmann zu Hubertus Giebe, S. 76) verhindern will. Was war das - und - wie ging das?
Die beste Abwehr blieb hier auch für die von Hoffmann versammelten Maler den Blick auf die Hauptprobleme zu richten. Diese brachten für die Künstler mit der Lizenz zu öffentlichen Ausstellungen ihrer Arbeiten vor allem die Diskrepanz mit sich, der gewünschten Sichtweise der alleinigen Staatspartei, die auf die Sichtweise des Künstlers nur dann Rücksicht nahm, wenn der sich irgendwie mit ihrem “Weltbild” in Einklang bringen ließ. Dabei sollte die Realität derart gezeigt werden, wie es sich die Partei wünschte. Die Degradierung des Künstlers zum Schönfärber ist bei dieser Vorgehensweise offensichtlich und nicht akzeptierbar. Wer dieses Dilemma zu überstehen gedachte, bemühte sich sodann vor allem redlich um verwandte Geister. Diese fanden sich für die Dresdner bildenden Künstler in der Hauptsache im Expressionismus -hier vor allem die Maler der Brücke - u n din der großen Kunstwende der Neuen Sachlichkeit (empfohlen sei von Hans-Jürgen Buderer und Manfred Fath “Neue Sachlichkeit”, aus dem bereits zitiert wurde), vorzüglich beim bis 1969 in Dresden stilprägenden Otto Dix.
Wie das für die Folgezeit bis zur Auflösung der DDR für diese Künstler funktioniert hat, machen die von Dieter Hoefer und Gisbert Porstmann zusammengestellten und spannend zu lesenden Artikel Dieter Hoffmann plausibel – und es soll auch nur noch so viel verraten werden, dass das, was vor allem die „jungen Wilden der DDR“ wie Angela Hampel, Conny Schleime, Lutz Fleischer und Hubertus Giebein den ideologisch betonierten 1980er Jahren gegen allen Unwillen von oben durchsetzten, die eine „höchst lehrreiche“ Geschichte einer Anti-Muff-Revolte wie eine “windliebende Zaubermühle” (über Veit Hofmann, S. 231), auf dem Level höchster Kunstfertigkeit, ist. Der Raum, in dem wir existieren, wird über-deutlich, dehnt sich, er flieht, er sucht sozusagen das Weite. Die Ideologie wollte - ganz im Gegenteil -mit aller Kraft zurückhalten, wie wohl im Glauben, sie selbst sei das Rad der Geschichte. Doch das Rad der Geschichte ist eine Erfindung, es dreht sich im Kreis, während die Zeit ein Blutstrahl ins Offene ist.
Die vielen Beispiele, die uns hierfür Dieter Hoffmann auf seinen “Spaziergängen” vor Augen führt, sind insgesamt auch nach mehr als fünfzig Jahren seit Erscheinen des ersten Artikels, “so lehrreich wie das Vorzeigen des Schönen.” (über Josef Hegenbart, Ernst Hassebrauk und Albert Wiegand, S. 117). Der Band “Trauerweidengepeischt” sei, wie der Roman, “Der Turm” von Uwe Tellkamp, zur Einstimmung auf Dresden und fürSightseeing-Touren durch Dresden wärmstens empfohlen.
Dazu gleichfalls empfohlen Dieter Hoffmanns, ich will sagen besten seiner Lyrik-Bände, "Gedichte aus der Augustäischen DDR", allesamt poetische Momentaufnahmen und Reflexionen der Neuentdeckung seiner Geburtsstadt und angestammten Heimat, nun einer „HEIMAT-IM- UNTERWEGS“ (Karen Joisten), die ihm trotz der herrschenden Politik des politisch oktroyierten Selbstverhältnisses des Menschen dennoch wieder eine vertraute Heimat wurde. Hoffmanns Geheimnis – wie dies gelang – auf die Spur zu kommen, sind die detektivisch veranlagten Leser herzlich eingeladen.
Sein essayistisches Hoheitsgebiet bleibt das "Dresdner der Bildenden Künste", wobei er sich in den 1980er Jahren vor allen mit dem Werk des Malers und Zeichners Hubertus Giebe vertraut macht, den er überaus schätzt und bald im Regal der liebsten Maler ganz nach oben stellt. Von der Geschichte dieser achtsamen Entdeckung erzählt Hoffmann in seinem 2014 im Sandstein Verlag erschienenen Band “Dieter Hoffmann zu Hubertus Giebe”, für den er Texte der Jahre 1986 bis 2009 zusammenstellte.

Der Mensch erscheint im Phänomen 

Ach dass man wo wenig begreift, solange die Augen nur Abend wissen.
Nelly Sachs

Auch dieser Band, “Dieter Hoffmann zu Hubertus Giebe”, ist Quintessenz, will sagen: vulkanisierte Analyse des “komplexen Phänomens” (Werner Haftmann), das der Künstler ist (als Vertreter e i n e s Menschentyps). Vom Maler und Zeichner Hubertus Giebe nun gibt es, schreibt Hoffmann, “grausame Bilder grausamer Geschehnisse – von Inquisition, Faschismus, Stalinismus. Dix grüßt aus den Katakomben. Der gegen den Moloch anmalende Giebe … distanziert sich im Bildgerüst, denn nicht zufällig hatte er mit Zeichnen begonnen.“ (S. 20)
Und weiter: „Giebe schätzt das Menschliche, wo es nicht das Allzumenschliche ist, sondern- das Humane. Das geht durch das ganze Werk.“ (S.21) Und: „Hubertus Giebe ist auch ein homo politicus, in seiner Generation unter den deutschen Künstlern Ost und West, wenn man noch so sagen kann, sicher der bedeutendste ‚politische‘ Maler“. (S.120)
„Lieber schreibe ich über Einen viel als über Viele etwas“, schreibt Dieter Hoffmann in seinem Vorwort (S.6f). Er hat – nicht als Einziger aus kritischer Hingabe - viel über Hubertus Giebe geschrieben. Allesamt sind es Versuche, die Quintessenz aus Werk, Künstler und schöpferischen Anlass zu zeigen. Quasi „die Bilder als aufgebrochene Schädeldecken“ (S.49), “getane Taten“ (S.67) mündend- Eugène Delacroix‘ zitierend -in einem „Fest für das Auge“ (S.97).
Die Zusammenhänge dabei führt Dieter Hoffmann in glänzenden Überleitungen aus und alles klar: das Auge will sehen, weil es auf die Sprünge helfen will. Es will dahin, wo es hell ist und dass vor allem, damit aus dem Menschen, dem es diese guten Dienste tut, schließlich ein heller Kopf wird, der wirklich sehen – womöglich kausal sehen - kann. Ob er das auch will, geht das Auge nichts an. Die bildende Kunst – das Bildermachen – steht im Dienst am Auge. Und immer wieder stellt Dieter Hofmann Hubertus Giebe als manischen Maler, Zeichner - und Leser und Kunstessayisten übrigens - dar. Das scheint ihm wichtig und er behält offensichtlich recht.
Auch was letztlich alles zu diesem Dienst gehört, beschreibt Dieter Hoffmann im Fall des Laudiertenausführlich. So gehören zu den verzahnt zu sehenden Grundlagen gleichermaßen das Handwerk, vom anatomischen Zeichnen bis zum „Verwirklichungsort“ (Werner Haftmann) des Gemäldes, eine bestimmte Tradition, da „ohne Erbe keine Identität“(Johannes Bobrowski) ist, und nicht zuletzt ein fundiertes kunstgeschichtliches Wissen. Zu wirklicher Größe führt natürlich der eigene Weg [Stil] und den hat der Maler nun einmal zu entdecken.
Das ist soweit klar. Bei Hubertus Giebe drängt Dieter Hoffmann nun auf ein wesentlich dichteres Gewebe: neben Handwerk, Tradition und Stil, kommt des Malers persönliches Ansinnen, mit seiner „Kunst…die Erinnerung wachzuhalten“ (S.80). Gemeint sind hier die weitreichenden Erinnerungen an die „Bloodlands“ (Timothy Snyder) von Hitler und Stalin und ihre Folgen: der Kalte Krieg, die DDR und Osteuropa.
Nichts kommt von ungefähr, so habe der Maler Hubertus Giebe„die Hitler-Greul … nicht am eigenen Leibe erlebt, aber ihre Folgen“ (S.75). Dazu gehört vor allem der frühe Tod des Vaters: er war bis Anfang 1950 in einem sowjetischen Lager inhaftiert. In einem, eines der Hauptwerke Giebes, das er auch „Das Lager“ nennt, treten die traumatisierenden Zeichen der Gegen-Menschen und deren Produktion lichtlosen Licht mit bannender, dechiffrierender Klarheit hervor.
Über das Thema Konsens, „konspirative Disziplin“ (Peter Weiss) als modernes Trauma, dachte auch der Rezensent nach, als er das „grausamen Bild ‚Der Schmaus‘“ (S.30) betrachtete.Andernorts, sogar in der Neuen Nationalgalerie Berlin, dann ebenfalls die „Gekreuzten Männer“, die „wie zwei gekreuzte Klingen, wie zwei Geschosse (die aneinander vorbeigehen, und beide dennoch tief verwunden)“ (S.28).Dieter Hoffmann schreibt in schöner klarer Sprache. Seinen Stil hat er früh gefunden und ausbauen können. Als Kunstkritiker gibt er seine Bildbetrachtungen in inspirierenden, nachvollziehbaren Bildern zurück. Eine angenehme Seltenheit.
Jeder hat ein Geheimnis – Giebe selbst auch. Dieter Hoffmann zu Hubertus Giebe (S.30)
Als „balladesk“ und von ungeheurer Schönheit geprägt bezeichnet Dieter Hoffmann das Aquarellwerk sowie das zeichnerische Werk des entdeckten Malers.Und es ist auch nicht nur ein anderer Ausdruck für das „gefilterte Entsetzen“ in den Bildern [auch] über die „Grausamkeit der modernen Welt“ (S.27). Vieles führt bei Hubertus Giebe über die Literatur: er „liest süchtig, liebt Dichtung, er lässt sich intellektuell und emotional anregen, aber er ist ihr nicht hörig.“ (S.25)
Nadeshda und Ossip Mandelstam, Anna Achmatowa, Joseph Brodsky, Joseph Roth, Arthur Koestler, Peter Weiss, insgesamt eine lange Namensreihe, und immer wieder zu Albert Camus, allesamt Dichter der Freiheit wie der „Hochzeit des Lichts“ (Albert Camus).Der Begriff der Freiheit – nie Angst vor Freiheit (!) – ist verständlicherweise für den Maler Giebe von elementarer Bedeutung.
Und last but not least thematisiert auch Dieter Hoffmann in seinen Texten zu Hubertus Giebe die „Verteidigung der Freiheit“ (Albert Camus), aber nie die Angst vor der Freiheit! Der Freiheiten sind freilich so viele wie ihre Formen: die bürgerliche Freiheit nannte Camus eine „Schaukel“ (Albert Camus, Brot und Freiheit, Ansprache vom 10. Mai 1953 an der Arbeitsbörse von St. Étienne).
Für die DDR, in die der Maler Giebe geboren wurde und hineinwuchs, galt das wenige klare aber geflügelte Wort: „Freiheit, das ist die Einsicht in die Notwendigkeit.“ Von der Analyse des Zusammenhangs und welche Notwendigkeit denn gemeint ist, einmal abgesehen, wurde selbst dieser reduzierende Ausdruck mit der Zeit noch weiter reduziert, bis die Floskel von der „Einsicht in die Notwendigkeit“ übrigblieb.
Und da Kritik in der DDR so gut wie nicht möglich war, es dafür aber eine verminte Grenze mit zu Scharfschützen gemachten Grundwehrsoldaten gab, bei der es vor allem darum ging, die eigene gefangen gehaltene Bevölkerung davon abzuhalten, doch noch ein Schlupfloch in die Freiheit zu finden, ist es wenig verwunderlich, dass es in diesem Land zeitweise die höchste Selbstmordrate weltweit gegeben hat.
Und schließlich, so Dieter Hoffmann, male auch Hubertus Giebe soviel „den Tod, weil er das Leben liebt“ (S.81) Der Künstler hat im Auge die erzählende Welt, die den darin erscheinenden Menschen, als einen „Rebus“ (S.29),den auseinanderschachteln Aufgabe des Künstlers ist.



Dieter Hoffmann. Trauerweidengepeitscht. Spaziergänge durch die Dresdner Kunst des 20. Jahrhunderts. Verlag der Kunst Dresden, 323 Seiten, 2014. ISBN 978-3-86530-203-8. 29 €.
Dieter Hoffmann zu Hubertus Giebe. Sandstein Verlag Dresden, 141Seiten, 2014. ISBN 978-3-95498-153-3 18 €.
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