Samstag, 9. Juli 2022

"Klosterrunie y Pogo Bar": Quorum versus Vakuum. Einführung in den Veranstaltungsabend "Offene Fenster", 24. Juni 2022

 

Quorum versus Vakuum

Foto: https://kgberlin.net/gallerys/klosterruine-berlin/

Einführung zur Veranstaltung KLOSTERRUINE X POGO BAR: VERENA BUTTMANN UND NICLAS RIEPSHOFF
OFFENE FENSTER, 24. Juni 2022, in der Klosterruine (zerstört am 03. April 1945), Klosterstraße 73a, 10179 Berlin,

um 19.30 Uhr

von

Axel Reitel

Zuvor, zur Erläuterung, aus dem Pressetext: „Ein            Abend über die Zukunft, weshalb Verena Buttmann und Niclas Riepshoff auf die Vergangenheit schauen. Den Ausgangspunkt bilden Gedichte, die zwischen 1965 und ’89 in der DDR von Jugendlichen verfasst und von dem Lehrer und Publizisten Edwin Kratschmer gesammelt wurden. Dieser veröffentlichte über einen Zeitraum von etwa 20 Jahren eine Auswahl dieser Gedichte in insgesamt neun Bänden unter dem Titel „Offene Fenster“. Der erste Band erschien 1967. Vor der offenen Kulisse der im ehemaligen Osten der Stadt gelegenen Klosterruine wird die Lyrik junger Menschen, die im Spannungsfeld von staatlicher Lenkung und Emanzipationsstreben entstanden ist, neben Musik von heutigen Jugendlichen gestellt.

Diese Anordnung spürt der Frage nach, wie sich ein                                                                                  'Jugendgefühl' in unterschiedlichen zeitlichen und                                                                                        gesellschaftlichen Kontexten ausdrückt und welche                                                                                      möglichen Potenziale „pubertäre Zustände der                                                                                      Gesellschaft über den biosozialen Lebensabschnitt                                                                                          hinaus hervorbringen könnte


n.“

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Und nun der Einfühungstext in die Veranstaltung.
Lesezeit etwas 15 Minuten 

             Foto: wird jeweils nachgetragen 

Kein Sturz, dem nicht die Abweichung vorausginge.“ Keine Abweichung, der nicht ein Wunder folgen kann. Die Abweichung ereignete sich 2004 im Berliner Norden per Rad auf einem wegbrechenden Gefälle, am Rand eines wuchernden Kraters, mit auffällig vielen Baumgruppen und ihren ausgeprägten Gabelungen. Ich wurde mit Caracho gegen die nächststehende Baumgruppe geklatscht. Der abrupte Erdrutsch mal der Geschwindigkeit meiner Masse ließ wirklich einen hammermäßigen Zusammenprall erwarten. Das war das Ende. Uns so war mein letzter Gedanke dieser Gewissheit geschuldet: „Das war‘s“ Aber, unmöglich, saß ich im Gegenteil auf der anderen Seite der Gabel, ein Wunder, wieder fest auf meinem Rad. Und wenige Tage später füllte Hannes Würtz Wodka in unsere Gläser und erzählte im Interview von seiner Rubik Offene Fenster im FDJ-Organ Junge Welt, in der der Doyen der ostdeutschen Poetenbewegung, Edwin Kratschmer (Prof. Dr.) Lyrik junger Schreibender veröffentlichte, und mit dem auch die Poetenbewegung in der DDR ausging, doch nicht ohne dass ihr ein ähnlicher Gabel-Effekt vorausging. Im Schuljahr 1963/64 bekam der im thüringischen Unterwellenborn unterrichtende Edwin Kratschmer von seinem Schüler Peter Beitlich am Ende einer Literaturstunde einen Zettel mit folgendem Text auf den Lehrertisch geschoben: „Im Wasser schwimmt der Mond, / zittert matt und schlingert / unter mir. / Tief unten der Mond. / Ich, hohl und stumm. / Höhle. Vakuum. / Ich bin nicht gesprungen, / weil es Dich,/ Dich gibt.“ Kratschmer erkannte dieses Gedicht als einen Hilferuf. Ein Schüler gab ihm da ganz offensichtlich seine Suizidabsicht kund. Für Kratschmer Schreck- und Sternstunde zugleich. Er wurde aufmerksam auf die wichtige Aussagefunktion eines Jugendgedichts, „das über den üblichen Schulaufsatz hinaus dringliches Ventil sein und auf tief gehütetes Inneres verweisen wollte“. Kratschmer begann nun, sowohl seine eigenen Schüler zum Schreiben zu provozieren als auch – unter anderem im FDJ-Organ Junge Welt– republikweit Zeitungsaufrufe an schreibende Jugendliche in der der DDR zu schalten, ihm Gedichte und Geschichten zu schicken. Im Jahr 1964 schließlich legten Edwin Kratschmer und seine Frau Margarete Kratschmer 23 Texte von drei Jugendlichen unter dem Titel „Und Mut gehört zum Wort. Erste Versuche“ zu den vierten Arbeiterfestspielen vor. 

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Bei dieser Auswahl handelt es sich um Texte dreier seiner Schüler im Alter von fünfzehn und sechzehn Jahren. Auf die Frage, ob die Dichtung Jugendlicher ernst zu nehmen sei, sprach sich Edwin Kratschmer in seinem Vorwort mit einem „Dreimal Ja“ aus und antwortete zugleich auf die Entgegnungen. „Sollen Schüler Verse schreiben? Aber ich bitt’ euch, Jugendliche sind halbfertig. Ja, aus hundert Gründen. Und nicht zuletzt aus diesem. Wer sich selbst versteht, versteht die Dichtung besser. […] Unsere Jugend hat das dringende Bedürfnis nach echter Auseinandersetzung, und sie hat Fragen, Fragen, Fragen. Sie ist empört über jedes Unverständnis und über schwache Argumente. Sie ist auf der Suche nach Antworten. Unsere Jugend will keine festen Betten – sie will aber auch keine fertigen Rezepte. Sie will streiten und diskutieren, und sie haßt Vielredner.“[1] Das schrieb Kratschmer im Jahr 1964. Da ist schon Inhalt und vor allem der Ton der Perestroika von Michail Gorbatschow vorweggenommen. Auszug Gorbatschow: „Wir hatten alles so eingerichtet, daß nicht ein einziges wichtiges Problem, das die Jugend betrifft, aufgegriffen wird, ohne die Ansicht des Komsomol dazu zu berücksichtigen.“[2] Bereits der erste Text in Kratschmers Sammlung legt Jugendbedürfnisse offen. „Werd ich gefragt / was mir behagt / sag ich nicht: Die Behaglichkeit / und eventuell das Essen / Ich such den Streit / Versteht: Das Kräftemessen // Ich schreibe / und treibe Sport/ Es bringt mich in Glut / und macht Mut / Und: Mut gehört zum Wort // Und steh ich auf dem Podest / nach hartem Streit / dort wo man die Hand sich schütteln läßt / denk ich nicht: Es ist soweit / du bist am Ziel / Sondern: Der Anfang war gut / doch fehlt noch viel / Und: Es rostet leicht wer ruht.“[3] In der DDR bezeugte ein derartiger Text zweifelsfrei Mut. Und es gab noch mehr davon in diesem schmalen Bändchen, das zu Recht eine Welle von Reaktionen provozierte. Jeder einzelne Text in dieser Sammlung setzte sich dem damals vorherrschenden ideologischen Klima aus und war zugleich Not. Das haben nicht beliebig viele der später in den Sonderheften Poetenseminar veröffentlichten Texte gewagt. Was auf die Veröffentlichung der Sammlung Und Mut gehört zum Wort folgte, waren Totalverrisse. Darunter jene der Paladine der DDR-Führung, die mit ihren Entgegnungen weniger Verständnis als Unmut zeigten über das, was ihrer Meinung nach im Land nicht gewünscht war. Wichtig und tragend wurden jedoch die mutmachenden Stimmen. Sie kamen unter anderen von Hannes Würtz, der bei der Jungen Welt akkreditiert war, und von Adolf Endler, der als Redakteur der Neuen Deutschen Literatur tätig war. Endler schrieb in seiner Besprechung im Sonntag, Kratschmer habe sein Vorwort den Lesern „gereizter als der nüchtern boxende [Achtung N-Wort]“ um die Ohren geschlagen, und zitierte zugleich aus einem Brief von Kratschmer an Endler. Im Nachhinein bezeugt Kratschmer, daß Endlers Rezension des Mut-Bändchens eine „notwendende Hilfe“ war.[4]Zunächst hatten sich daraus keine negativen Folgen ergeben. Das noch ganz freie Zusammenwirken konnte weitergehen. Hannes Würtz ermöglichte den ausgewählten Gedichten jugendlicher Schreiber in der in der Jungen Welt eingerichteten Rubrik „Offene Fenster“ weiterhin die wichtige breite Öffentlichkeit. Würtz erhielt täglich Dutzende Briefsendungen an seine Redaktionsanschrift,. Kratschmer organisierte indessen im heimischen Thüringen Treffen ihm besonders auffallender junger Talente. Das Echo dieser Aktion hielt sich für Jahre. Dr. Kratschmer, mittlerweile über das Jugendgedicht promoviert, sichtete die zugesandten Texten und veröffentlichte schließlich gemeinsam mit Hannes Würtz einen Auswahl daraus. Die Auswahl kam gut an und stellte sie damit sogleich vor ein immanentes Problem. Für ein privat organisiertes Autorentreffen gab es auf Dauer keine Bestandssicherung gegen staatliche Aufsichts- und Kontrolleinrichtungen. Zwar lag gerade die Förderung junger Talente damals im offiziellen DDR-Trend, aber auch das hatte im durchorganisierten Rahmen der sozialistischen Organisationswelt zu erfolgen. Kratschmer und Würtz mußten also beim Zentralrat anklopfen, ihn notgedrungen ins Boot nehmen, und wurden sogleich selbst lediglich auf die sichere Staatsyacht genommen. Der Zentralrat der FDJ, der die Dimension und seine Möglichkeiten sehr wohl erkannte, riß die im Grunde lose Poetenbewegung an sich und suchte deren Staatstreue durch Zentralisierung zu gewährleisten. Die Unterlagen des Werdegangs bis zum ersten 1. Zentralen Poetenseminar im August 1970 liegen vollständig vor. Sie beweisen zunächst den Instrumentalisierungswunsch seitens des Veranstalters, des Zentralrats der FDJ. Die erste Zwischeneinschätzung über die Tätigkeit des Arbeitskreises sozialistische Dramatik beim Zentralrat stammt vom 6. Oktober 1969. Sie beinhaltet zugleich den Beschluß des Sekretariats des Zentralrates, die Konzeption zur Durchführung betreffend. Das Papier bildet bereits das später durchgezogene Konzept ab. Veranstalter waren neben dem Zentralrat der FDJ die Bezirksleitung der FDJ Schwerin und der Deutsche Schriftstellerverband der DDR. Schwerpunkt wurde die „politisch-ideologische Arbeit mit den jungen Talenten im Sinne der Erklärung der Kulturpolitik der SED“. Die „schriftstellerischen Talente“ sollten „praktische Hilfe von Berufsautoren bekommen“, die Besten sollten für ein anstehendes deutsch-sowjetisches Treffen „einen Lyrikabend gestalten“. Auf der Tagesordnung standen außerdem „Begegnungen der Landarbeiterjugend mit den literarischen Talenten“. Außerdem war das 1. Poetenseminar als Gedankenaustausch „anlässlich des 100. Geburtstages W.I. Lenins“ gedacht. Dieser vorformulierte Wille blieb prägend. Bereits zum 1. Zentralen Poetenseminar sollte die spontane junge Poetenbewegung auf einen festen Kurs gebracht werden. Hatte Kratschmer versucht, Jugendliche zum Schreiben zu provozieren, baute der Zentralrat der FDJ auf Einschwörung und Instrumentalisierung. Zunächst schien diese Rechnung sogar aufzugehen. Das ideologische Interesse sollte erst Mitte der achtziger Jahre zu bröckeln beginnen In den Beschlüssen von 1969 wurde als Austragungsort für das 1. Poetenseminar im Jahr 1970 zunächst Güstrow ins Auge gefaßt. Wegen dortiger Ausschreitungen bei den Arbeiterfestspielen im Vorjahr legte man sich schließlich lieber auf das in sich abgeschlossene Schweriner Schloß fest. Das Alter der Teilnehmer sollte zwischen vierzehn und 25 Jahren liegen, die Teilnehmerzahl wurde auf ungefähr einhundert begrenzt. Das Auswahlverfahren erstreckte sich von der Kreis- über eine Bezirksausscheidung bis zur Jury des FDJ-Zentralrates. Die Kosten der Veranstaltungen, etwa 10.000 Mark der DDR trug ebenfalls der Zentralrat der FDJ. Pro Teilnehmer und Teilnehmerin wurde ein Beitrag von 10 Mark erhoben.[5] Der Sekretär des Zentralrates, selbst Gründer und Akteur des legendären „Oktoberklubs“[6], Dr. Hartmut König, klärte die Notwendigkeiten mit Walter Ulbricht ab. Ulbricht riet, die Poetenseminare wie die auf Linie gebrachte „Singebewegung“[7] zu entwickeln. Ebenso formuliert es dann auch der Beschluß vom 19. Februar 1970, „alle vorhandenen schriftstellerischen Talente der Jugend zu entwickeln und zu fördern und sie entsprechend dem Modell der Singebewegung in Interessen- und Klubgemeinschaften zusammenzuführen“.[8] Das war der Intention des Spiritus rector der Jugendpoetenbewegung zwar vollkommen entgegengesetzt. Dennoch nahm das Ehepaar Edwin und Margarete Kratschmer nach Einladung am 1. Poetenseminar 1970 als Seminarleiter teil. Sie schieden jedoch bereits nach dem 1. Poetenseminar freiwillig aus, nachdem sie gesehen hatten, daß die Poetenbewegung politisch völlig vereinnahmt worden war.[9] Von hier an sollten sich die Wege dieser Poetenbewegung noch mehrfach gabeln. Es gab traurige Selbstmorde wie den von Hannelore Becker. Es gab sehr frühe Talente wie Gabriele Eckert. Es gab Poetenspitzel, die der Stasi alles berichteten. Aber auch die Wege der Politik gabelten sich, mündeten auf dünnen Rändern längsseits der sich auftuenden Abgründe der Auslösung des eigenen und der befreundeten Staaten. Es gab im Herbst 1989 große Veränderungen Der Milliardenkredit von Strauß und die im Gegenzug von der DDR locker gehandhabte Ausreisewelle zeigte bereits ein halbes dutzend Jahre zuvor das absurde Ausmaß der Willkür des SED-Staates. Eben das blieb im wichtigen Maße nicht unkommentiert, sondern heftete mental an den jungen Poeten und schlug sich auf ihr Verhalten in ihren die Texten nieder. Mit Gorbatschows „Perestroika“ kamen seit 1985 neue Töne aus Moskau die großen Hoffnung auf größere Veränderungen in Richtung einer Form von parlamentarischer Demokratie machten. Der letzte humane Exodus im roten Reich, das Tiananmen-Massaker vom 3. auf den 4. Juni 1989, erinnertean dunkelste Zeiten kommunistische Herrschaft, war aber bereits ein Anachronismus wie einst der Nationalsozialismus in der ersten Sekunde seines Erscheinens. Immer mehr wollten dieses Staatssystem verlassen. Das prägte auch auch die harten Auseinandersetzungen, die es schließlich auf dem letzten zentralen Poetenseminar, im August 1989 und bei dem auch darüber diskutiert wurde, „dass [endlich] auch Macht abgegeben werden müsse“. Kathrin Schmidt im Radiofeature „Junge Poeten zum Lernen gebeten“. Nachhörbar via You Tube. Vor allem aber gab es auch sehr überraschende, eigene Bildsprachen wie die der heute hier glücklicherweise anwesenden Alumni der zentralen Poetenbewegung der DDR 1970 bis 1989: Torsten Boger, Gerd Adloff, Elisabeth Wesuls, Leokadia Kuhn und Jens Sparwasser.                                                Ihnen soll ihnen nun dieser Platz gehören.                            Vielen Dank!

Torsten Boger Foto: 
                
Elisabeth Wesuls Foto:

                      

Gerd Adloff Foto: 

Leokadia Kun Foto:

Jens Sparschuh Foto: 


Niclas und Verena mit berückenden eigenen Stücken Foto: 

Die super Jugend-Punkband [wird nachgetragen ] Foto:

                                                       Dancing Pogo Day Foto: 

Über diesen Link geht es zu einem Radiofeature über die oben besprochenen zentralen Poetenseminare:

https://www.youtube.com/watch?v=t0-g0mTPFWE&t=2039s

ENDNOTEN

Aus: A. R., Pegasus, gegängelt, „hoch oben /tief in die Knie“, in: Zeitschrift des Forschungsverbundes SED-Staat, 19/2006, S. 61f.

[1]1Und Mut gehört zum Wort. Schüler schreiben. Erste Versuche. Hrsg. im Auftrag des Kreiskulturhauses Saalfeld. Genehmigungsnummer: Nr. 212/64,1964, S. 5 f.

[2]Reitel, Axel: Jugendstrafvollzug in der DDR am Beispiel                                                                                des Jugendhauses Halle. Berlin 2006, S. 10.

[3]Schnappauf, Dietrich: Und Mut gehört zum Wort. In:                                                                                   Und Mut gehört zum Wort, S. 11.

[4]Das Interview fand am 29. Januar 2004 in den Räumen                                                                           des Kratschmer-Würtz-Archivs der Friedrich-Schiller-Universität Jena                                                           statt. Vgl. auch Edwin Kratschmer: Zwiegesicht.                                                                                           Stationen & Spiegelungen. Jena 2000, S. 51-83. 64.

[5]SAPMO-BArch, DY/24, Nr. 13/70 B 8.

[6]Interessant ist vielleicht, daß der „Oktoberklub“, der                                                                                  unter dem Bandnamen Hootenanny begann, kurz vor dem                                                                              Verbot stand, sich dann besann, der Gängelei nachgab und,                                                                          mit neuer Erlaubnis versehen, sich als „Oktoberklub“ gründete.

[7]Vgl. Interview Dr. Kratschmer.

[8]Ebd.

[9]Ebd.


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