Donnerstag, 30. Januar 2020

Gestorben: Zum Tod von Oliver Mertins




                                                                                           




O Sommersonne
Wir sind Deine Sänger
vom Morgenlied...
Die Sonne wird brennen...
Säe die Liebe
Steh auf, Sommersonne
Wir sind Deine Sänger



aus: Coro da primavera von José Alfonso
(eines der Lieblingslieder  von O.M.)
                                                 

Am 15. Januar 2020 starb der 1964 in Westberlin geborene Dichter Oliver Mertins
nach langer schwerer Krankheit in Berlin-Lankwitz.
"Oliver litt an Multipler Sklerose in Ihrer schlimmsten Form, ständig fortschreitende. Ende der Neunziger hatte er schon Anfälle, die unerkannt blieben, nicht diagnostiziert. Auf unserer ersten Reise nach Portugal 2001, die wir unternahmen, um die postoperativen Traumata von Schaganeh [Mertins Tochter] zu lindern, verschlimmert sich die Symptome Olivers. Das liegt innerhalb des gewöhnlichen Verlaufs. Seelischer Stress beschleunigt den Verlauf", schrieb der wohl engste Vertraute Bernd "Bernardo" Markowsky am 29. Januar 2020 aus Portugal. Und: "Oliver starb in einem Pflegeheim in Berlin-Lankwitz, nicht in Vila Nova de Gaia. Er kehrte 2005 [von Portugal] nach Deutschland zurück, da er zunehmend kränker wurde. Nach ausgiebigen Untersuchungen wurde Multiple Sklerose in schwerster Form diagnostiziert, in ihrer schlimmsten, ständig fortschreitenden und den Körper vernichtenden Form. Ich habe ihn 2005 in Berlin besucht, danach haben Teresa und ich ihn nach Portugal eingeladen, wo er zwei Mal für je ein halbes Jahr bei uns lebte. Er wurde all die Jahre von seinem Freund Markus Ziegler betreut, bis er schließlich, permanent bettlägrig und ständiger Pflege bedürftig, ins Pflegeheim Lankwitz kam." Bernd Markowsky ist ein erstklassiger vielreisender Fotograf mit herausragenden Reportagen u.a. in der taz. Außerdem ist er ein begnadeter Klimaktivist und Präsident des in Portugal sehr erfolgreich die Wiederaufforstung durch Monokultur erstickter Böden voranbringenden  Movimento Gaio. Last but not  least verfasste er auch das unter der Anzeige folgende "Kaddisch für Oliver".
An Oliver Mertins habe ich eine Erinnerung aus glücklicheren Tagen. Mitte der 1980er  Jahre tauchte im Café Mistral, an der U-Bahn-Station Gneisenaustraße, einer Gruppe talentierter wie motivierter "Jungdichter" auf, zu der unter anderem auch Sherko Fatah gehörte. Ich erinnere mich an viele Abende, die meisten in angenehmster Weise und gegenseitiger Inspiration verliefen.  Das Foto, das Oliver auf dieser Seite zeigt
https://www.amazon.de/Adam-am-Kalkbaum-Oliver-Mertins-ebook/dp/B004YFET2Wstammt aus jener "geilen" Zeit im  Café Mistral. Es wurde von seinem  engsten Vertrauten Bernd Markowsky aufgenommen. (Nachtrag 30.04. 2021 über diesen Link ist hier ein wahrer poetischer Goldschatz aufs kindle zu laden: Adam am Kalkbaum von Oliver Mertin.) Dieser Link führt ebenfalls zu einer wunderbaren Auswahl von Oliver Mertins Schaffenhttps://www.lyrikline.org/de/gedichte/so-615 (Stand 30.04.2012)

!Tome cuidado, Oliver, Deus inspire sua alma! Oder stehe noch einmal auf, Oliver, und dirigiere noch einmal Gracia a la Vida von Violeta Parra!




OLIVER MERTINS *04. November 1964 in Berlin †15. Januar 2020 in Berlin-Lankwitz

Foto: Bernd Markowsky


Kaddisch für Oliver Mertins

Der Dichter starb, wir haben die Nachricht erhalten, der Dichter und Freund Oliver Mertins ist nach langer Krankheit, die ihm seiner besten Fähigkeiten geraubt hat, gestorben. Sein Liebe zum Leben aber und seine Freundlichkeit, die seinen Wesenskern ausmachten, blieben bis zum Ende unangetastet, er ist friedlich gestorben. Der Tod kommt mit der Wiege. Der Tod vereint. Jeder, der ihn gekannt hat, wird einen anderen Oli, Oliver, Oliveira, wie er in Portugal genannt wurde, erinnern. Wer seine Texte liest, begegnet einem komplexen poetischen Universum, dessen Urknall die Liebe zu einer ungewöhnlich schönen und stolzen Frau war und markiert ist von seinen Reisen ins Offene, Fremde. Er war furchtlos in jeder Hinsicht. Nur einmal sah ich ihn von einer Angst befallen, die ihn für eine halbe Stunde lähmte, in Paris, auf der Rückkehr von unserer ersten Reise nach Portugal, als das Leben seiner Tochter Schaganeh unmittelbar bedroht war. Er war ein Troubadour, dem sich der Weg ins Labyrinth der Ferne geöffnet hatte, das ihn verwandelt, aber unverletzt zurückschleuderte. So kam er auf uns, weisend und verweisend. Beharrlich wies er Wege ins Weite, schüttete das Füllhorn seiner Erinnerungen aus, wenn wir uns ihm nur zuwandten. Er öffnete Wege in uns und heiligte sie durch das Lied. In seinem letzten Text, in Portugal geschrieben, heißt es:
Der Raum ist eng geworden, sagen sie. Dabei ist er weiter, als ich erinnere. Aber die gehen können, das sind wenige. Im Guten und im Bösen gehen. Deshalb ist er weit. Deshalb droht er verlorenzugehen. Weil ihn niemand mehr findet. Aber er wartet, für immer, für jeden mit Füßen aus Augen und Fäusten. Und töten sie den Adler, bringt ihn wieder der Traum. Und töten sie den Traum, bringt ihn wieder der Adler. Du hast das Wort gerufen und bist gegangen. Bis hierher. Dem älteren Traum nach. Du hast am Echo gelernt, zu gehen gegen das Wort. Der Traum bringt den Adler. Der Adler füttert in seinen Jungen den Traum. Der Traum bringt den Adler.“
Jede meiner Reisen, auf denen ich zunächst seinen Spuren folgte, um mich später ins Labyrinth des Hungers vorzuwagen, und von denen ich ein umfangreiches fotografisches Werk mitbrachte, habe ich ihm zu verdanken. In einer jener langen Nächte in der Veranda unserer Wohnung in Vila Nova de Gaia, von der aus er Vögel, Fledermäuse, und Nachtfalter beobachtete, sagte er unvermittelt:
„Wenn sie irgendwann anfangen, Unsinn über mich als Dichter zu reden, sag ihnen, daß mich der Wald zum Dichter gemacht hat. Der Wald!“
„Schwester Mond. Ihr Nymphentanz im Drachensee. Den Tee also in die Hand, den `Drachen Phönix´, soviele Kugeln grüner Teeblätter, gerollt jeweils Blatt für Blatt um eine Jasminblüte, und beim dritten Aufguß ab durch die Hölle, dem Licht entgegen, wie so oft seit 21 Jahren –
Wir sind hier schon später…“
Ja, ein gelebtes und ein erlittenes Leben später, die einander durchdrangen.
Von meinem Leben, seinen Träumen unterm pflaumenblauen Sommer blieb bloß mein Bart aus Rauch und die zerbrochene Lende, kaum mehr die Taubentöne, wenn Tage im nahen Meer aufschäumen, von Fallwinden geblasen auf dem Rohrwind des Abends, der lila Staub der Lavendelfelder, ein mundvoll dürres Laub und weiße Schreie von Felsenhähnen unter der Stundenbrandung, nur der Durst nach Dir, ein Auge in mir, lidlos, unstillbar…“ (Was Claude erzählt> incubus versus phoinix)

Wir werden ihm, dem Dichter Oliver Mertins, den wir immer vermissen, in den Bergen Portugals einen Hain aus Bergahorn pflanzen, zusammen mit Freiwilligen die ihn nicht kannten, aber wie er Lieder, Wald und das Leben lieben.

Porto, 30. Januar 2020, Teresa und Bernd Markowsky












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2 Kommentare:

  1. War mir bisher unbekannt. Habe das Netz durchstöbert. Welch großartige Lyrik. Welch zutiefst beeindruckende Sprache. Leider völlig unterbewertet.

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  2. ja, großartige texte.

    NICHTS IST ABGEGOLTEN

    Unsere Zerrissenheit ist namenlos. Die Ordnung unserer Ketten ist stabil und tödlich. Es sind Maschinendemokraten, welche die Gerechten erniedrigen mit ihrem triumphierenden Zahnräderlächeln. Es ist ihre Proklamation der Gleichheit der Lüge die jene erniedrigt bis ins Mark, das ihnen aus den Gliedern tropft in die geschundene Erde. Ohne Zweifel zählten auch wir uns zu ihnen, wären nicht die Ziffern enteignet im Namen der Freiheit der Schieber. Alles ist uns abgenommen und dafür werden Kredite eingeräumt, während der Preis für unseren Kopf täglich sinkt und wir unsere Haut zu Markte tragen wie die Gardine die noch unser Elend verbarg. Schon trinkt die Nacht von unseren Händen mit Fledermausdurst. Die aufständische Ordnung aber trägt die Namen der Rettung, ihr Fürst trägt auf seinem Banner die Zeichen der Wiederversöhnung, die geflügelte Schlange, den Blitz, die langsame Explosion der Magnolie. O duftende Trümmer, Aussaat der Wunder, nichts ist abgegolten!
    Schlagen wir eine phantastisch anmutende Trasse in unsere Resignation, einen Luftweg ins Unwägbare, die Fährte der uns zu folgen bestimmt sei, ist der immer nächste Schritt in die Brüderlichkeit. Folgen wir ihnen, dem Aufruhr im Atem, der Turbulenz in den Gedärmen, wenn die grinsenden Makler und Krauter uns locken zur Kommunion an Schalen aus Blut und zuckendem Blei.
    Bestücken wir die Bettler mit unserem überzähligen Gut und queren mit einer unbeugsamen Angst im Gepäck die Mastenwälder aus den Armen der Toten. Schleifen wir die Bastille unseres ohnmächtigen Rechts. Erst der Horizont der Hände und die weiten Länder der Haut im Licht, bevor sich der Mund um ein Traubenwort rundet, das zuvor nur eine weitere Versuchung der Schächer wäre. Halten wir bis dahin en Traum zwischen den Zähnen. Und selbst dann noch:
    Nichts ist abgegolten!

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