Mittwoch, 20. Oktober 2010

Wissenschaft: Die Poetenpolizei - Kontrolle muß sein – Die Schweriner FDJ-Seminare für Nachwuchsdichter



Foto: privat
Ein Zimmer des MfS.

Die Poetenpolizei
Kontrolle muß sein – Die Schweriner FDJ-Seminare für Nachwuchsdichter
Axel Reitel
Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, ZdF Nr. 22/2007.

Die zentralen FDJ-Poetenseminare im Schweriner Schloß wurden in den achtziger Jahren zunehmend von Themen wie Ausreise, beiderseitige Abrüstung, Reformen in der Sowjetunion und Demokratisierung dominiert. Daran änderten auch keine artifiziellen Texte wie die von André Brie etwas, da sie zwar kunstvoll gestaltet waren, vor allem jedoch den Schulterschluss mit der Partei erreichen sollten. Diese durch „Umbrüche“ schließlich aufweichende Kontroll-Grundhaltung ist Ausgangspunkt des folgenden Textes. Er entstand im Rahmen des zur Zeit laufenden Forschungsprojektes zum Thema der Geschichte der zentralen Poetenseminare 1970 bis 1989.

1. Zank im Zentralrat

Am 3. Februar 1969 fand in den Räumen des Zentralrats der FDJ eine ernüchternde Kontroverse über den Abdruck eines Gedichtes statt.2 Anlaß war eine „Aussprache“ mit Christian Löser vom Deutschen Schriftstellerverband, an der auch Volker Braun teilnehmen sollte, aber nicht erschien. Löser hatte „sein Unverständnis zum Ausdruck“ gebracht, „weil die ‚Junge Welt’ ein vom Schriftstellerverband vorgeschlagenes Gedicht von Volker Braun [„So muß es sein“]3 nach der 6. Tagung des FDJ-Zentralrates und in Vorbereitung einer Verbandstagung nicht druckte“.
Die anwesenden Zentralratsfunktionäre Bernd Powileit, Leiter der Abteilung Kultur, und Waltraud Böhm, Mitarbeiterin der Abteilung Kultur, hielten diese Entscheidung „zu diesem Zeitpunkt für richtig, weil der Zentralrat „nicht einerseits Volker Braun kritisieren und andererseits Tage darauf seine Gedichte in der FDJ-Zeitung drucken könne“.  Ein Abdruck des Gedichts würde andernfalls „das politische Fehlurteil des Genossen Braun mit seinem Gedicht bagatellisieren“. Christian Löser argumentierte, daß es wohl in dieser Frage zwischen dem Schriftstellerverband und dem Zentralrat Meinungsverschiedenheiten gebe, daß man aber „das Gesamtschaffen Volker Brauns betrachten müsse“, in dem sich Volker Braun „eindeutig zum Sozialismus und zur DDR“
bekenne. Weiterhin erklärte Löser, statt den Abdruck zu verweigern, wäre es vielmehr richtig, „in beharrlicher Diskussion mit Braun dessen politisch-ideologischen Unklarheiten zu klären“. Daraufhin bekam Löser zu hören, daß es ja Absicht des Zentralrats sei, „mit dem Genossen Braun weiterhin zusammenzuarbeiten und seine guten Gedichte zu drucken“. In Volker Brauns Gedicht „So muß es sein“ aber würden „Angriffe gegen unsere Partei-und Staatsführung“ zum Ausdruck kommen. Es wäre also besser, zu verhindern, daß  sich Volker Braun „durch solche Dinge einen schlechten Namen macht“.
Weiterhin sei kennzeichnend, daß Volker Braun in einem vor der Zentralratstagung mit  ihm geführten Gespräch die Auffassung des Zentralrats „zu diesem Gedicht verneinte  und aussagte, daß er voll und ganz hinter seinem Gedicht steht“. Als Fazit vermerkte  der Protokollant Johannes Resch, „daß prinzipielle und bis zum Ende geführte Aussprachen zu solchen Erscheinungen im Deutschen Schriftstellerverband wohl nicht üblich seien“, dies wäre „in der liberal geführten Gesprächsrunde des Genossen Löser zum Ausdruck gekommen“.4 In seinen Beratungen zur Konzeption für das erste Poetenseminar auf der 130. Sitzung des Sekretariats des Zentralrates der FDJ am 19. Februar 1970 setzte der Zentralrat der  FDJ im Bereich „Arbeit [der jungen Poeten] mit Schriftstellern“ auch Volker Braun auf die Wunschliste der Seminarleiter.5 Zu einer Einladung Brauns kam es jedoch nach  dessen eigener Aussage nicht. In der im Auftrag des Zentralrats 1986 von Waltraud Böhm herausgegebenen Anthologie Hoch zu Roß ins Schloß wird Volker Braun als Seminarleiter  des zweiten zentralen Poetenseminars vom 20. bis 26. August 1971 genannt.6 Zwar hielt Braun beim zweiten Poetenseminar einen Vortrag mit dem Titel „Poesie und Politik“, als Seminarleiter indessen fungierte Volker Braun bei diesem zentralen Poetenseminar nicht.7 In seinem Vortrag auf dem zweiten zentralen Poetenseminar zum Thema „Politik und Poesie“ sagte Volker Braun über „die sozialistische und die moderne Poesie, die sich aus denselben gesellschaftlichen Veränderungen her  schreiben“, es gehe vor allem darum, „welche Rolle der Dichter spielen kann (und ihm zu spielen erlaubt wird) in der Gesellschaft. Es geht darum, ob er sich, als Dichter einmischen kann und darf in die wichtigeren menschlichen Entscheidungen: in die Politik.”8 Aber Einmischung war nur dann erwünscht, wenn sie im Konsens und nicht im Konflikt mit der SED- und FDJ-Politik erfolgte.

2. Die Montage eines bestimmten FDJ-Bildes

Die Monographie Hoch zu Roß ins Schloß weist eine weitere Unstimmigkeit auf. Richtig heißt es in der Vorbemerkung: „Wenn die Lyrik dominiert, liegt das daran, daß die meisten sich zunächst auf diesem Gebiet versuchen.“ Neun der dreizehn als Seminarleiter auf der Beratung für das erste Poetenseminar vorgesehenen Autoren waren Lyriker.
Dieser Schwerpunkt wurde ebenfalls von den DDR-Medien Rundfunk, Presse und Fernsehen in den Mittelpunkt gerückt. Wenn an gleicher Stelle jedoch behauptet wird,  der Anstoß, eine ähnliche Werkstatt junger Schreibender durchzuführen, wie es in der FDJ-Singebewegung schon üblich war, wäre der Literaturwettbewerb der Berliner Jugend  „Wir lieben das Leben“ gewesen, ist diese Aussage schlichtweg falsch. Mag sein, daß dieser Wettbewerb „immer mehr Mädchen und Jungen aus der ganzen Republik“ angeregt hat, an Schreibwettbewerben teilzunehmen. Die Schlußfolgerung aber, „der
Jugendverband“ organisierte seither „erfolgreich diese Treffen in Schwerin“, blendet zunächst das Verdienst von Dr. Edwin Kratschmer als Initiator dieser Schreibbewegung  aus.9 Zweitens verkennt diese Einverleibung die zeitlichen Abläufe. Der erste Schreibwettbewerb zum Thema „Wir lieben das Leben“ fand anlässlich der III. Weltfestspiele der Jugend und Studenten in Ost-Berlin im August 1951 statt und hatte mit der Entwicklung in den sechziger Jahren nichts zu tun.10
Erst 1973 gab es wieder einen Schreibwettbewerb unter dem Motto „Wir lieben das Leben“, dem eine gleichnamige Anthologie mit preisgekrönten Beiträgen folgte.11 Zu diesem Zeitpunkt hatten bereits drei zentrale Poetenseminare in Schwerin stattgefunden. Ein viertes stark abgespecktes Poetenseminar fand in Cramon bei Schwerin mit nur zehn jungen Poeten und zwei Seminarleitern statt. Dieses vierte (externe) Poetenseminar war aufgrund der X. Weltfestspiele in eine „FDJ-Werkstatt junger Poeten” umbenannt worden und dauerte vom 9. bis 13. Mai 1973.

3. Umbrüche und die Schattenmacht

Beinahe jeder der nach Schwerin eingeladenen jungen Poeten wußte, daß es unter den Seminarteilnehmern Inoffizielle Mitarbeiter der Stasi gab. Das wurde aber, wie „der ganze Politkram“, erinnert sich Mario Göpfert, „auch ein bißchen verdrängt und weggeschoben“.12  Den Stasispitzeln, die in der Poetenszene eingesetzt wurden, oblag es vor allem, Umbruchgedanken, Umbruchäußerungen und Umbruchpläne aufzuspüren.
Was das im weiten Feld der Poesie bedeutet, belegen heute die IM-Akten. Von einem „Waffenstillstand zwischen Staat und Kultur“13  konnte im Fall des Elektrikerfacharbeiters  Jürgen Ertel aus Plauen keine Rede sein. Er schrieb in einem Gedicht mit dem Titel „Tage der Entbehrung“ die Zeilen „Nichts kommt zurück / Was bleibt – / nur  Vergangenes“, die der FDJ nicht gefielen.14 In einem Interview mit dem Autor berichtet Jürgen Ertel: „Also, es war bloß ’ne kurze Episode damals bei mir. Eines Tages
kam mal die FDJ-Sekretärin, völlig aus dem Häuschen, zur Mittagszeit mal an und verkündete froh, daß sie eben jetzt einen Lyrikzirkel gegründet hätte, also nicht sie alleine, aber eben jetzt für den Betrieb. Und ich fand die Idee erst mal auch gar nicht so schlecht. Fragte sie dann ungefähr, wie es ablaufen sollte, wie ihre Vorstellungen da seien, was man da so machen sollte. Na ja, sagte sie dann, wer einen Beitrag hat oder wer jetzt glaubt, was schreiben zu können, der gibt das eben entweder bei ihr oder bei der FDJ-Kreisleitung ab, und dann würde die Sache auf Herz und Nieren geprüft. Das  waren wirklich ihre Worte:_ ‚Und dann werden wir weitersehen’. Und da habe ich gesagt: Ne, wieso muß ich die hier erst mal abgeben, und es wird kontrolliert und gemacht? Da ist ja nichts Spontanes, von wegen die Gedanken sind frei, da ist ja gar keine  Spur davon. Also von Anfang an Kontrolle […]. Und als ich ihr das auch sagte,  […] von der Kontrolle eben erzähle, na, da kanzelt sie mich eben gleich als Provokateur ab und sagte: ‚Na ja, solche Leute brauchen wir eben da nicht’.“ 15 Jürgen Ertel  zog sich nach seinem Erlebnis vor einer engeren Zusammenarbeit mit der FDJ zurück,
sicherlich nicht zu seinem Nachteil. 
Die zum „Abschöpfen” instruierten Inoffiziellen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit sorgten mit ihren Berichten ja auch für mögliche strafrechtliche Konsequenzen. Der berüchtigte §106 des Strafgesetzbuches der DDR („Staatsfeindliche Hetze“) sah zunächst bis zu sechs Jahren Freiheitsentzug und nach der Strafrechtsverschärfung vom 7. April 1979 sogar bis zu acht Jahren Gefängnis vor. Beschuldigte und verurteilte junge Poeten in der DDR gab es.16 Ebenfalls wurden im „Einsatzbereich“ der Poetenseminare Inoffizielle Mitarbeiter vom MfS „personengebunden“ zur „Abschöpfung der Teilnehmer nach den Zielstellungen der poet.[ischen] Arbeit“ beauftragt.17 „Wer ständig behauptet, sein Name sei Hase, darf sich nicht wundern, wenn man ihn in die Pfanne haut,“ schrieb Gabriele Berthel. 18 Drei Stasi-Spitzel, von denen im folgenden die Rede ist, erlebten, nachdem sie dem MfS auf den Leim gegangen waren, früher oder später persönliche „Umbrüche“, ganz so wie die große Christa Wolf alias IM „Margarete“. Dabei ging es im kleinen nicht anders zu als auf der großen Dichterbühne. Poesie war in der DDR eben häufig auch eine Frage der Polizei.
Am 27. Oktober 1967 ließ sich Gerd Bieker vom MfS als IM „Peter Valentin“ verpflichten. Für die Abteilung XX/1 der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt schien Bieker derart wichtig, daß diese sogar beantragte, ihm „mit Beginn seiner freiberuflichen Tätigkeit – Bieker war bis dato beim Deutschen Kulturbund angestellt – ab September 1969 monatlich 400 Mark zu zahlen“. 
Laut eines „Vorschlages“ der Abteilung XX/7/1 der Stasi-Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt vom 4. August 1969 zur Umregistrierung des IM „Paul Valentin“ zum IME und zum hauptamtlichen inoffiziellen Mitarbeiter  des MfS handelte es sich bei Gerd Bieker um „einen außerordentlich kontaktfreudigen Menschen“, der „aufgrund seiner besonderen charakteristischen Eignung als sogenannter ‚Spaßmacher’“ und „Alleinunterhalter“ Kontakt zu verschiedensten Menschen fände.
Als Delegierter des VI. Deutschen Schriftstellerkongresses erhielt er mehrere Angebote „zur Übersiedlung in andere Bezirke sowie zur Gründung eines Literaturclubs der Jugend in Berlin“. Gerd Bieker wollte „jedoch im Bezirk bleiben“. Besondere Einsatzmöglichkeiten für Bieker leitete das MfS aus „seiner Tätigkeit als Literaturinstrukteur des Deutschen Kulturbundes“ und „vor allem aus seinen Verbindungen zu allen leitenden und maßgeblichen Personen des Bezirksschriftstellerverbandes und anderer kultureller Bereiche“ ab. Nach „Aufnahme der freiberuflichen Tätigkeit“ hatte Bieker aus Sicht des MfS für ihre Zwecke ohnehin „eine unbegrenzte territoriale Einsatzfähigkeit“, und zwar „je nach Erfordernis des MfS“. In der Bearbeitung eines Operativen Vorlaufs (OVL) hätte Gerd Bieker alias „Paul Valentin“ dann „ausgezeichnete Ergebnisse bei der Aufklärung negativer und feindlicher Kräfte im Schriftstellerverband“ erzielt. Dabei habe „der IM das Vertrauen der Verdächtigen“ genossen. Auch wie Bieker eine derartige „Vertrauensperson“ werden konnte, geht aus seiner IM-Akte hervor.
Demnach hing seine besondere „Stellung im Kreis der verdächtigen Schriftsteller“ damit zusammen, daß Bieker vom 11. Plenum der SED gerügt worden war, im Einklang mit „den Tendenzen der Gruppe Heym, Havemann, Biermann usw. die Grundlagen der  DDR ideologische untergraben zu wollen“. Sein 1965 bereits in einer Auflage von 10.000 Exemplaren gedrucktes Buch Sternschnuppenwünsche wurde daraufhin eingestampft. Nun wurde vom MfS versichert, daß das „zwischenzeitlich mehrfach umgearbeitete  Manuskript“ noch 1969 auf dem Büchermarkt erscheinen sollte und dem Deutschen Fernsehfunk zur Dramatisierung vorlag. Obendrein schlug der Bezirksverband
der Schriftsteller am 27. Juni 1969 Bieker zur Aufnahme in den Schriftstellerverband vor. Das MfS beurteilte Gerd Bieker als einen „zuverlässigen und mehrfach überprüften IM“ mit einer „ausgezeichneten Perspektive“. Von Interesse waren für das MfS Biekers bestehenden Verbindungen „zu operativ bereits negativ und feindlich aufgefallenen Personen aus den Kreisen der Schriftsteller, bildender Künstler, Lektoren, Dozenten, Verlagsmitarbeiter und der kulturellen Massenarbeit“. Daß Gerd Bieker sich des monatlichen Gehalts wegen als IM werben ließ, liegt dennoch nahe. Denn mit aller Wahrscheinlichkeit erfüllte er die hochgeschraubten Erwartungen des MfS nicht. So enthält Biekers mehrbändige IM-Akte gerade einmal vier relevante Berichte, von denen sich zudem nur einer mit einem Literaturereignis, der Literaturwerkstatt „Tage der jungen Literatur“ vom 26. bis 29. Mai 1975 im Neruda-Klub in Karl-Marx-Stadt, befasste.
Dabei fand diese Literaturwerkstatt laut der MfS-Auswertung einer Information Biekers vom 25. Juli 1975 regelmäßig unter dessen Leitung statt.19 Allerdings bergen auch diese wenigen Berichtseiten einige brisante Einsichten: So tauchten laut Bieker „vier Ausländer“ auf, „mit der Bitte, an der Veranstaltung teilnehmen zu können“. „Sie hätten im Klubprogramm von der Veranstaltung gelesen und wären daraufhin in den Neruda-Klub gegangen“.20 Der MfS-Unterleutnant Sesser hielt in seiner Abschrift der „Information v. P. Valentin vom 25. Juli 1975 über die Literaturwerkstatt“ dazu weiter fest, daß es sich bei diesen Ausländern um Mitglieder des internationalen Germanistikkurses an der TH Karl-Marx-Stadt gehandelt habe. Wortführer dieser Gruppe war demnach ein Däne. Dieser „bat den Leiter der Literaturwerkstatt Bieker um die Teilnahme der weiteren drei Personen“.
Gerd Bieker meldete seinem Führungsoffizier dabei noch eine Schwedin, eine Bürgerin der ČSSR und einen Engländer. Alle vier Teilenehmer wären sehr interessierte Zuhörer gewesen, der Däne habe auch rege mitdiskutiert. Bieker konstatierte: „Seine Beiträge waren in ideologischer und literarischer Hinsicht einwandfrei.“ Die Bürgerinnen der ČSSR und Schwedens hätten sich dagegen in der Diskussion eher zurückgehalten.
Über den Dänen „wurde bekannt, daß er Kurzgeschichten, Autorennamen und Adressen aus der DDR“ sammelte. Er sei Germanist und Herausgeber von Literaturrezensionen bei der Presse. Der englische Besucher hätte sich an einen jungen Autor [Name geschwärzt] gewandt und sich für dessen neuen Roman aus dem Bauernleben sowie für den Verlag Neues Leben interessiert. Der junge Romanautor verriet dem Engländer, seine Englischkenntnisse rührten daher, „daß er einen Bruder in Kanada“ habe. Bis zum nächsten Treffen sollte „Paul Valentin“ dem MfS „eine Liste mit Name und Adresse mit Originalanschrift aller Teilnehmer übergeben“.21 In einem Bericht vom 23. April 1975 unterrichtete Bieker das MfS über das von der Bezirksleitung der FDJ ausgelobte „Poetenseminar auf 1. Bezirksebene“ im erzgebirgischen Holzhausen, das im Anschluss an die „Tage der Literatur” und „wenn es ginge, gleich mit denselben Teilnehmern“ durchgeführt werden sollte. 
Am 6. Juli 1977 wurde Gerd Bieker laut MfS „den Erfordernissen dieser Kategorie [IME] nicht mehr gerecht“. Es erfolgt eine Umregistrierung vom IME „Paul Valentin“ zum GMS. Als Begründung wurde angegeben, der IM sei aufgrund seiner „intensiven literarischen Tätigkeit, insbesondere in der jüngsten Vergangenheit [Y] relativ isoliert“. Dabei sei „der IM nur effektiv in der Lage, innerhalb des Schriftstellerverbandes Sicherungsaufgaben zu übernehmen“. Gute Ergebnisse habe Bieker „im personenbezogenen Einsatz in der operativen Bearbeitung des Verdächtigten“ im OVL „Drucker“ gezeigt. Ebenso wurde Bieker 22 bescheinigt. Als Seminarleiter beim zentralen Poetenseminar war er vom 10. bis 17. August 1980 und vom 9. bis 16. August 1981 eingesetzt. Berichte über das zentrale Poetenseminar wurden von der BStU in Biekers IM-Akten nicht aufgefunden. Solche enthalten aber die Akten anderer IM.
Am 14. Juli 1972, um 14 Uhr, wurde durch zwei hauptamtliche Mitarbeiter der Bezirksverwaltung des MfS Karl-Marx-Stadt mit Gabriele Berthel, in dieser Zeit Forschungsstudentin und Doktorandin der TH Karl-Marx-Stadt, „in den Diensträumen der TH Karl-Marx-Stadt eine erste legendierte Aussprache durchgeführt“. Zu dieser „Aussprache“ wurde Berthel zum „Rektorat Erziehung und Ausbildung“ bestellt. Offiziell wurde das Gespräch zwischen ihr und der Stasi als eine „allgemeine Kaderaussprache“ fingiert, im Sprachduktus der Stasi hieß das „abgedeckt“. Bei diesem Gespräch sei Gabriele Berthel „dargelegt“ worden, daß die beiden hauptamtlichen Mitarbeiter der Abteilung XX/7 der BV des MfS Karl-Marx-Stadt nun „einmal die verantwortlichen Mitarbeiter im Bereich Kultur im Bezirk Karl-Marx-Stadt sind“ und es „zum anderen auch eine prophylaktische Aufgabe des MfS ist, mit vielen Menschen in diesem Bereich in Kontakt zu kommen, deren Probleme kennenzulernen“. In der Begründung hieß das, „um sich gegenseitig zu ergänzen“. Frau Berthel wurde laut diesem Aussprachebericht „erläutert“, daß die beiden hauptamtlichen Mitarbeiter sich „vor allem für die Tätigkeit der Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren des DSV-Bezirksverbandes sowie der Bewegung
Schreibender Arbeiter interessieren“. Diesen sei auf dem 6. Plenum des ZK der SED breiter Raum eingeräumt worden. Solche Aussprachen wären nun ebenfalls „prophylaktischer Art“ und dienten dem Ziel, „Menschen persönlich kennenzulernen“. Gabriele Berthel wurde anschließend gebeten, „über ihre Tätigkeit in der Bewegung Schreibender Arbeiter, speziell dem Zirkel schreibender Studenten an der TH Karl-Marx-Stadt, sowie [über] ihr Wirken in der Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren zu berichten“. Diese verwies dann auf ihre Beschäftigung mit Literatur „seit frühester Jugend“, wobei sie laut Aussprachebericht „besonders seit sie an der TH Karl-Marx-Stadt studiert, Interesse für eigene literarische Arbeit“ entwickelt habe. Sie berichtete weiter, wie sehr ihr das Klima in den Schreibezirkeln gefallen habe, daß sie dabei viel lernen konnte, was „nicht zuletzt Niederschlag in ihren Arbeiten fand“. Sie führte auch an, „daß sie jährlich zum Poetenseminar, welches vom FDJ-Zentralrat und dem Deutschen Schriftstellerverband organisiert wird, fährt und dort sehr gute Anregung ihrer literarischen Tätigkeit“ erhalte.23 
Dem Aussprachebericht zufolge fand es Gabriele Berthel richtig, daß das MfS „mit vielen Bürgern aus den verschiedensten gesellschaftlichen Bereichen“ sprechen wollte. Außerdem sah sie es „als eine Notwendigkeit, bei bestimmten Vorkommnissen das MfS bzw. andere Sicherheitsorgane zu informieren“. Entsprechend ihren Möglichkeiten erklärte sich Gabriele Berthel am Ende dieses Gesprächs bereit, „sich mit dem MfS in bestimmten Zeitabständen zu unterhalten“. Sie gab am 18. Juli 1972 eine handschriftliche „Schweigeverpflichtung“ ab, in der sie erklärte: „Ich verpflichte mich gegenüber jedermann, meinen nächsten Angehörigen und anderen Schutz- und Sicherheitsorganen der DDR, über meine Zusammenarbeit mit dem MfS strengstes Stillschweigen zu bewahren. Bei Nichteinhaltung dieser Schweigeverpflichtung kann ich nach den geltenden Gesetzen der DDR strafrechtlich zur Verantwortung gezogen werden.“ Zur Sicherheit ihrer Person „und der des MfS“ wählte sie sich selbst den Decknamen „Sylvia“. Ihre Informationen wollte sie fortan schriftlich dem MfS übergeben. 
Im „Bericht über die Gewinnung“ hielt Stasi-Feldwebel MfS Kaiser am 8. August 1972 fest, daß IMV „Sylvia“ personengebunden eingesetzt würde. Diese Beauftragung erfolge „im wesentlichen im Bereich der Bewegung schreibender Studenten und der Arbeitsgemeinschaft Junger Autoren des Deutschen Schriftstellerverbandes sowie der TH-Karl-Marx-Stadt“.24 Berichte von „Sylvia“ über Bezirkspoetenseminare in Karl-Marx-Stadt und über das zentrale Seminar in Schwerin sind ab 1977 überliefert. Einen Bericht über die „Poetentreffen“ vom Frühjahr 1973 in Prieros und vom Sommer 1973 in Cramon bei Schwerin verfasste „Sylvia“ erst am 6. Juni 1983.                       
Bei diesen Treffen hatte „der FDJ-Zentralrat nach dem vorangegangenen Poetenseminar die seiner Meinung nach Begabtesten“ eingeladen, was in etwa „8-10 Schreiber, darunter sie und Jürgen Fuchs, dazu 2-3 Mentoren“ gewesen seien. Laut Berthel wurden 1973 „Manuskripte besprochen und Programme vorbereitet“, die auf Veranstaltungen der Weltfestspiele in Ost-Berlin „wirksam werden sollten“.25 Das Interesse der Stasi an Jürgen Fuchs ist der Grund, warum sich die Behörde auch noch zehn Jahre später mit Informationen über die beiden Seminare des Jahres 1973 versorgen ließ. Details dazu sind in einem „Legendierungsplan“ der Abteilung XX der BV Karl-Marx-Stadt für „Sylvia“ festgehalten. Eine „Wiederaufnahme der Ende 1975 abgebrochenen persönlichen Verbindung zu dem Staatsfeind Jürgen Fuchs in Westberlin“ sollte von Gabriele Berthel hergestellt werden.26                       Die gemeinsame Vertrauensbasis dafür ergab sich aus Stasi-Sicht aus der gemeinsamen Teilnahme an zentralen Poetenseminaren in Schwerin. Darüber hinaus beweisen die Berichte von „Sylvia“, daß auch die Bildungs- und Weiterbildungswege von Wächtern gesäumt waren. Folgender Bericht von „Sylvia“ offenbart einmal mehr, wie entgegengebrachtes Vertrauen in diesem Bereich von angeworbenen IM verraten werden sollte und auch verraten wurde. 
Am Freitag, den 2. November 1979, informierte IM „Silvia“ das MfS über den Besuch einer Bekannten, Annegret Gollin aus Zwickau. Sie besuchte ebenfalls die Literaturwerkstatt in Karl-Marx-Stadt und machte einen „insgesamt recht aufgeschlossenen Eindruck“.27 „Sylvia“ unterhielt sich mit Annegret Gollin „zunächst“ über persönliche Dinge. Darüber berichtete „Sylvia“ später detailliert ihrem Führungsoffizier, genauso wie über Annegret Gollins Schilderung eines Erpressungsversuches durch die Stasi. Als Annegret Gollin 1975 erstmals aufgrund sogenannten „asozialen Verhaltens“ in Untersuchungshaft genommen wurde, trat eine Mitarbeiterin der Staatssicherheit an die junge Frau heran, um sie für eine inoffizielle Mitarbeit zu gewinnen.28 
Das MfS wollte ihr im Fall der Bereitschaft eine etwaige Haftstrafe ersparen und obendrein eine „Arbeit sowie eine Wohnung besorgen“. Annegret Gollin erklärte „Sylvia“, sie habe aus Angst vor der drohenden Gefängnisstrafe unterschrieben. Sie habe dann „einige Berichte über fernere Bekannte geschrieben“, wobei sie sich dabei „zunehmend unwohler in ihrer Haut fühlte“. Deswegen wollte sie die Zusammenarbeit beenden. Außerdem sei keines der vom MfS gegebenen Versprechen eingehalten worden. Anfangs drohten ihr Stasileute, man habe „hier ihre Unterschrift als ‚Eva Müller’”, und Geld habe sie auch erhalten. Dann wurde sie aber „in Ruhe gelassen“, nachdem sie diese
200 DDR-Mark „sofort zurückgezahlt“ hatte. Auch über das zentrale Poetenseminar 1979 konnte „Sylvia“ etwas von Annegret Gollin erfahren. „Sylvia“ berichtet der Stasi “unter anderem auch darüber“, daß ihre Gesprächspartnerin „mit ihrem Seminarleiter [Name geschwärzt] einmal hart aneinander geraten sei, als sie nach den konkreten Ursachen für den Ausschluß der 9 Schriftsteller gefragt habe, worauf dieser sehr unsachlich reagiert habe“.29 Im Gesprächsverlauf führte die Stasi-Informantin ihre arglose Besucherin auf ebensolche Autoren und deren Werke hin, die nicht zu dem vom Regime geschätzten Autorenkreis gehörten. Beispielsweise Jürgen Fuchs, den „Silvia“ „einen ehemaligen guten Bekannten“ nannte und über den sie „recht ausführlich erzählte“, woraufhin Gollin,
„ohne sich auf eine nähere Diskussion einzulassen“, sagte, „daß sie vor kurzem einmal
die Gelegenheit gehabt habe“, dessen Gedächtnisprotokolle zu lesen. „Sylvia“ kam sodann auf Brigitte Reimann und auf Reiner Kunzes Die wunderbaren Jahre zu sprechen. Sie versprach Annegret Gollin „so halb und halb […] einige der nicht bei uns [in der DDR] erschienen Arbeiten für sie mit abzutippen“. Dabei erfüllte schon das Weitergeben von Abschriften in der DDR verbotener Texte den Tatbestand des berüchtigten § 106 StGB, der für die Weitergabe von „Hetzschriften gegen die DDR“ ein Strafmaß von zwei bis zehn Jahren Freiheitsentzug vorsah. Annegret Gollins Besuch endete schließlich mit der Übergabe einer Mappe, die Arbeiten von ihr enthielten, und der Bitte, „diesen persönlichen Kontakt auch in Zukunft nicht abreißen zu lassen“.30 Informationen von Gabriele Berthel fanden später in einem Gerichtsverfahren gegen Annegret Gollin Verwendung.
Bis zum März 1987 verfasste „Sylvia“ weiterhin detaillierte Berichte, auch über das zentrale Poetenseminar, bei dem sie 1979 als Seminarleiterin fungierte, und über das Karl-Marx-Städter Bezirkspoetenseminar. Laut einer „Operativen Kurzauskunft“ der Abteilung XX der Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt vom 11. Oktober 1989 wurde die „operative Zusammenarbeit“ mit „Sylvia“ wegen „der gegen die gesellschaftlichen Verhältnisse gerichteten Auffassung der B.“ im Januar des Jahres beendet“.31 Zusammenfassend heißt es in dieser „Operativen Auskunft“, daß „die inoffizielle Zusammenarbeit mit der B. […] zunächst durch eine hohe Zuverlässigkeit der Auftragserteilung gekennzeichnet“ gewesen sei. Auf der Grundlage ihres „Persönlichkeitsbildes“ wäre es gelungen, Gabriele Berthel „an operativ-interessanten Personen zur vorbeugenden Verhinderung, Aufdeckung und Bekämpfung politischer Untergrundtätigkeit zum Einsatz zu bringen“. Weiter heißt es dort, „mit der B. wurden u.a. zielgerichtete politisch-operative Maßnahmen zu mehreren OV der Abteilung XX nach § 106 StGB realisiert. Im Auftrag des MfS realisierte die B. Aufträge zu den Staatsfeinden FUCHS, Jürgen und [Namen geschwärzt].“ 
Was Gabrieles Berthels Abkehr von der Zusammenarbeit mit dem MfS betrifft, meinte die Stasi selbst in diesem Papier, „seit dem März 1987 wurden bei der B. Tendenzen sichtbar, der inoffiziellen Zusammenarbeit mit dem MfS auszuweichen, nachdem mit ihr zu den Treffs prinzipielle Gespräche zur politisch-ideologischen Einordnung als auch der Rolle von Kunst und Kultur im Sozialismus geführt wurden. Diese Auseinandersetzungen wurden notwendig, da Informationen aus zuverlässiger Quelle vorlagen, die darauf hinwiesen, daß die durch die B. öffentlichkeitswirksamen verbreiteten politisch-ideologischen Standpunkte, besonders im Zusammenhang mit der Verbreitung eigener Collagen und im Rahmen von Lesungen, politisch negativ, insbesondere auf Jugendliche, einwirkten.“.32 
In diesem, mit der B. „geführten Auseinandersetzungsprozess“ sei „deutlich geworden, daß „die B. eine verfestigte oppositionelle Grundhaltung zu den gesellschaftlichen Verhältnissen in der DDR“ beziehe, die Kulturpolitik der SED ablehne und die Auffassung vertritt, die Kunst in der DDR sei „gezwungen, zunehmend die Rolle der das Volk entmündigenden Massenmedien zu übernehmen“. Deswegen sei am 17. Januar 1989 die Entpflichtung von „Sylvia“ erfolgt.
Mit ihrer „Entpflichtung“ hatte Gabriele Berthel zu unterschreiben, daß ihr aus der „Zusammenarbeit“ mit dem MfS keine Nachteile entstanden seien und daß von ihrer Seite keine Forderungen an das MfS vorlägen. Weiter wurde sie „belehrt“, daß ihre „abgegebene Schweigeverpflichtung“ nach wie vor gelte. Bei einem „Bruch dieser Verpflichtung“ könne „strafrechtlich“ gegen sie vorgegangen werden. Darüber hinaus habe sie auch über bereits gelieferte „Fakten“ strengstes Stillschweigen zu wahren. Zuletzt wurde Gabriele Berthel darauf aufmerksam gemacht, daß sich das MfS von ihren künstlerischen Arbeiten distanziere und sie fortan dafür allein verantwortlich sei.33
IMV „Karl-Heinz“ berichtete am 24. August 1972 seinem Führungsoffizier Leutnant Riccius in der konspirativen Wohnung „Blume“ ausführlich über Jutta Schlott: von Beruf Lehrerin, 27 Jahre alt, verheiratet, zwei Kinder. In dem später verfaßten Gesprächsbericht wurde außerdem mit Unterstreichung vermerkt: „In schriftstellerischer Hinsicht kann sie durchaus als das Nachwuchstalent im Bezirk Schwerin bezeichnet werden“.34 Entdeckt wurde Frau Schlott „durch die Bewegung Junger Poeten (Poetenseminare)“. In letzter Zeit habe sie sich „stark entwickelt „und gehöre „zu den begabtesten Talenten in der Republik“. Sie habe außerdem an „zentralen Lyrikforen“ teilgenommen. Vor allem habe sich die FDJ-Bezirksleitung in der Arbeitsgruppe Junger Autoren (AJA) „stark um die Entwicklung der Sch. gekümmert“. Beispielhaft wird eine Studienreise erwähnt, zu der sie in die Sowjetunion, speziell nach Moskau und Leningrad, geschickt worden war, „um darüber ein Tagebuch zu schreiben“. Zu den Arbeiterfestspielen 1972 in Güstrow hätte sie „im Programm schreibender Arbeiter“ ein „Majakowskiprogramm“ mitgestaltet. Dabei habe sich ein verantwortlicher Professor lobend über ihr Talent geäußert, worauf der Rat des Bezirkes „eine sehr große Aktivität“ an den Tag gelegt habe, „sie hier in Schwerin unter-zubringen“. Während des Poetenseminars sei sie „Leiterin der Bezirksdelegation Neu-brandenburg“ gewesen. Während des Poetenseminars habe es zwischen ihr und Funktionären der Bezirksleitung [Name durch BStU geschwärzt] bzw. dem Rat des Bezirks, Abteilung Kultur [Name durch BStU geschwärzt], eine Aussprache darüber gegeben. Jutta Schlott habe sich bereit erklärt, im Bezirk Schwerin zu bleiben, unter der Bedingung, „daß sie hier eine Arbeitsstelle bekommt und eine einigermaßen günstig gelegene Wohnung“. Daraufhin habe der Oberbürgermeister [Name durch BStU geschwärzt] persönlich „einen Antrag zwecks Zuweisung einer Wohnung und Beschaffung einer Arbeitsstelle„ gestellt. 
Dem IMV „Karl-Heinz“ war zu diesem Zeitpunkt jedoch nicht bekannt, ob diese Aktivitäten von Erfolg gekrönt wurden. Er wußte aber, daß Frau Schlott „beim Sender Schwerin“ nicht unterkam, „da keine Planstellen für einen Posten“ vorhanden waren, obwohl sich sogar  „die Bezirksleitung der SED Neubrandenburg eingeschaltet hatte“. IMV „Karl-Heinz“ legte abschließend seine Auffassung dar, daß Frau Schlott „hier im Bezirk Schwerin unbedingt als Nachwuchsautor festgehalten werden“ müsse, der Bezirk sei auf diesem Gebiet nämlich recht „unbesattelt“.
In einer handschriftlichen Verpflichtung vom 5. September 1974 verpflichtete sich Jutta Schlott-Kolbe, „auf der Basis der Überzeugung, inoffiziell mit dem Ministerium für  Staatssicherheit zusammenzuarbeiten“. Hierüber werde sie „strengstes Stillschweigen gegenüber jedermann – auch meinen engsten Verwandten“ wahren. „Zur Erhöhung der Konspiration“ lege sie sich „den Decknamen ‚Marianne Löst’“35 zu. Die IM-Tätigkeit der Autorin Jutta Schlott dauerte bis zum 4. November 1978. An diesem Tag wurde sie mit der von ihr abgegebenen Begründung durch das MfS entpflichtet, daß sie die Verbindung mit dem Ministerium aus „rein persönlichen, teilweise karrieristischen Motiven aufrechterhalten“ habe. Weiter führte sie an, daß die Tätigkeit ihres inzwischen geschiedenen Ehemanns „als hauptamtlicher Mitarbeiter des MfS sowie die insbesondere seit Ende 1977 wesentlich intensivierten Aufträge zur direkten Bearbeitung feindlicher negativer Personen […] von ihrer Seite wesentliche Gründe für ihre persönliche berufliche  Entwicklung waren“.36 Ihr wurde dann abschließend von dem Führungsoffizier erklärt, daß die vor der Entpflichtung veranlassten Förderungen ihrer schriftstellerischen Tätigkeit „über staatliche kulturleitende Institutionen“ nicht berührt wären, daß „eine Aufrechterhaltung“ jedoch „von einer produktiven literarisch abrechenbaren Tätigkeit“ 37 abhängig sei.
Der „Einsatzkonzeption“ der Abteilung XX/7 der BV Schwerin vom 19. Februar 1976 für „Marianne Löst“ zufolge arbeitete diese als Pressereferentin am Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin und war zugleich als „Kandidat des Schriftstellerverbandes literarisch freischaffend tätig“. Weiter übte sie verschiedene „gesellschaftliche Funktionen im Rahmen der FDJ-Arbeit und der Poetenbewegung aus“. Neben zwei anderen „Schwerpunktbereichen“ wurde in dieser Einsatzkonzeption „festgelegt“, daß „Marianne  Löst“ obendrein als Leiterin des Schweriner Poetenklubs und Mitarbeiterin in den zentralen Poetenseminaren der FDJ „zur Bearbeitung von negativen und aus anderen Gründen für das MfS interessanten Personen aus diesem Bereich eingesetzt“ wird.
Weiter habe sie „bei operativer Notwendigkeit literarische Arbeiten zu analysieren und einzuschätzen“.38 Das tat „Marianne Löst“ bereits am 1. Juli 1975 in der konspirativen Wohnung „Linde“ in einem Bericht, den sie ihrem Führungsoffizier, Oberfeldwebel Claus Dieter Wulf, gab. In dieser „Kurzeinschätzung Klub Junger Poeten“ wurden sämtliche Mitglieder des Klubs namentlich aufgeführt und teilweise eingeschätzt. Ein einziges Mitglied verfolge ernsthaft das Berufsziel Schriftsteller, die anderen sähen in der Mitgliedschaft eine Freizeitbeschäftigung und kämen auch in den Klub, wenn sie zeitweise nicht schreiben würden. „Frage und Probleme politischer Natur, die im Zirkel“ geklärt  würden, würden meist bei (Name geschwärzt) auftreten.39
In einem Bericht vom 15. November 1976, den „Marianne Löst“ im Beisein ihres Ehemannes „Werner Weber“ schrieb, meldete sie dem MfS, was sie während einer Veranstaltung des Poetenklubs Haus der Jugend Schwerin und eines Treffens des Zirkels schreibender Werktätiger Güstrow und Bützow, das vom 12. bis 14. November 1976 in Güstrow stattfand, nebenbei erfahren hatte. Vielleicht war es nur ein Gerücht, vielleicht mehr. Es ging um private Treffen eines Freundeskreises, der jeweils mittwochs „Klubabende“ in einer Wohnung abhalte, bei dem „nicht nur Lyriker, sondern auch Maler und Leute, die Musik machen“ erscheinen.40 Dem MfS nannte sie ein halbes Dutzend Namen der angeblich Beteiligten.
In einem weiteren Bericht vom 10. Februar 1977, wieder im Beisein ihres Ehemannes „Werner Weber“ erstattet, ging es um die „Tagung der Arbeitsgruppe Literatur des  FDJ-Zentralrats zur Vorbereitung des Zentralen Poetenseminars der FDJ 1977 in Schwerin“. Die Sitzung fand am 26. Januar 1977 in Berlin, im Haus der Jungen Talente statt. Es sei dort erläutert worden, daß es darauf ankomme, „das literarisch-historische Bewusstsein der jungen Poeten zu entwickeln und einige ‚Klassiker’ der proletarischen Dichtung neu für die Seminaristen zu entdecken“. Daraufhin hätten zwei Mitarbeiter
der Jungen Welt geäußert, „daß die Poeten ja keinen Meinungsstreit üben könnten, da die ‚Zeitungen’ ja keine Kritik drucken“. Die Anmerkung von „Marianne Löst“ hierzu, die beiden Mitarbeiter seien sich offensichtlich nicht im klaren darüber gewesen, „daß sie von ihrer eigenen Arbeit sprechen“, liest sich im Kontext doch eher komisch.
Die Namen der kecken Junge Welt-Mitarbeiter sowie aller übrigen Anwesenden der Diskussionsrunde teilte „Marianne Löst“ dem MfS mit. Interessant ist, daß auf dieser Vorbereitungssitzung laut IM-Bericht das Fehlen „politisch engagierter Gedichte“ bemängelt wurde. Die „Innerlichen“ seien in der Mehrzahl – die „Politischen zu 90 % nicht druckreif“. Realistisch wurde festgestellt, daß ein Poetenseminar der FDJ „nicht leisten könne, was ansonsten in der Erziehung der jungen Generation versäumt worden ist“.41 Immerhin löste sich auch „Marianne Löst“ aus eigenem Antrieb vom MfS. 
Volker Braun, nach seinen Erinnerungen an das zweite zentrale Poetenseminar gefragt, antwortete: „An den August 71 hab ich keine Erinnerung. Es entstand der Zweizeiler:
Die Morgendämmerung
Jeder Schritt, den ich noch tu
Reißt mich auf.“42

Endnoten:
1 Vgl. Auch Axel Reitel: Pegasus, gegängelt, hoch oben / tief in die Knie”. Die Zentralen Poetenseminare  des Zentralrats der FDJ. ZdF 19/2006.
2 Die zugrunde liegende Aktennotiz vom 12. Februar 1969 findet sich unter SAPMO-BArch, DY 24/9355.
3 „So muß es sein“, aus dem Zyklus: Lieder vom Bérangmann. Die erste Strophe lautet: „Ich weiß, was mit uns wird, Marie/Die Linie ist so klar wie nie/Du hörst die Zukunft aus mir schrein/So muß es sein.“ Die letzte Strophe lautet: „Der Fortschritt rutscht nicht auf dem Knie/Die Linie ist so klar wie nie/Ich weiß, was mit uns wird, Marie/Wenn wir es wolln, und tun, und schrein/So muß es sein.“ Volker Braun hat für den Kunstnamen Bérangmann den Namen des französischen Dichters Pierre- Jean Béranger (1780–1857) und den von Biermann zusammengeführt.13 S.136 ZdF 22/2007
4 Vgl. Aktennotiz vom 12. Februar 1969, a.a.O.
5 SAPMO BArch: DY 24/9355.
6 Hoch zu Roß ins Schloß. 15 Jahre Poetenbewegung der FDJ. Berlin 1986, S. 370.
7 Volker Braun ein einem Telefongespräch mit dem Autor am 5.Oktober 2007.
8 Braun, Volker: Gesamtausgabe, Bd. 3. Halle 1990, S. 249–267.
9 Vgl. Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, Nr. 19/2006, S. 61–70.
10 Wir lieben das Leben. Anthologie neuer deutscher Lyrik. Weimar 1953.
11 Berliner Jugend-Literaturwettbewerb „Wir lieben das Leben“. Hrsg. anläßlich der X. Weltfestspiele
der Jugend und Studenten in Berlin von den Bezirksleitungen der Freien Deutschen Jugend. Berlin,
1973. An der Auswertung der Texte war Hannelore Becker beteiligt.
12 Interview mit Mario Göpfert in Dresden am 25. März 2004.
13 So Kathrin Aehnlich in ihrer Email vom 8. Oktober 2007 an den Autor.
14 Ertel, Jürgen: OHNE ANTWORT, bisher unveröffentlicht.
15 Interview mit Jürgen Ertel in Berlin am 12. Januar 2004.
16 Als Beispiel sei hier die Verhaftung und Verurteilung von Utz Rachowski zu zwei Jahren und drei Monaten Gefängnis genannt. Er hatte Gedichte von Wolf Biermann, Reiner Kunze, Jürgen Fuchs und von sich selbst vervielfältigt und verbreitet.
17 BStU Ast. Chemnitz, AIM „Jens Böhme“ XIV 3108/82, Bd. I.
18 Dieses Zitat von Gabriele Berthel findet sich unter: http://msd.twoday.net/stories/78809/ (zuletzt eingesehen am 27.11.2007).
19 BStU Ast. Chemnitz, AIM XIV 1393/77, Bd. I.
20 BStU Ast. Chemnitz, AIM XIV 1393/77, Bd. I. Beginn 25.10.1974/ beendet 15.8.1977.
21 Ebd. „eine gute Aufklärungsarbeit im Bereich des Schriftstellerverbandes und der Nachwuchskräfte“
22 Ebd.
23 BStU Ast. Chemnitz, IMA XIV 4010/89 C. Bd. II.
24 Ebd.
25 Ebd.
26 BStU Ast. Chemnitz, IMA XIV 4010/89 C. Bd. II.
27 BStU Ast. Chemnitz, IMA XIV 4010/89 C. Bd. III.
28 Ebd.
29 Ebd. Gemeint ist der Ausschluß von neun Autoren aus dem Schriftstellerverband der DDR im Juni 1979.
30 Ebd.
31 BStU Ast. Chemnitz, AIM XIV 4010/89. Bd. III.
Axel Reitel: Die Poetenpolizei
32 Ebd.
33 BStU Ast. Chemnitz, AMI XIV 4010/89, Bd. II. Beginn 3.2.1984.
34 BStU Ast. Schwerin, AMI „Marianne Löst“, 1264/79, Bd. I. Beginn 6.12.1974.
35 Ebd.
36 BStU, Ast. Schwerin, AIM, 1264/79, Band-Nr. I/1.
37 Ebd.
38 Ebd.
39 Ebd.
Axel Reitel: Die Poetenpolizei
40 Ebd.
41 Ebd.
42 Email von Volker Braun an den Autor vom 16.10.2007.

Sonntag, 10. Oktober 2010

Wissenschaft: Pegasus, gegängelt, „hoch oben / tief in die Knie“ Die zentralen Poetenseminare des Zentralrats der FDJ 1970 bis 1989. Annäherung an einen gescheiterten Instrumentalisierungsversuch



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Pegasus, gegängelt, „hoch oben / tief in die Knie“
Die zentralen Poetenseminare des Zentralrats der FDJ 1970 bis 1989.
Annäherung an einen gescheiterten Instrumentalisierungsversuch


Die Literatur geht in Ideologie nicht auf,
weil der Mensch in Ideologie nicht aufgeht.
Franz Fühmann

Im Schuljahr 1963/64 bekam der im thüringischen Unterwellenborn unterrichtende Edwin Kratschmer von seinem Schüler Peter Beitlich am Ende einer Literaturstunde einen Zettel mit folgendem Text auf den Lehrertisch geschoben: „Im Wasser schwimmt der Mond, / zittert matt und schlingert / unter mir. / Tief unten der Mond. / Ich, hohl und stumm. / Höhle.Vakuum. / Ich bin nicht gesprungen, / weil es Dich,/ Dich gibt.“ Kratschmer erkannte dieses Gedicht als einen Hilferuf. Ein Schüler gab ihm da ganz offensichtlich seine Suizidabsicht kund. Für Kratschmer Schreck- und Sternstunde zugleich. Er wurde aufmerksam auf die wichtige Aussagefunktion eines Jugendgedichts, „das über den üblichen Schulaufsatz hinaus dringliches Ventil sein und auf tief gehütetes Inneres verweisen wollte“. Kratschmer begann nun, sowohl seine eigenen Schüler zum Schreiben zu provozieren als auch – unter anderem im FDJ-Organ Junge Welt – republikweit Zeitungsaufrufe an schreibende Jugendliche in der der DDR zu schalten, ihm Gedichte und Geschichten zu schicken. Im Jahr 1964 schließlich legten Edwin Kratschmer und seine Frau Margarete Kratschmer 23 Texte  von drei Jugendlichen unter dem Titel „Und Mut gehört zum Wort. Erste Versuche“ zu den vierten Arbeiterfestspielen vor. Bei dieser Auswahl handelt es sich um Texte dreier seiner Schüler im Alter von fünfzehn und sechzehn Jahren. Auf die Frage, ob die Dichtung Jugendlicher ernst zu nehmen sei, sprach sich Edwin Kratschmer in seinem Vorwort mit einem „Dreimal Ja“ aus und antwortete zugleich auf die Entgegnungen. „Sollen Schüler Verse schreiben? Aber ich bitt’ euch, Jugendliche sind halbfertig. Ja, aus hundert Gründen. Und nicht zuletzt aus diesem. Wer sich selbst versteht, versteht die Dichtung besser. […] Unsere Jugend hat das dringende Bedürfnis nach echter Auseinandersetzung, und sie hat Fragen, Fragen, Fragen. Sie ist empört über jedes Unverständnis und über schwache Argumente. Sie ist auf der Suche nach Antworten. Unsere Jugend will keine festen Betten – sie will aber auch keine fertigen Rezepte. Sie will streiten und diskutieren, und sie haßt Vielredner.“[1] Das schrieb Kratschmer im  Jahr 1964. Da ist schon Inhalt und vor allem der Ton der Perestroika von Michail Gorbatschow  vorweggenommen. Auszug Gorbatschow: „Wir hatten alles so eingerichtet, daß nicht ein einziges wichtiges Problem, das die Jugend betrifft, aufgegriffen wird, ohne die Ansicht des Komsomol dazu zu berücksichtigen.“[2] Bereits der erste Text in Kratschmers Sammlung legt Jugendbedürfnisse offen. „Werd ich gefragt / was mir behagt / sag ich nicht: Die Behaglichkeit / und eventuell das Essen / Ich such den Streit / Versteht: Das Kräftemessen // Ich schreibe / und treibe Sport/ Es bringt mich in Glut / und macht Mut / Und: Mut gehört zum Wort // Und steh ich auf dem Podest / nach hartem Streit / dort wo man die Hand sich schütteln läßt / denk ich nicht: Es ist soweit / du bist am Ziel / Sondern: Der Anfang war gut / doch fehlt  noch viel / Und: Es rostet leicht wer ruht.“[3] In der DDR bezeugte ein derartiger Text zweifelsfrei Mut. Und es gab noch mehr davon in diesem schmalen Bändchen, das zu  Recht eine Welle von Reaktionen provozierte. Jeder einzelne Text in dieser Sammlung setzte sich dem damals vorherrschenden ideologischen Klima aus und war zugleich Not. Das haben nicht beliebig viele der später in den Sonderheften Poetenseminar veröffentlichten Texte gewagt. Was auf die Veröffentlichung der Sammlung Und Mut gehört zum Wort folgte, waren Totalverrisse. Darunter jene der Paladine der DDR-Führung, die mit ihren Entgegnungen weniger Verständnis als Unmut zeigten über das, was ihrer Meinung nach im Land nicht gewünscht war. Wichtig und tragend wurden jedoch die mutmachenden Stimmen. Sie kamen unter anderen von Hannes Würtz, der bei der Jungen Welt akkreditiert war, und von Adolf Endler, der als Redakteur der Neuen Deutschen Literatur tätig war. Endler schrieb in seiner Besprechung im Sonntag, Kratschmer habe sein Vorwort den Lesern „gereizter als der nüchtern boxende Neger“ um die Ohren geschlagen, und zitierte zugleich aus einem Brief von Kratschmer an Endler. Im Nachhinein bezeugt Kratschmer, daß Endlers Rezension des Mut-Bändchens eine „notwendende Hilfe“ war. [4]Zunächst hatten sich daraus keine negativen Folgen ergeben. Das noch ganz freie Zusammenwirken konnte weitergehen. Hannes Würtz ermöglichte den ausgewählten Gedichten jugendlicher Schreiber in der in der Jungen Welt eingerichteten Rubrik „Offene Fenster“ weiterhin die wichtige breite Öffentlichkeit. Würtz erhielt täglich Dutzende Briefsendungen an seine Redaktionsanschrift,. Kratschmer organisierte indessen im heimischen Thüringen Treffen ihm besonders auffallender junger Talente. Das Echo dieser Aktion hielt sich für Jahre. Dr. Kratschmer, mittlerweile über das Jugendgedicht promoviert, sichtete die zugesandten Texten und veröffentlichte schließlich gemeinsam mit Hannes Würtz einen Auswahl daraus. Die Auswahl kam gut an und stellte sie damit sogleich vor ein immanentes Problem. Für ein privat organisiertes Autorentreffen gab es auf Dauer keine Bestandssicherung gegen staatliche Aufsichts- und
Kontrolleinrichtungen. Zwar lag gerade die Förderung junger Talente damals im offiziellen DDR-Trend, aber auch das hatte im durchorganisierten Rahmen der sozialistischen Organisationswelt zu erfolgen. Kratschmer und Würtz mußten also beim Zentralrat anklopfen, ihn notgedrungen ins Boot nehmen, und wurden sogleich selbst lediglich auf die sichere Staatsyacht genommen. Der Zentralrat der FDJ, der die Dimension und seine Möglichkeiten sehr wohl erkannte, riß die im Grunde lose Poetenbewegung an sich und suchte deren Staatstreue durch Zentralisierung zu gewährleisten.
Die Unterlagen des Werdegangs bis zum ersten 1. Zentralen Poetenseminar im August 1970 liegen vollständig vor. Sie beweisen zunächst den Instrumentalisierungswunsch seitens des Veranstalters, des Zentralrats der FDJ. Die erste Zwischeneinschätzung über die Tätigkeit des Arbeitskreises sozialistische Dramatik beim Zentralrat stammt vom 6. Oktober 1969. Sie beinhaltet zugleich den Beschluß des Sekretariats des Zentralrates, die Konzeption zur Durchführung betreffend. Das Papier bildet bereits das später durchgezogene Konzept ab. Veranstalter waren neben dem Zentralrat der FDJ die Bezirksleitung der FDJ Schwerin und der Deutsche Schriftstellerverband der DDR. Schwerpunkt wurde die „politisch-ideologische Arbeit mit den jungen Talenten im Sinne der Erklärung der Kulturpolitik der SED“. Die „schriftstellerischen Talente“ sollten „praktische Hilfe von Berufsautoren bekommen“, die Besten sollten für ein anstehendes deutsch-sowjetisches Treffen „einen Lyrikabend gestalten“. Auf der Tagesordnung standen außerdem „Begegnungen der Landarbeiterjugend mit den literarischen Talenten“. Außerdem war das 1. Poetenseminar als Gedankenaustausch „anlässlich des 100. Geburtstages W.I. Lenins“ gedacht. Dieser vorformulierte Wille blieb prägend. Bereits zum 1. Zentralen Poetenseminar sollte die spontane junge Poetenbewegung auf einen festen Kurs gebracht werden. Hatte Kratschmer versucht, Jugendliche zum Schreiben zu provozieren, baute der Zentralrat der FDJ auf Einschwörung und Instrumentalisierung. Zunächst schien diese Rechnung sogar aufzugehen. Das ideologische Interesse sollte erst Mitte der achtziger Jahre zu bröckeln beginnen In den Beschlüssen von 1969 wurde als Austragungsort für das 1. Poetenseminar im Jahr 1970 zunächst Güstrow ins Auge gefaßt. Wegen dortiger Ausschreitungen bei den Arbeiterfestspielen im Vorjahr legte man sich schließlich lieber auf das in sich abgeschlossene Schweriner Schloß fest. Das Alter der Teilnehmer sollte zwischen vierzehn und 25 Jahren liegen, die Teilnehmerzahl wurde auf ungefähr einhundert begrenzt. Das Auswahlverfahren erstreckte sich von der Kreis- über eine Bezirksausscheidung bis zur Jury des FDJ-Zentralrates.
Die Kosten der Veranstaltungen, etwa 10.000 Mark der DDR trug ebenfalls der Zentralrat der FDJ. Pro Teilnehmer und Teilnehmerin wurde ein Beitrag von 10 Mark erhoben.[5] Der Sekretär des Zentralrates, selbst Gründer und Akteur des legendären „Oktoberklubs“[6], Dr. Hartmut König, klärte die Notwendigkeiten mit Walter Ulbricht ab. Ulbricht riet, die Poetenseminare wie die auf Linie gebrachte „Singebewegung“[7] zu entwickeln. Ebenso formuliert es dann auch der Beschluß vom 19. Februar 1970, „alle vorhandenen schriftstellerischen Talente der Jugend zu entwickeln und zu fördern und sie entsprechend dem Modell der Singebewegung in Interessen- und Klubgemeinschaften zusammenzuführen“.[8] Das war der Intention des Spiritus rector der Jugendpoetenbewegung zwar vollkommen entgegengesetzt.
Dennoch nahm das Ehepaar Edwin und Margarete Kratschmer nach Einladung am 1. Poetenseminar 1970 als Seminarleiter teil. Sie schieden jedoch bereits nach dem 1. Poetenseminar freiwillig aus, nachdem sie gesehen hatten, daß die Poetenbewegung politisch völlig vereinnahmt worden war.[9]

Seminarleiter und Seminaristen

Die Seminarleiter wurden zum einen aus dem Wissenschaftsstab Literatur, aus dem universitäreren und dem Zeitschriftenbetrieb gestellt. Zum anderen wurden auch Seminarleiter aus dem Kreis der wiederholt eingeladenen Talente berufen. Einige der geladenen  Talente galten ab Mitte der siebziger Jahre bereits als „Stammkunden“.
An dieser Stelle einige Erinnerungen der Seminaristen Richard Pietraß und Lutz Rathenow. Sie bezeugen zumindest aus ihrer Sicht eine gewisse Janusköpfigkeit. Sommer 1971. Lutz Rathenow lebte und studierte an der Friedrich-Schiller-Universität in Jena. Er war durch Edwin Kratschmer in Schwerin empfohlen worden. Einige Tage vor dem Beginn des 2. Poetenseminars bekam Rathenow von einem Mitglied des Zentralrats der FDJ Besuch. Er dürfe teilnehmen, klar, ein Problem seien dagegen seine schulterlangen Haare. Beim Abitur mußte er sie hinterm Kragen verstecken. Rathenow war stolz auf seine langen Haare, der Besucher vom Zentralrat riet (Diktaturen haben ihre
Unnachahmlichkeiten), sie abzuschneiden, er könne sich doch „eine Perücke draus machen und sie ab und zu aufsetzen“. Rathenow wollte seine Haare nicht abschneiden
und kam er erst mal nicht zum Poetenseminar.
Richard Pietraß war, wie auch Jürgen Fuchs, beim ersten Poetenseminar dabei. Für sein Empfinden teilten sich die gebetenen Poeten in gehätschelte Stars, die man bewusst ausgeguckt hatte und die als Vorzeigetalente fungieren sollten. Galionsfiguren, die gebraucht wurden, mit denen man etwas machte, etwas wie Transparente, die man in die Öffentlichkeit hält. Pietraß, der hoffte, beim Poetenseminar Seminarleiter zu finden, die ihm etwas beibringen, „eine Leuchte“ aufsetzen konnten, resümiert dagegen, „Förderung der DDR war förderlich“. Sagt, da wäre zuerst der Sport, den man mit großem Aufwand unternahm. In der DDR sollte kein Talent (im Sinne des Transparents) ungefördert bleiben, das wurde auf den Bereich des Künstlerischen eins zu eins übertragen.
Pietraß sieht im Rückblick die Seminarleiter in sehr unterschiedlichen Niveaus.
Das reichte von welchen, die es kaum besser konnten, bis zu „erfahrenen Hasen“.[10] Anleiter wie Dr. Dr. Reinhard Weißbach etwa sahen sich selbst als Dichter. Solche Seminarleiter versuchten die zum Lernen gebetenen Poeten, durch ein „machohaftes männliches Gebaren“ „durch aufschneidendes selbstbewußtes Gehabe“ zu beeindrucken.
Laut Pietraß wurde so versucht, „die jungen Leute sehr rasch einzusacken“.[11] Richard Pietraß erzählte im Interview, wie er und Jürgen Fuchs, beide Psychologiestudenten, ein „bißchen“ genauer hinguckten, um die „Abgründe der Seele zu erspüren“. Pietraß meint gemerkt zu haben, „daß der Mann auch gefährlich war, daß er auch demagogisch war, wenn’s drauf ankam“. Eine mitgeteilte Nachtszene im Schweriner Schloß: Der „Doppeldoktor“ Weißbach, im Halbsuff, tönte: „Und dann nehmen wir einen Panzer und fahren vors Kulturministerium!“ Die Stimmung, diese „brachiale Gesinnung“, daß man sich eines Panzers bemächtigt, um etwas durchzusetzen, wirkte auf Pietraß nachhaltig. Aber nicht nur Pietraß hatte sein Aha-Erlebnis mit der „ideologisch groben, angstmachenden Gewalt“[12] Hoffnungen erweckten die Gesprächsaussichten mit den berühmten Autoren, deren Werke man auch selbst in Buchläden gekauft und gelesen, mitunter verschlungen hatte. Man fuhr durchaus für eine Karrierewoche nach Schwerin, jeder Geladene war zunächst „einer von den Guten“[13] Man war von großen Namen umgeben. Man fuhr nicht bloß sozusagen, man fuhr tatsächlich in eine andere DDR, was hier geboten wurde, gab es sonst im Land nicht. Ein abgeschlossener Raum aus Schutz, Förderung, auch Prestige en gros. Dieser Glaube wurde genährt. Die Liste der zu Gesprächen eingeladenen Autoren weist alle großen Namen des DDR-Literaturbetriebs auf. Die nicht nach Schwerin eingeladen wurden, waren bereits mit dem System angeeckt (beispielsweise Erich Loest). Von der Funktionärsebene gesucht war Ermahnendes, an einen Auftrag Erinnerndes. Auch da gibt es einen bestimmten Duktus des Lehrgedichts, sehr nah an der Überflieger-Ausdrucksweise Bertolt Brechts, der sowohl von Funktionären wie von Autoren benutzt wurde. Zitat: „Politisches im Gedicht, das setzt voraus, eigene Erfahrung aus weiterem Blickwinkel als dem ganz privaten zu verallgemeinern. Das braucht künstlerische Individualität, ist eben das Brot, an dem wir miteinander zu backen haben.“ Dieses Miteinander rieb sich erst spät an einem bestimmten Punkt des Individuellen auf. Und zwar weder an Meinungsverschiedenheiten, künstlerischer Eitelkeit oder künstlerischem Neid: In der täglich herausgegebenen Seminarzeitung Rote Feder ging es heiter im Schreibkollektiv zu. Die Inhalte kamen mit der Leichtigkeit und Spitzfindigkeit der Schülerzeitschriften daher. Die Seminarleiter, die, wie Mathilde Dau, zu  Beginn der achtziger Jahre zum Poetenseminar kamen, setzten sich nach eigener Aussage von ideologischen Vorgaben ab, indem sie sich auf die Kunstform konzentrierten. Aber auch sie stuften das Zentrale Poetenseminar im Kulturbetrieb des Landes ganz hoch ein, sahen es „insgesamt als Auszeichnung“, dort mitwirken zu dürfen. Sie gehörten damit vermeintlich zu den Besten im Lande.
Alle bisher interviewten Seminarleiter stellen die Seminarwoche insgesamt als besondere,
einzigartige Atmosphäre dar, die es in der übrigen DDR in dieser Form nicht gab. Die erwünschten FDJ-Hemden und FDJ-Blusen hinderten nicht an einem offenen, freizügigen Diskurs, der auch über die Texte hinaus zurück in das Allgemeine ginge.  Nur jeder vierte erfüllte den Bekleidungswunsch des Zentralrats. Repressalien für freizügig geäußerte Meinungen in Schwerin sind bis heute nicht nachgewiesen, obwohl  das Ministerium für Staatssicherheit Spitzel unter den Talenten hatte, Hans Brinkmann, Hannelore Becker, Gabriele Eckart seien hier erwähnt.
Mathilde Dau teilte mit, daß sie noch lange nach dem Ende der DDR und damit auch des Poetenseminars Post von ehemaligen Teilnehmern erhielt, in der sie zu hören bekam, wie außerordentlich bedauerlich es sei, daß es nicht immer so sein könnte wie in der Republik. Ausgeblendet blieb in allen Befragungen, daß in dieser Republik für ein „unbedachtes“ Gedicht der Tatbestand der staatsfeindlichen Hetze existierte, jener berüchtigte § 106 StGB der DDR, der mit U-Haft, Verurteilung, Gefängnis drohte. Diese
Möglichkeit kam für die Schweriner „Vorzeigeseminare“ nicht in Betracht.

Reglementierungen

Im Jahr 1974 reiste die junge Geraer Delegation mit ihrem Vorsitzenden Lutz Rathenow zum 5. Zentralen Poetenseminar an. Der Auftritt machte Furore. Der Jenaer Wäschereiarbeiter Bernd Markowsky, der Delegationsleiter Lutz Rathenow, der Philosophiestudent Siegfried Reiprich, Wolfgang Hinkeldey und Udo Scheer reisten gut gestimmt in Schwerin an. Markowsky probte, seinen Programmbeitrag singend, auf der Straßenbahnfahrt zum Schloß. Auch die Geraer Gruppe wurde einem Seminarleiter, in ihrem Fall Hannes Würtz, zugewiesen. Dann ging es darum, wer Lyriker war, wer mehr Prosa schrieb oder sich mit Dramatik beschäftigte. Unter Leitung von Würtz las die Geraer Gruppe die eigenen Werke zunächst vor und bewertete sie gegenseitig. Dann folgten halböffentliche Lesungen in Schulen, und Betrieben.
Die Geraer Gruppe las vor einer Armeeeinheit. Unter anderen trug Udo Scheer dort das Gedicht „Sicher“ vor, das Hannes Würtz besonders gefallen hatte. Der Anfang des Gedichts lautet: „Sicher / spielt jede mauer / jung und glatt spielt jede mauer / mit dem wind.“ Am Ende handelt das Gedicht von einem unausgesprochenes Etwas, „das dann wächst / das dann drauf wächst / zu den büschen sich auswächst / die wachsen zu / darüber / irgendwann.“ Dieses Gedicht „Sicher“ markiert den Auftakt für „das ereignisreichste Jahr“.[14] Die damals direkt Beteiligten sprachen mit dem Verfasser über die Vorgänge.[15]
Kathrin Schmid: Als im Bauernhof Mues Bernd Markowsky auftrat. Da war ich dabei, da habe ich im Publikum gesessen, und ich fand das ganz großartig, was der machte, ohne das zu verstehen.
Hannes Würtz: Den hatte ich selbst in der Gruppe. Wir mußten zu einer Armeeeinheit, irgendwo auf dem Berge; und da war Markowsky schon unterwegs, der sang schon in der Straßenbahn.
Udo Scheer: Es war ’ne seltsame Atmosphäre. Die Soldaten waren dahin delegiert, die mußten eben dort sitzen, die interessierten sich einen … für Lyrik, und dann kam ne Frage nach Leserbriefen und Lyrik, und Markowsky nahm eine dieser Zeitschriften, Armeerundschau, blätterte durch und fand in einem Gedicht, daß die MP die Braut des Soldaten sei. Und Markowsky sagte: Das ist Pornographie für mich.
Hannes Würtz: Markowsky hat dann irgendwo die Leute aufgefordert, ihre Waffen
wegzuschmeißen.
Udo Scheer: Es gab dann so ’n kurzen hitzigen Disput. Bis einer der Offiziere aufsprang,
rauslief und wiederkam und meinte, wir könnten das Gespräch draußen fortsetzen. Das war also ein erster kleiner Eklat.
Hannes Würtz: Da hat die Armee natürlich einen Bericht gegeben. Und dann ging es abends noch weiter.
Lutz Rathenow: Bernd Markowsky sang auf einer öffentlichen Veranstaltung zwei Kinderlieder von Wolf Biermann.
Udo Scheer: „Francois, der Friedensclown“, ein wunderschönes hübsches Liedchen, ohne den Verfasser zu nennen, der öfters auch bei uns in Jena war. Heinz Kahlau, kriegte das mit – Heinz Kahlau war mit Biermann bis ’65 befreundet, bis der verboten wurde, und hat sich dann von ihm distanziert.
Rundfunk der DDR: Könnte ein Volk den Absturz vertragen von Goethes „Edel sei der Mensch, hilfreich und gut“ zu Biermanns Reimerei „Es war einmal ein Mann, / der trat in einen Scheißhaufen“? Bei einem solchen geistigen Absturz, muß sich eine humanistische Nationalkultur den Hals brechen. Unweigerlich. Was aber ist an Biermann zu verunglimpfen, was er nicht selbst schon längst verunglimpft hätte?
Udo Scheer: Und er wollte auf die Bühne und wollte Markowsky runterzerren und ihm verbieten, weiterzusingen. FDJ-Funktionäre haben das verhindert, er durfte weitersingen.
Lutz Rathenow: Die entsprechenden Mitarbeiter des Zentralrats der FDJ sind offenbar gebildete Menschen, sie kennen auch die Literatur, die nicht veröffentlicht wurde in der DDR, und haben sofort gemerkt: Das ist Biermann. Aus meiner Erinnerung her hat sich da Heinz Kahlau rasch als Mahner da in Pose geworfen und das dann weitergemeldet, und dann gab es eine Nacht lang Gespräche. Jeder allein, dort zwei Gesprächspartner, und ich hatte irgendeinen Autor aus Berlin und noch einen älteren verdienten Autor aus Nicht-Berlin, und ich sollte mich irgendwie von dem Auftritt distanzieren.
Udo Scheer: Wir in unserem demokratischen Selbstverständnis damals sagten: Nö, das machen wir nicht. Also wenn, dann wollen wir das vor der ganzen Gruppe diskutiert haben, vor allen Teilnehmern. Und wenn die Mehrheit der Meinung ist, daß Markowsky gefehlt hat, dann muß er das Seminar verlassen, ansonsten weigern wir uns, seinem Ausschluß zuzustimmen.
Hannes Würtz: Und da wurden die Leute dann nach Hause geschickt.
Lutz Rathenow: Am Morgen wurde uns dann kundgetan, daß Bernd Markowsky das Gelände verlassen müsse, daß er verboten ist, daß er nicht mehr teilnehmen darf, er ausgeschlossen wird, er kriegte Hausverbot.
Udo Scheer: Markowsky fragte: Wie weit geht dieses Gelände? Das Gelände geht so
weit, daß du ins Auto einsteigst und von hier verschwindest.
Lutz Rathenow: Da solidarisierten wir uns.
Danach, sagte Kathrin Schmidt im Interview[16], sei es unterschwellig und in jedem folgenden Poetenseminar darum gegangen, daß das nie wieder geschehen dürfe. Nicht alle eingeladenen Talente sahen die Seminarwoche freilich dermaßen kritisch.  Für das Gros der geladenen Poeten sah die Sache sogar anders, positiver, aus. Auf dem  Weg nach Schwerin zu sein bedeutete möglicherweise, alsbald zu den gelesenen Autoren und Autorinnen der DDR zu gehören.

Gruppensound und Solostimme

Zunächst die Redner. Sie gehörten bei den Poetenseminaren zu den Funktionären. Die Redeinhalte waren abgesicherte, auf das formale Ziel der Einbindung der jungen aufstrebenden
Intelligenz in den Staat hin gebaute Werbetexte. Die Grade zwischen Plauderton (Hartmut König), freundlich formuliertem Duktus (Klaus Höpcke) oder Dozierendem (Mathilde Dau) zeigen die unterschiedliche Repräsentanz und Stimmlagen der Vereinnahmungswoche in Schwerin. Es gab freilich keine gänzlich einheitliche Ausrichtung.
Trotz ihrer Staatstreue zeigten sich auch bei Funktionären in anderen Aufgabenbereichen
ganz unterschiedliche Ambitionen. Dr. König, als Sänger, Texter, Komponist und Leiter des die Singebewegung anführenden „Oktoberklubs“ wohl dazu geeignet, baute auf „einen guten Draht“, zeigte sich von „seinem Charakter her als Kumpeltyp“.[17] Philipp Dyck, verantwortlich für die Organisation  der Poetenseminare, sorgte seinerseits dafür, daß die Empfehlungen der Staatssicherheit betreffs der „Herauslösungen“ kritischer Teilnehmer nicht umgesetzt wurden. Die Herausgeber des erwähnten täglichen Kritikorgans Rote Feder, von manchem spöttisch „Poetenbummi“ genannt, wurden von Uli Kolbe in seinem Text in der im Auftrag des Zentralrates der FDJ von Waltraud Böhm und in dem als Gedichte-Prosa-Auswahl von Hinnerk Eichhorn herausgegebenen Jubiläumsband Hoch zu Roß ins Schloß derart porträtiert: „Die sich damals die Sache ausdachten, waren Enthusiasten. Und nicht weniger engagiert bemühten sich alle bisherigen Redaktionsjahrgänge, den Seminarteilnehmern Begleiter, Informator, Chronist, Denkanstoßer zu sein, dabei auch den Spaß nicht zu kurz kommen zu lassen.“[18] Zwecks Einbindung des Poetennachwuchses wurde mit Preisen und Auszeichnungen nicht gespart, „Gelungenes“ ausführlich im Neuen Deutschland wiedergeben. Auf die zunächst 1970 und 1971 erschienenen Sammlungen von Gedichten im Sonderheft Poetenseminar etablierte man im Verlag des Poesiealbums – für neunzig Pfennige dreißig Seiten Lyrik – im Format einer eigenen Reihe. Die Hefte waren jedes Mal schnell vergriffen. Die Stimmung war zu diesem Zeitpunkt noch enthusiastisch, gläubig, auch bisweilen hymnisch.
Eine der großen Ausnahmen mit eigener Stimme war Jürgen Fuchs mit seinem im Sonderheft Poetenseminar 1971 abgedruckten Gedicht im Stile von Johannes Bobrowski. Das Gedicht enthält sich jeder Pose. Jürgen Fuchs ist schon der stille, aber insistierende
Beobachtern mit eigenem Vokabular. Seminaristen wie Fuchs waren freilich Ausnahmen. Das Gedicht „Nagasaki“ zeigt das: Warnung Wort / Wollt hören / Und bitte Leben“ will sagen: Nehmt mir meine Stimme nicht, sie gehört mir. In den insgesamt zwanzig Poetenseminaren von 1970 bis 1989 – nicht neunzehn, wie bisher häufig und auch vom MfS geschrieben – gehörte Jürgen Fuchs ganz ohne Zweifel zu den herausragenden Solostimmen.

Trudelnd dem Ende entgegen

Das Protokollant des 19. Seminars hielt fest: „Der Inhalt des von den Teilnehmern mit lang anhaltendem Beifall angenommenen Grußschreibens an den Generalsekretär des ZK der SED und Vorsitzenden des Staatsrates der DDR, Erich Honecker, ihre politischen Haltungen und Argumentationen in den Seminargruppen sowie Diskussionen mit dem Stellvertreter des Ministers für Kultur, Klaus Höpcke, sowie einer Delegation des Sekretariats des Zentralrates der FDJ und vor allem ihre vorgelegten schriftstellerischen Proben widerspiegeln ein klares politisches wie künstlerisches Bekenntnis zu ihrer sozialistischen Heimat, zur Politik des VIII. und IX. Parteitages der SED. Dabei wurde zugleich deutlich, daß der bedeutsame Dialog, den Genosse Erich Honecker im Juni 1979 mit Kultur- und Kunstschaffenden führte, auch auf die jungen schriftstellerischen Laienschaffenden ausstrahlt und ihr Vertrauen in die revolutionäre Entwicklung bestärkte. Der Beschluß der Berliner Organisation des Schriftstellerverbandes über den Ausschluß von Mitgliedern [gemeint waren Jurek Becker, Günter Kunert und andere; [A.R.], die die Statuten des Verbandes durch Angriffe und Verleumdungen gegen die Republik auf das gröblichste verletzten, wurde von den jungen Poeten in vielen Gesprächen begrüßt.“[19] Im weiteren führt der Protokollant aus, daß „die literarische Aussagekraft weiter gewachsen“ sei, der Zentralrat den Entwicklungsweg der begabten jungen Talente weiter fördern werde, die nach seiner Auffassung besten Arbeiten in seinen Publikationsorganen und über Veröffentlichungen des Verlages „Neues Leben“ einem „breiten Lesekreis“ zugänglich machen werde. Der Staat hielt seine Angebote stabil.
Das alles änderte sich schlagartig ab dem Jahr 1983. Kurz nach dem Dreimilliardenkredit
– vom bayerischen Ministerpräsidenten Franz Josef Strauß an den Generalsekretär des Zentralkomitees der DDR Erich Honecker übergeben – begann die unpoetische, unliterarische Ausreisebewegung in der DDR, die auch auf das Klima in den Poetenseminaren durchschlug. Die Dresdner Dichterin Undine Materni erfuhr das nach der Lesung ihres Gedichts: „Es ist nur, daß ich meinen Namen / daß ich einen Namen in den Wind mit Schaudern sage / und daß die Axt sich legt mir zwischen Sinn und  Wort. / Es wächst die Bitternis wie eine böse Rose, / der Sommer kommt / nicht mehr in diesem Jahr, / der Weg zum Wald bleibt / unbegangen. // Und schweigend leg ich / meine Hand in meine Hand, / ein Treffen weiß und / ungewiß in fremdem Land“. [20]Das reizte derart, daß „wirklich und wahrhaftig in einem dieser Seminare jemand aufstand“  und die schrie, „er habe die Schnauze voll von diesen Ausreisegedichten“[21]Materni: „Ich, die ich aus der Provinz kam, die ich noch nie ’nen Gedanken daran verwendet  hatte, auszureisen, ich wahr ehrlich perplex, ne, da fehlten mir die Worte.“[22] Auch gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen FDJ und MfS durchaus kontrovers. In den Akten des Zentralrats der FDJ im Bundesarchiv in Berlin findet sich kein Hinweis auf eine Zusammenarbeit mit dem MfS. Der fand sich in einem bisherigen Umfang von 138 MfS-eigenen Berichtseiten bei der BStU. Zitat: „Nach erfolgter Auswahl der Teilnehmer am Poetenseminar und nach Benachrichtigung dieser Personen durch den FDJ-Zentralrat erfolgte eine Mitteilung über den teilnehmenden Personenkreis an dem […] Poetenseminar durch die Hauptabteilung XX an die Diensteinheiten der einzelnen Bezirksverwaltungen. Durch verschiedene Diensteinheiten wurde die Hauptabteilung XX/2 ersucht, Personen, die durch den FDJ-Zentralrat als Teilnehmer zum Poetenseminar nach Schwerin delegiert wurden, aus dem Teilnehmerkreis herauszulösen. Durch den Zentralrat wurde keine dieser Herauslösungen realisiert.“[23] Im Verhältnis zwischen Zentralrat und Staatssicherheit überwog in der institutionellen Hierarchie der Zentralrat, der allein der SED gegenüber rechenschaftspflichtig blieb. Das MfS spielte wohl eher die Rolle des Bodyguards, auf dessen Anwesenheit man zwar baute, dessen Meinung jedoch nicht immer gefragt war. Wie die Stasi an die Informationen kam, läßt sich nur vermuten. Kerstin Hensel, heute Professorin für Poetik, fand in ihren Akten Originale einiger ihr seinerzeit in Schwerin abhanden gekommener Gedichte wieder. Im Stasi-Aufgebot der Informanten arbeiteten damals namhafte Autoren wie Hermann Kant und Heinz Kahlau und auch im Aufgebot der nach Schwerin geladenen jungen Talente.
Wie bisher ausgeführt, galt das Zentrale Poetenseminar als offenes Podium. Das MfS, in der Funktion des politischen Bodyguards, versuchte Störungen einzuschränken. Die vorab vollzogenen Evaluationen führten in zahlreichen Fällen nicht zum Erfolg, im Fall des in Suhl lebenden Schriftstellers Holger Uske kam es nicht zur gewünschten, Herauslösung“. Die Bezirksverwaltung für Staatssicherheit Suhl, Abteilung XX. Ministerium für Staatssicherheit meldete der Hauptabteilung XX nach Berlin: „Nach vorliegenden nicht bestätigten inoffiziellen Hinweisen soll der Uske, Holge […] zum 11. Zentralen Poetenseminar als Berater bzw. Seminarleiter eingesetzt werden. Uske, Holger wird ebenfalls vorgangsmäßig bearbeitet; durch ihn wurden bei der Lesung eigener literarischer Arbeiten zersetzende und feindliche Positionen und Ideologien vertreten und verbreitet. U.a. ließ er sich 1980 nachkonfirmieren. Ich bitte zu veranlassen, daß Uske, H. aus dem 11. zentralen Poetenseminar der FDJ herausgelöst wird.“[24] Holger Uske, damals im Elektrogerätewerk Suhl beschäftigt, mit einer Freistellung zur Seminarwoche vom Generaldirektor vorab belobigt, fuhr trotz der erhaltenen Ausladung nach Schwerin. Er tat so als habe er den ablehnenden Bescheid gar nicht bekommen.
Man zeigte in dieser Phase ein neues Selbstvertrauen und Humor, wie folgendes Zitat aus einem Auswertungsprotokoll des MfS in Berlin, vom 11. September  1986 beweist: „Die Durchführung der Seminare und Veranstaltungen P. verlief ohne Besonderheiten. Eine Ausnahme bildete die Seminargruppe des Schriftstellers Walter Flegel, der als NVA-Offizier und Autor von Büchern über die NVA bei einigen Teilnehmern auf ‚Ablehnung stieß. Sie nahmen an den Seminaren mit Flegel nicht teil und sahen sich stattdessen lieber Sehenswürdigkeiten in Schwerin an.“[25]  Zu diesem Zeitpunkt etwa kam die Prenzlauer-Berg-Szene ins Gespräch.[26] Eine andere Welt für „Gegenbewegungen“ tat sich auf. In einer MfS-Information über das 19. Zentrale Poetenseminar, „Streng vertraulich! Um Rückgabe wird gebeten!“ wurde festgestellt, daß es seitens der Organisationsbüros der FDJ kaum mehr einen merklichen Einfluß auf die „Diskussionsinhalte in den Veranstaltungen“ gab. „Eine Reihe von Teilnehmern“ sei auf offene Distanz zu den FDJ-Funktionären gegangen. Es gab Äußerungen in internen Diskussionen, die die FDJ als „im Zeichen der untergehenden Sonne“ charakterisierte. Die Information schließt mit der zusammenfassenden Einschätzung, daß sich das Zentrale Poetenseminar der FDJ „von seiner ursprünglichen politisch-inhaltlichen Aufgabe, der politisch-ideologischen Erziehung junger Schreibender im Sinne der Kulturpolitik der SED, stark entfernt hat“.

In:  Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, 19/2006, S. 61f.



[1] 1 Und Mut gehört zum Wort. Schüler schreiben. Erste Versuche. Hrsg. im Auftrag des Kreiskulturhauses  Saalfeld. Genehmigungsnummer: Nr. 212/64,1964, S. 5 f. 
[2] Reitel, Axel: Jugendstrafvollzug in der DDR am Beispiel des Jugendhauses Halle. Berlin 2006, S. 10.
[3] Schnappauf, Dietrich: Und Mut gehört zum Wort. In: Und Mut gehört zum Wort, S. 11.
[4] Das Interview fand am 29. Januar 2004 in den Räumen des Kratschmer-Würtz-Archivs der Friedrich-Schiller-Universität Jena statt. Vgl. auch Edwin Kratschmer: Zwiegesicht. Stationen & Spiegelungen. Jena 2000, S. 51-83. 64.
[5] SAPMO-BArch, DY/24, Nr. 13/70 B 8.
[6] Interessant ist vielleicht, daß der „Oktoberklub“, der unter dem Bandnamen Hootenanny begann, kurz vor dem Verbot stand, sich dann besann, der Gängelei nachgab und, mit neuer Erlaubnis versehen, sich als „Oktoberklub“ gründete.           
[7] Vgl. Interview Dr. Kratschmer.
[8] Ebd.

[9] Ebd.
[10] Interview mit Richard Pietraß vom 23.4.2004.
[11] Ebd.
[12] Ebd.
[13] Interview mit Undine Materni vom 26.1.2004 in Dresden.

[14] Das Interview mit Hannes Würtz fand 2004 Berlin statt.
[15] Reitel, Axel: Junge Poeten zum Lernen gebeten. Feature, DLR Kultur, 2005.

[16] Das Interview mit Kathrin Schnidt fand 2004 in Berlin statt.

[17] Ebd.
[18] Schmidt, Kathrin: Im Seminar. In: Hoch zu Ross ins Schloß. 15 Jahre Poetenbewegung der FDJ.
Berlin 1986, S. 106.
[19] SAPMO-Barch, Zentralrat der FDJ, Zentralarchiv, DY/24, Nr. 112227.                                      
[20] Vgl. Axel Reitel, Junge Poeten zum Lernen gebeten, Radiofeature, Deutschlandradio Kultur, 2005.
[21] Ebd.
[22] Ebd.
[23]BStU, ZA, MfS HA XX, Nr. 7321.
[24] OV „Kessel“, Privatarchiv Holger Uske.
[25] BStU, ZA, MfS HA XX/9, Nr. 155.

Offener Brief: An den Geschäftsführer Lars Kleba, Die Linke Sachsen, und Protestschreiben des P.E.N. Zentrums deutschsprachiger Autoren gegen die Willkürmaßnahme des Oberbürgermeisters von Reichenbach (Vogtland), Henry Ruß

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