Samstag, 10. August 2013

Novelle: Sascha oder Die Bibel. Die härteste Schachnovelle der Welt.

Sacha oder Die Bibel
- die härteste Schachnovelle der Welt -
von
Axel Reitel

Das Sterben ist nur eine Folge
unserer Art zu leben
Robert Musili


[...] Das Telefon klingelte.
Der Genosse[geschwärzt] 
nahm den Hörer ab und sagte: 
"Ja, hier Kindervernichtungslager H****!"
                                                                                                                                                                                     gez. IM "Michael""ii


Thüringen zwischen Werra, Unstrut und Saale. Zwischen Unstrut und Saale liegt das Thüringer Becken. Zwischen Unstrut und Werra der Thüringer Wald. Westlich des Thüringer Beckens, zwischen Bad Langensalza und Erfurt, gelegen an der Hauptstraße 249, liegt Gräfentonna. Durch den Thüringer Wald führt die Fernverkehrsstraße Nummer 4 von Eisfeld nach Nordhausen. Zwischen Arnstadt und Erfurt, auf dieser Strecke, kommt Ichtershausen auf halbem Weg. Ichtershausen und Gräfentonna, zwei Kleinstädte in Urlauberlandschaft. Oberhof. Schwarzatal. Tambach-Dietharz. Großer Buchenberg. Schlösser und Museen gehören zum Repertoire im Ausflugsangebot der Urlauberheime und Kinder- und Jugenderholungszentren.

Nun sehe ich sie, die Kinder, wie sie fröhlich die Treppen zum Altertum steigen. Hinter den Kindern kommend die Leiterin des Ferienlagers, wie die Zentren in der Sprache hier heißen. Die beiden Jugendgefängnisse Thüringens befinden sich in unseren beiden Kleinstädten, in Ichtershausen und in Gräfentonna. Nach Ichtershausen bin ich nicht gekommen. Die Ankunft dort kann ich nicht beschreiben.

Wenn du in Gräfentonna ankommst, steigst du zum Gefängnis eine schmale Gasse hinauf. Die schmale Gasse heißt Braugasse. Am oberen Ende der schmalen Braugasse befindet sich, hinter einem Schiebetor, der Schleuse, das Gefängnis. Das Gefängnis war einst eine Burg. In der Geschichte überliefert als Kettenburg. Und noch immer verschwindet in der Kettenburg jeder Fortschritt zurück in die Geschichte. Das Gefängnis in der Braugasse teilt sich auf in Kinder und Männer. Kinder, rufen die volljährigen Gefangenen die minderjährigen Gefangenen. Männer, rufen die minderjährigen Gefangenen die volljährigen Gefangenen. Am Tag unterscheiden sich die Kinder von den Männern einem entfernt stehenden Beobachter nicht. Gemeinsam arbeiten sie am Neubau des alten Hauses. Sie schlagen sich um die Brotration oder um ein gestohlenes Frauenbild. Sie heben sich über die Gefängnismauer, einmal am Tag das Bestehen der freien Welt zu prüfen. Im Winter gefriert dem Heizer die Kohle. Im Sommer stinken die Männer und die Kinder nach Dreck und Schweiß. Gemeinsam tragen sie die einheitlich blaue grobe Tuchkleidung. Wachtmeister haben wenig zu tun. Streit gibt es genug. Denn es geht allen gleich.


Der Prinzenhof der Kettenburg in Gräfentonna*

Auf dem Hof, in der Betriebszeit der Burg der Prinzenhof, stehen die jugendlichen Gefangenen wie die erwachsenen Gefangenen in Reih und Glied und reagieren zackig auf jeden Befehl. Bauarbeiten an der Innenmauer der Burg, dort wird eine Garage gebaut; Außenkommandos fahren in das Schreibmaschinenwerk VEB Optima nach Erfurt; es gibt eine Schule für die jugendlichen Gefangenen; viele sind ab der allgemeinen Strafmündigkeit, im 14. Lebensjahr, auch gleich straffällig geworden; blieben vorher öfter in  der Schule sitzen und schlagen sich nun mit Wiederholungen der Schulklassen 6 bis 10 herum. Dann die Summiarbeiten, die unterste Stufe. Auf der befanden sich in der Jugendhaus-Hierarchie die sogenannten Primitivstrukturierten, so wurden sie von den Wärtern genannt. Vor den Fenstern dieser Werkräume waren immer Sichtblenden. Nie drang ein Laut aus den Werkräumen heraus - als würden sich diese Jugendgefangenen während ihres Arbeitstages nicht einmal getrauen zu atmen. Wir hörten nur, dass manche in Waisenhäusern aufgewachsen seien, einige seien adoptiert wurden, doch hätten sich ihre neuen Eltern nie fürsorglich um sie gekümmert. Wie belastet mussten diese Kinder in Geist und Seele sein. Ich habe in den 49 Tagen, die ich an diesem Ort des ideologischen Drills und der dunklen Nischen gelebt habe, nie einen von ihnen zu Gesicht bekommen und ich habe ihre Anwesenheit, weil ich mich nicht noch mehr Belastungen aussetzen wollte, täglich verdrängt. O, ihr ins Dunkel gestoßenen Prinzen von Thüringen, wie viele schwarze Stunden hattet ihr zu erdulden!iii

Einmal, hörte ich, aber vielleicht geschah das auch in Ichterhausen, in Dessau, in Halle, in Raßnitz, eben in einem anderen Jugendhaus, dass bei geringen Vergehen Jugendliche von den Genossen Wärter mit Schlagstöcken geschlagen werden. Einmal, als einige beim Rauchen im Schlafraum erwischt wurden, wurde jeder einzeln im Nachthemd in einem dunklen Raum geholt. Dort mussten sie sich bücken und bekamen Schläge mit dem Schlagstock auf das „Hinterteil“. Wie widerlich kann der Mensch sein! Ein Genosse Wärter hat Jugendliche auf sein Dienstzimmer geholt. Dort hatten sie Liegestütze mit den Kinn über der Fußspitze des Genossen Wärter auszuführen. Ein anderer Jugendlicher wurde im Erzieherzimmer von drei Genossen Wärter mit Schlagstöcken, Koppel und blanken Fäusten geschlagen und nachher in Absonderung gesteckt, bis die Verletzungen ausgeheilt waren. Einmal hätte sich ein Jugendlicher empört: „Wir agitieren immer, es wäre eine Schande, im Kapitalismus Kinder einzusperren und wir machen doch das gleiche. Man braucht doch nur herum zu gucken, wer alles im Jugendhaus sitzt.“ "Das war im Jahr 1975 gewesen", erzählte der Altarbeiter, dessen Baubrigade ich zugeordnete war. "Dieser Jugendliche, das war ich. „Ich fand das alles empörend und später dreht ich durch. Das tat mir innerlich gut. Der Genosse Wärter besuchte einige Wochen das Krankenhaus. Jetzt habe ich noch zwei Jahre vor mir.“ Die älteren Strafgefangenen, Altstrafer oder Altarbeiter, die Männer, nahmen die Jugendlichen gegen die Genossen Wärter in Schutz. Die Genossen Wärter zeigten vor den Altarbeitern Respekt. Die Altarbeitern hatten viele Berufe. Fast jeder Genossen wollte von den Altarbeitern eine Sonderleistung: der Ausbau der privaten Garage, der Bau der Datsche, die Antenne fürs Fernsehen. Den Jugendlichen, die den Brigaden der Männer zugeordnet waren, ging es gut. Die Abende sahen anders aus. 

Abends werden die Kinder von den Männern getrennt. Die Männer haben ihren Block Die Kinder haben ihren Block. Der Abend heißt Waschen und Zählung. Die Zählung passiert wie im Sportunterricht, l, 2, 3, 4 ... 11 durch. Der Block der Kinder ist vier Stockwerke hoch. Jedes Stockwerk heißt Erziehungsbereich. Im Sprachgebrauch EB. Jeder EB hat seinen Erzieher. Unser Erzieher heißt Handschuh. Oberleutnant Handschuh. Das ist kein Spitzname. Oberleutnant Handschuh hält die Zählung ab. Neben Handschuh stehen immer zwei Wachtmeister.


Erziehungsbereich mit Flur und abgehenden Zellen**
                                                             
Ein Wachtmeister zur Linken von Handschuh, ein Wachtmeister zur Rechten von Handschuh. Die Wachtmeister sind nicht immer die gleichen. Manche Wachtmeister sind nervös. Sie klimpern mit den Schlüsseln, ratschen mit Eisenstangen in den Gitterstäben entlang, und manche dreschen hart mit Schlüsseln oder Stangen gegen die Zellentüren, als Wecksignal. Ein Wachtmeister hat sich eine Trillerpfeife gekauft, die Aufmerksamkeit der Kinder zu erregen, ein anderer Wachtmeister eignet sich die Kunst der Grimasse an. Wieder ein anderer Wachtmeister die Kunst der Chamäleons. Darum bekommen die Wachtmeister Spitznamen. Sie sind nicht immer die gleichen. Handschuh ist immer der gleiche. Trotzdem gibt es Witze über Handschuh.

Ein Stammwitz ist zum Beispiel dieser: Auf einem Parteiball verbeugt sich Handschuh vor der Frau eines Genossen und sagt: „Frau Schmidt, du siehst heute wunderschön aus." - "Es tut mir Leid", antwortet Frau Schmidt, "aber dieses Kompliment, Genösse, kann ich dir nicht machen." - "Dann mach's wie ich", sagt darauf  Handschuh, "Lüge, Genossin.“
Witze werden im Gefängnis gehandelt wie Wein, gehütet wie Brot. Nach der Zählung geht Handschuh mit den Wachtmeistern fort. Die Wachtmeister gehen ins „Casino". Handschuh geht nach Hause. Das „Casino" ist ein kleiner Aufenthaltsraum, in dem die Wachtmeister ihre „Bereitschaft" totschlagen, mit Kartenspielen und Würfeln.  Das Lieblingsspiel der Genossen Wachtmeister ist Doppelkopf. Sie spielen um Geld. Geld gibt es für die Jugendlichen nicht. Für einen Monat Arbeit erhält jeder Gefangenen Gutscheine. Gefangene spielen um Zigaretten oder Sonstiges. Viele der Genossen Wärter wohnen nicht weit vom Jugendhaus entfernt.
Handschuh wohnt in Bad Langensalza.Das ist zehn Kilometer von unseren Zellen entfernt. Wenn man den Klang ihrer Schlüssel nicht mehr hört, ist Handschuh in seinem Ledermantel unterwegs, die Wachtmeister haben mit dem Spiel begonnen. Dann sind wir Kinder allein wie Schatten. Dann heißt der Abend Tabakstaub und Zeitungspapier zur Hand nehmen. Rauchen. Geschichten erzählen. Schach spielen. In unseren langen weißen Nachthemden auf dem Korridor spazieren. Besuche halten. Kein Kind ist allein. Ein Kamerad heißt hier Spanner. Von Gespann. Spanner teilen alles. Jedes Kind sucht sich seinen Kameraden. Nur einmal erlebte ich, daß ein Kind allein blieb: Sascha. Sascha war fünfzehn. Ein dünnes, kränkelndes Kind mit hellen Augen. Martin kümmerte sich einmal um Sascha. Aber Martin war Fritz sein Spanner. Deshalb wurde Fritz sehr wütend.

Fritz ist unser Erziehungsbereichsältester, ist siebzehn, brutal, er kennt die Welt der Gefängnisse. Der Aufenthalt in Gräfentonna ist sein vierter Gefängnisaufenthalt nach Dessau, Ichtershausen und Torgau.
In Ichtershausen, erzählt Fritz, gibt es Tunten, die andere Gefangene, die sich nicht eingliedern können, zwangsvergewaltigen. Wer als Kind in den Gefängnissen zu Hause ist, ohne zu Haus sein zu können, lernt, die Welt unter den Augen des Bizeps zu sehen. Was Tunten sind, erzählte mir Peter. Peter ist mein Spanner. Männliche Nutten, sagt Peter, die beißen dir für Geld den Schwanz ab.

Die Aufgabe des Erziehungsbereichsältesten ist, für Ruhe, Ordnung und Sauberkeit zu sorgen. Wenn er diese Aufgabe erfüllt, erhält er die einzige Freiheit, die die Gefängnisdirektionen ihren Gefangenen bieten, die Freiheit des Privilegs, das sich der Gefangene durch Loyalität gegenüber dem Gefängnispersonal verdienen muss.

Ein Erziehungsbereichsältester ist, wenn er seiner Aufgabe mit Konsequenz nachgeht, König in seinem Reich. Er kann sich jeden Freund wählen. Seine Wahl ist eine Auszeichnung. Martin ist ein faules Kind. Aber er hat keine Angst, daß ihm, wenn er aus Faulheit die Arbeitsnorm nicht erreicht, Ordnungsübungen drohen: Toiletten reinigen mit   Zahnbürste, Gefängnishof kehren. Mannschaftsschuhputzen. Denn Martin dient Fritz mit seinem Körper. Über Fritz kommt niemand an Martin heran. Aber als Sascha auf unseren EB kam, nahm Martin seinen Waschplatz neben Sascha ein, stand während der Zählung neben ihm, schaffte seine Arbeitsnorm über die hundert Prozent und gab Sascha vom Überschuss ab.
Während wir aßen, aß Martin nichts, Martin schob seinen Teller Suppe Sascha hin, der ihn gierig nahm. All das führte dazu, daß die nächste Exekution eine beschlossen Sache war.

Schau nur den Mond an, noch ein paar Tage und er ist voll, kann ja was werden, so wie Fritz kocht", sagte Peter, als wir uns beim Schachspielen über Martin und Sascha unterhielten.
Der Mond hat seine Besonderheiten in der Braugasse. „Zum Viertelmond", sagt Peter, der alle Vorkommnisse aus Kreisläufen kommend sieht, „sind Kinder wie Fritz noch Kameraden. Wenn du nur deine Arbeitsnorm schaffst, kommst du immer davon. Zum Halbmond sind sie Banditen, aber gutmütig. Sie klauen den Wachtmeistern Zigaretten und Schokolade, manches davon geben sie ab. Zum Vollmond aber werden sie, was sie sind: Verbrecher. Alle Dummheiten müssen sie umsetzen.
Ich habe bald ein ganzes Jahr die Abstände ihrer Wandlungen beobachtet, alles stimmt." Dieses Spiel, das nun nach dem Turnus des Mondes ausgerichtet ist, gibt unserem Gefängnis etwas von der Bedeutung einer Festlichkeit des Mittelalters. Im Mittelalter, lernte ich aus den Büchern, berauschten sich die Völker an Hinrichtungen und öffentlicher Folter, die Damen ließen sich beim Zuschauen begatten. Wenn die Wachtmeister in den Casinos würfeln, wenn die Erzieher mit ihren Frauen schlafen, ist Fritz der oberste Herr. Er wählt sich Adjutanten, die seine Sklaven sind. Dann heißen die Abende Blut.

Drei Sätze kenne ich über den Mond. Der erste Satz heißt: Der Mond ist eine platte Wunschbüchse. Der zunehmende und der Viertelmond, der Halb- und der Dreiviertelmond sind platte Wunschbüchsen. Einige werden ausgewählt, ihre Geschichte, weshalb sie ins Gefängnis gekommen sind, zu erzählen. Nach diesen Geschichten hält Franz mit seinen Adjutanten Zwiesprache. Vorbereitet wird ein Gerichtsverhandlung. Es ist die gleiche Verhandlung, die der Gefangene schon einmal, bevor er hier ankam, über sich ergehen lassen musste und dass er, als er in einen Erziehungsbereich eingegliedert wurde, den anderen Gefangen peinlich genau erzählen musste. Nun würde sich also alles wiederholen. Die Verhandlung. Das Urteil. Aber der Erzähler wird noch einmal davonkommen. Vielleicht muss er Wasser saufen, bis er sich erbricht. Vielleicht wird ihm sein Körper mit Schuhcreme verziert. Vielleicht bekommt er Brusthufe: pro Monat der Verurteilung einen kräftigen Faustschlag gegen den Brustkorb. Wer nicht kräftig draufschlägt, erhält das gleiche Urteil, ohne Verhandlungsspiel.
Anderer Art sind die Exekutionen. Ihnen gehört der zweite Satz: Der Mond ist ein Teller blutiger Suppe. Wenn es Fritz aus Langeweile unerträglich wird, denkt er sich besondere Spiele aus. Als Fritz Martin mit Sascha sah, als er sah, daß Martin Sascha seine Schokolade brachte, ihn streichelte und auf den Mund küsste, war die nächste Exekution beschlossen.
Der dritte Satz über den Mond kommt von Oberleutnant Handschuh. Klaus und Mark haben über die Möglichkeit gestritten, ob der Mond nun eben doch nichts weiter ist als eben der Mond.
Eben", sagte Handschuh im Vorübergehen, „der Mond ist eben der Mond. Im Traum sehen wir manches Besondere, auch den Mond, aber das Besondere bringt nur das Besondere hervor. Unser Direktor träumt bestimmt auch nicht schlecht. Alter der Mond, nun, der Mond bleibt eben doch nur der Mond. Guten Tag."iv
Deshalb konnte Handschuh nicht sehen, daß der Mond an diesem Abend als Teller blutiger Suppe kam. Die Exekution bereitete Fritz über eine Woche vor. Jeden Abend kam er in Saschas Zelle.

Jeden Abend malte er einen dünnen schwarzen Strich an die Wand. Jeden Abend sah er Sascha nicht an, ging wortlos. Es ist die ungeheure Langsamkeit, mit der er sich in Bewegung setzt, die alles noch dunkler und voller Gefahr werden lässt. Martin schlug er die Schneidezähne aus, zwei Blutergüsse auf die Stirn. Martin hat Sascha erzählt, dass die nächste Exekution ihm gilt. Obwohl Sascha noch ein Kind war, lernte er schnell und gründlich die Gesetze der Gefängniswelt. Zu einem Wachtmeister oder zum Erzieher zu gehen, war ohne Gewinn. In den Jugendhäusern galt die Systematik der Selbsterziehung. Die Erziehung des Gefangenen durch sich selbst. Diese Systematik ist kompliziert und überfordert die ungeduldigen oder die nervösen Existenzen der Erzieher und Wachtmeister. Die Gefangenen üben die Erziehung hierarchisch aus. Ein Fritz löst den anderen ab.Wenige Erzieher haben Handschuhs Qualität. Aber jede Meldung ist ein Anschiss. Meldung aus Selbstschutz ist Anschiss aus Egozentrik. Der Anscheißer ist ein Denunziant. Dem Denunzianten gehört nichts als in die Fresse. Der Denunziant muß geprügelt werden, bis er die Sprache verliert.
Die Exekution nach Fritz ist einmalig brutal. Die Exekution durch die Belegschaft dauert eine kaum zu überstehende lange Zeit.

Sascha besaß einen Schatz, den er, unglaublich für uns, in unser Gefängnis gebracht hat. Sascha besaß eine Bibel. In diesem Buch laß Sascha jeden Abend. Die Bibel war Saschas Spanner. Diesem Buch vertraute er wohl alles an. Sascha versteckte die Bibel hinter einem losen Ziegel, unter seinem Bett.

Wie ist das mit Gott", fragte ich Sascha am siebenten Abend, „Fritz wird dir sehr weh tun." „Vielleicht kann er mir weh tun", antwortete Sascha, „aber Gott kann er nicht einmal kratzen." „Warum mußt du's auch mit Jungen treiben", sagte Peter, der alle Neuen mit Zigaretten versorgt, bis sie sich Tabak kaufen können.“ „Ich weiß nicht, ich will das alles nicht, das mit Martin nicht, wer ist schon Martin, ein armer Homo, vielleicht können sie mir weh tun, aber Gott nicht, Gott nicht." Dann sah Sascha mit wasserblauen Augen zum siebenten Strich an die Wand und weinte. Draußen fingen die Geräusche an. Es gab nichts mehr für uns zu tun. Wir gingen unsere Schachpartie beenden. Wir spielten die spanische Partie. „Immer deine Pferde", sage ich, als die Geräusche auf dem Korridor lauter werden. „Sie kommen", sagt Mark. Mark und Klaus stehen vor der Schlafzelle und rauchen. „So ein Dummkopf", sagen sie noch und meinen Sascha. „Paß doch auf, ich geb 'deinem Läufer eins drüber", sagt Peter. Aber ich kenne ihn. Immer gibt er zu früh an.
Mein Pferd", sage ich, „mein Pferd und Schach." An manchen Abenden ist der Korridor durch ein Gitter in zwei Hälften geteilt. Hinter dem Gitter steht Fritz mit einer Blechschüssel. In der Mitte der Kinder, ganz in die Stäbe gequetscht, hockt Martin. Er hält sein Nachthemd übern Bauch. Die Adjutanten drehen Sascha die Arme auf den Rücken. Silvo, der auf jeden Pfiff wie auf sein verabredetes Zeichen hört, rührt in eine, Teller Wasserfarbe rot. ,,Dein Pferd, blöder Gaul, du passt nicht auf, ich brenn' ihm eins drüber."
Brenn' ihm eins drüber, ich hab den Faden verloren." ,,Was ist das für ein Spiel. Will ich dir mal was sagen. Hauptbahnhof Leipzig also. Um mich herum eine Schlägerei. Polen und Deutsche.Keine Polizei. Noch lange nicht. Hab ich gegen einen Rumänen gespielt. Königsindisch. Siebzehn Stunden. Von zu Hause ausgerückt, Ich brauchte das Geld. Um hundert Mark also. Er: weiß."

Solche Geschichten kennt man. Die Welt unter den Augen des Bizeps. Gleich wird er dem Rumänen seine Uhr abnehmen. Dann die Brille vom Kopf schlagen. Davon leben wir. Peter, der Geschichten erfindet, um sich durch Originalität zu schützen. Martin, der sich aus Mädchen nichts macht, der seinen Wert in den täglichen Einnahmen und Vergünstigungen sieht. Fritz, der jetzt in die Blechschüssel pisst. Sascha, den Silvo von der anderen Seite aus an die Gitterstäbe quetscht, daß sich die Körperchen Saschas und Martins berühren, und dann Sascha die rote Farbsuppe und nachher den Urin aus der Schüssel saufen lässt.
Die Stimmen auf dem Korridor haben den Klang zertretener Trompeten. Unser Schachspiel wird oft unterbrochen, von den Anweisungen, die Fritz seinen Adjutanten gibt.

Dann der Mond. Die Gesichter des Mondes sind nicht an Orte gebunden. In unserer Zelle steht der Mond rotgelb. Einmal habe ich ein Ei aufgeschlagen. Darin war Dotter mit totem Küken gemischt. Rotgelb. Ein Ei. Untersuchungshaft Kassberg. Das ist ein Gefängnis in Sachsen. Oder es war ein Frühstück bei Madelaine. Ralf, Madelaine und ich. Wir saßen immer zusammen, wenn ich nach Rudolstadt gekommen war, um sie auf der Bühne die Tragödien der Liebe spielen zu sehen.

Ralf ist mein Bruder. Früher lebten wir in Chrieschwitz, einem kleinen Vorort im Vogtland, in einem hellen Haus mit Schlangentapeten. Diese Tapeten waren ein Mythos, und ich litt unter Schlafstörungen und Halluzinationen. Aber eines Tages tauschte Ralf seine Drittes-Reich-Briefmarkensammlung gegen einen Wolfshund ein. Ein stolz schreitendes Tier. Darum nannte Ralf den Hund Prinz.
Nach Chrieschwitz zogen meine Eltern, weil ich ein lungenkrankes Kind war. Hier erholte sich meine Lunge, als ich mit Prinz und Ralf durch den Schnee eines langen Winters die angrenzenden Hügel, hinter denen die Wälder in den Horizont wuchsen, erstürmte und für Stunden täglich die Anweisungen meiner Mutter vergaß, die verharrschten Wege nicht zu verlassen. Aber der Frühling kam und Prinz verschwand. Die Schlangentapeten, die ich nicht mehr beachtet habe, verdrehten meine Träume erneut in dumme Hexereien. Als Prinz zurückkam, kam er mit der Tollwut in den Augen und ums schäumige Maul. Als er mich nicht mehr erkannte, Ralf nicht und nicht die anderen Geschwister, als sein Fell nicht mehr aufhören wollte sich zu sträuben, warf mein Vater einen Strick um Prinz, und der Abdecker erschoß den Spielgefährten eines schönen Winters für eine Mark. Das war der Anfang vieler Abschiede. In den Tragödien sehe ich die alten Freunde lebend, und das Glück klopft in mir an.

Ja, es war ein Frühstück bei Madelaine. Unterm Hain, ein schmaler Weg, Treppen steigen vom Marktplatz zur Heidecksburg hinauf, von der Burg führt der Weg zum Maus 12 durch Buchen, Eichen und Tannen. Der Stadtlärm auch Rauch der Industrieschornsteine liegt unter uns, hinter dem Rauch eine weite Sicht. Ralf spielte Gitarre. Madelaine Violine ungarisch. Und meine Stimme erhob sich klar über der Stadt in unserer grünen Schwemme. 

Jetzt wird mir leicht

Das Dunkel weicht
aus unsrer warmen Scheune
Der Regen geht
Der Wind verweht
die schwarzen Regenträumeiiv

Die Schallplatte „Vogtländische Volksmusik" brachte Ralf Madelaine als Geschenk mit. Denn immer wollte Madelaine wissen wie die Mundart unserer Heimat ist. Dann pellte ich das Ei auf, und im Hintergrund lief dazu, gesprochen von Stefanie Hertel:

A Bauer kam auf Plaue rei, sei großer Gung woar aa dorbei - und weil se beide hungrig sei, da kehrn se in a Wirtshaus ei. Bestelln sich Butterbrot und Eier und muffeln wie de Widerkeier. Auf amol dud der Gung ne Aldn, e durchgeschnittnes Ei hiehaldn. - Guck, Vader, do ho iech entdeckt, deß in de Ei a Hienl steckt. - Im Himmelswilln, schreis ned so laud, deß ewwa goar dr Wird herschaud Friß ner fix nei, e es jemand sieht, sonst zahln mers Hienle aa noch miet“.vi

Wir haben schön gelacht. Ralf, Madelaine und ich. Madelaine, unsere Freundin, bei der wir auch manche Nacht so lagen, eine Kollegin meines Bruders am Stadttheater Rudolstadt. Dort ist mein Bruder als Schauspieler angestellt. Und dort spielt Madelaine die Ophelia und bringt das Publikum zum Weinen, wenn sie die Blumen aus der Luft zupft und mit dem Sterben beginnt. Ralf spielt nicht den Hamlet. Als er an einem politischen Liederabend des Ensembles Brechts „Vom Mitmensch" rezitierte:

Schon als ein Mann, die Monde zählend

Ihn herauszog wie an einem Stiel
Schrie er laut auf, als er, rot, elend
Und klein aus einem Weibe fiel.vii

brauchte er zwei Nächte dazu, die Politische Polizei davon zu überzeugen, daß er nicht selbst der Verfasser des Gedichtes ist. Aus Sicherheitsgründen aber, oder, wie es in deren Sprache heißt, auf Bewährung, wurden meinem Bruder Hauptrollen auf unbestimmte Zeit nicht mehr gegeben. So kam Ralf zur Rolle des Geistes von Hamlets Vater und darf die Worte nicht sprechen:

Es ist nicht, und es wird auch nimmer gut
Doch brich, mein Herz, mein Mund muß schweigen.vviii

Und du bist der Einzige, der nun weiß, worüber die Ophelia jammert wie ne Katze", sagte Peter, als ich ihm die Geschichte erzählte.
Und du hättest sehen sollen, wie Madelaine ins Textbuch gebissen hat, als das Küken aus der Pelle schielte", sagte ich. Und wir sahen aus einer Zelle des Aufnahmetrakts in den Gefängnishof und dachten noch, daß der Knast schon nicht so hart sein wird. Die Wachtmeister gehen mütterlich mit den Neuen um. Ihre Neugier ist groß. Denn jede Neuigkeit unterbricht für eine kurze Zeit die Langeweile der Unterhaltung mit den Würfeln oder den Karten - und manch ein Genosse Wärter verzockt auf die Wiese nicht seinen Lohn. 

Die Wachtmeister langweilen sic in den „Casinos". Handschuh schläft mit seiner Frau. Bad Langensalza. Das ist zehntausend Meter weit weg vor unseren Zellen. Unsere Zellen sind nachts offen.


Manchmal ist der Korridor durch ein Gitter getrennt. Durch die Gitterstäbe binden sie Saschas Arme mit den anderen Armen fest. Fritz schlägt Martin in den Rücken und lacht. Martin tritt Sascha in die Hoden. Sascha gleitet konvulsivisch um Steinboden hinab. Er muss Silvos Glied in den Mund nehmen. Dann von Christlob. Dann von Carlos. Dann von Martin. Dann erbricht Sascha einen dicken Strahl. An seiner roten glänzenden Haut gleiten Erbrochenes, Urin und Samenreste.
Die rote Wasserfarbe glänzt. Die rote Farbe um das Wasserblau seiner weinenden Augen. Dieser Abend heißt Blut. 

„Schach matt", ruft Peter, „meine Dame gedeckt durch Läufer. Macht zehn Zigaretten." In Ordnung", sagte ich, „jetzt spielen wir um 20 Zigaretten." Und während ich meine Figuren neu ordne, haben sich die Geräusche auf dem Korridor zerstreut. Sascha fällt Mit einem dumpfen Aufschlag in seine Zelle. Lange noch werden wir sein sich in Krämpfen entladendes Weinen hören.
Der wird keine Ruhe haben", sagt Mark. „Wie lange dauert Vollmond", fragt Klaus. „Alles Mist mit dem Mond", sagt Mark noch. „Sag so was nicht", antwortet Peter und verteilt seine gewonnenen Zigaretten, „der Mond hat seine Bedeutung."

Aber ich scheiß auf den Mond, was sind denn das für Gefängnisse, hat dein Bruder gerufen, als er davon erfuhr, daß du jetzt im Gefängnis bist, darum kam die Politische Polizei ein zweites Mal und nahm ihn wieder fest. Er mußte eine Erklärung unterschreiben, daß er nicht beabsichtigt, unser Land verlassen zu wollen. Dann haben sie ihm den Ausweis weggenommen und ein Ersatzpapier gegeben, womit er aber keine Grenze passieren kann. Dann erst durfte er gehen", erzählte Madelaine, als sie mich besuchen kam. Wir spielten die Revanche und ich verlor auch die zwanzig Zigaretten an Peter. Dann ging das Licht aus und wir legten uns schlafen. In dieser Nacht hörte keiner, wie Sascha sein Schlafkleid zerriß. Am Morgen aber sahen alle den rotverkrümmten Körper in Zelle 17, den Sascha in dieser Nacht verlassen hatte. 
Die Bibel fand niemand mehr.

(Frühsommer 1988)


Nachbemerkung:

[Das war] genau wie bei den Nazis“, sagte mein Vater nach der Lektüre im Herbst 1989, in der neuen elterlichen Wohnung in Berlin-West (Reinickendorf), Frauenfelder Weg 28.
(10.8.2013)


Zuerst gedruckt in: „Das Glück in Mäusebach. Erzählungen“. Berlin, September 1989.

Neu durchgesehen, 10.8.2013.
Endnoten


i Die Verwirrung des Zöglings Törleß. Motto eingefügt am 10.8. 2013. Die Erzählung enthielt ursprünglich kein Zitat. Die Törleß-Lektüre lag ungefähr in der Zeit des ersten Fassung der Bibel-Erzählung.

ii Motto Nachgetragen 18.2013. IM-Michael - Spitzelbericht vom [Datum folgt]. IM „Michael“ war ein Erzieher im DDR-Jugendknast in Halle, der zum als inoffizieller Mitarbeiter (IM) für den Staatssicherheitsdienst der DDR (Ministerium für Staatssichherheit - MfS), der Bezirksverwaltung (BV) Halle, von 1964 bis 1989 tätig war. In Folge der langen Zeitspanne, schrieb er hunderte lakonische, teils atmosphärisch dichte, teils inhaltlich-elende Spitzelberichte wie diesen. Der Vorgang "Michael" liegt dem Autor ausführlich vor. 
iii Dieser Absatz der Erzählung wurde geschrieben und neu hinzugefügt am 10.8. 2013.
iv Die Belesenheit dieses Erziehers im DDR-Jugendstrafvollzug ging über weit das Gros des DDR-Strafvollzugspersonals hinaus. Vgl. Johannes Borowski, Mäusenest, in: Boehlendorff und Mäusenest, Union Verlag, 2. Auflage 1966, S.101.
v Wolf Biermann, Die grüne Schwemme, LP/CD „Liebeslieder“, 1. Lied, ©1975/1996 Wolf Biermann
vi Vogtländische Anekdote, Titel und Publikationsjahr der Eterna-Schallplatte sind mir entfallen.
vii Bertolt Brecht, Hauspostille, Zweite Lektion: Exerzitien, 1. Gedicht, Vom Mitmensch, in: Die Gedichte Bertolt Brecht in einem Band, FFM, S. 190.
viii W. Shakespeare, Hamlet, 1. Aufzug, 2. Szene (Zitat-Übersetzung: AR).


5 Kommentare:

  1. Hallo mir ist es kalt den Rücken hinunter gelaufen ich war auch in gräfentonna hatten den gleichen Erzieher ich war EB 1 Klaus Pusch habe Ausbildung zum zerspanner gemachtbwim herr zenker kenn alles war ein Jahr 6 Monate da

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  2. Ich noch mal weist du noch als sich vom EB1 12 man über Nacht eine glatze rasiert haben und früh auf dem Hof standen Stunden mit blutigen Köpfen oder als die eine Zelle gebrannt hat

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  3. An die Glatzen auf dem Prinzenhof und auch an die brennende Zelle habe ich keine Erinnerung. Es ist sehr gut und wertvoll, dass Du daran erinnerst.

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  4. Ich war 16 Monate in Gräfentonna. Das war 1971/72. War wegen versuchter Republikflucht da. War eine heftige Zeit. Wurde erst besser, als ich nach dem dritten Arrest in die A10 verlegt wurde. Die "Schwererziehbaren und Besserungsunwilligen". Da war der Zusammenhalt besser.

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  5. War 76 - 77 da im Aussenkommando. Immer zur Optima nach Erfurt. War eigentlich nicht so heftige Zeit.

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Offener Brief: An den Geschäftsführer Lars Kleba, Die Linke Sachsen, und Protestschreiben des P.E.N. Zentrums deutschsprachiger Autoren gegen die Willkürmaßnahme des Oberbürgermeisters von Reichenbach (Vogtland), Henry Ruß

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