Jürgen Fuchs zum 70. Geburtstag.
Zwei seiner Freunde erinnern sich
Utz Rachowski. Sommer 1968
Es fällt mit ziemlicher
Sicherheit in diese Zeit, und vielleicht war es an einem dieser Mittage, als
ich Jürgen Fuchs zum ersten Mal sah. - Oder war es der andere? Denn es gab zwei
in der Stadt, die mit langen schwarzen Feincord-Hosen herumliefen, beide mit
auffallendem längeren Haar, das tiefschwarz war, ungewöhnlich, ich erinnere es
genau, der schwarze Glanz dieser Haare und ungewöhnlich für die Kleinstadt sowieso die Länge, über die Ohren, aber
nicht ganz, in die Stirn fallend, „aber nicht zu sehr“. Ich saß auf den
Treppen meines Palazzo und staunte. War es der eine, oder war es der andere?
Ging da einer zur Schule, am Nachmittag zum Volleyball-Training, oder hatte ein
anderer Mittagspause und war Dachdecker, vielleicht Zimmermann. Manchmal sah
ich bei einem eine „Schmiege“ oder vogtländisch: „Schmiesch“ aus der
Seitentasche der schwarzen Cordhose ragen, einen Zollstock, dann wieder, war es
ein anderer?, nichts davon ... Schwarz, aber schwarz ist vielleicht die Farbe,
nach der ich suche. Paint it black. Rolling Stones, das war seine
Lieblingsgruppe.
Erst
als ich Monate später, im September 1968 auf die Oberschule kam, und ich den
einen dort gleich am ersten Tag sah, beim Fahnenappell, als Mitglied des
Fanfarenzuges mit Trompete und Blauhemd in Reih und Glied, wußte ich sofort,
das war nicht der Dachdecker und Zimmermann. Zollstock, „Schmiege“,
„Schmiesch“, schmiegsam, das schien nicht sein Metier zu sein, nicht sein Maß,
er stand, seine linke Hand in der Hüfte abgestützt, stieß in die Fanfare gen
Himmel und trug bei zu einem ohrenbetäubenden Ritual, das ich nicht kannte,
das es an unserer Schule nicht gegeben hatte. Ein paar Wochen später ergab sich
zufällig ein erstes Gespräch. In der Turnhalle. Die Klasse 12B3, in die Jürgen
ging, hatte 9B3 gerade mit drei zu zwei Sätzen beim Volleyball-Turnier der
Goethe-Oberschule geschlagen, und ich war stinksauer, ich war der Mannschaftskapitän
der Verlierer. Ich setzte mich auf eine der längs am Spielfeld stehenden
Holzbänke der Turnhalle und senkte den Kopf. „Na, Sexer (abgeleitet von
Sextaner, von Sexta) willst du nicht eine rauchen gehen auf’s Klo?“ sagte eine
Stimme neben mir. Ich sah auf und erkannte den 12er neben mir auf der Bank, der
mich vorige Woche in der Großen Pause auf der Toilette aufgestöbert und beim
Rauchen erwischt hatte. Ich kannte ihn schon vom Stadtbild her und wußte jetzt
schon, wie er hieß.
„Der Fuchs verpfeift
dich nicht, da brauchst du keine Angst zu haben“, sagte ein
Klassenkamerad zu
mir, der ihn von der gemeinsamen Grundschule her kannte. Er sollte recht
behalten, „der Fuchs“ verpfiff mich nicht. „Im August habe ich dich gesehen“,
sagte Jürgen jetzt grinsend auf der Bank, „du hast eine tschechische Fahne in
den Speichen deines Vorderrades gehabt, das hätte schiefgehen können, mit
deinem schönen neuen diamantRad.“
Wieder lachte er. Auch er hatte mich offenbar in der Stadt schon wahrgenommen.
„Hab ich von meiner Oma gekriegt“, sagte ich, „als ich auf die Oberschule
durfte.“ „Und die Fahne?“ fragte er. „Aus einer Girlande gerissen, beim Sommerfest.“
„Und wie kamst du drauf?“ „Mein Bruder“, sagte ich, „hat mir alles erzählt,
seit meine Eltern geschieden sind, warum dann die Panzer kamen, auch vorher
schon, Rudi Dutschke, was im Mai in Frankreich los war.“ „Hat dein Bruder noch
den alten Direktor gehabt?“ „Ja“, sagte ich, „noch Buchta.“ „Du mußt
aufpassen“, sagte er, „Übel, der neue, ist gefährlich, Kadettenschüler, Major
der Reserve, hat gleich Ordnungsgruppen gebildet und rote Armbinden ausgegeben.
Lehrer wie Kießling, Rammler, Werlich, weißt du, von wem die freundschaftlichen
Besuch kriegen, im ersten Stock, in dem verriegelten Zimmer, jede Woche?“
„Wirklich, von denen?“ „Du mußt aufpassen, ich habe die Autonummern“, sagte er.
Aus: „Red' mir nicht
von Minnigerode“, Dresden 2006
[Alles schon da, die Farben seines Lebens, abgesteckt die Themen, nach diesem Sommer 1968, als auch durch unsere kleine Stadt tagelang die Panzer der Armeen des Warschauer Paktes gerollt waren, eine nicht enden wollende Schlange aus Metall, ein Geschehnis, das die Atmosphäre dieser Kleinstadt wie eine Naturkatastrophe verändert hatte. Ein Naturereignis. Als ich an die Schule kam, zitterte die Stadt noch vom Sommer. © 2020 Utz Rachowski ]
Axel Reitel. Sommer 1988
„Hier wartet jemand auf Primo Levi. Hast Du die ‚Pause‘ gelesen? Gut, ich komme gleich herum“, sagte Jürgen. Herum hieß von der psychosozialen Beratungsstelle „Treffpunkt“ um die Ecke, in der Waldstraße, in Moabit, wo er und Lilo sich eine Stelle teilten. Ich war nach oben gegangen, ein Glas Wasser trinken, da rasselte das Telefon. Wieder auf dem Parkplatz des im Krieg freigebombten Gartenhauses, Emdener Straße 52, legte ich die „Atempause“ auf die Rückbank, sowie das Programmheft „Woyzeck“, mit dem Text „Naschmarkt“ von Utz drin, den hatte mein Bruder Ralf durch die Dramaturgie gebracht.
Lindgrün-metallic, die Farbe habe ich mir nicht ausgesucht. Ich kaufte den Gebrauchtwagen, um behutsam zu dem Geld zu sein von der Versicherung, bei der mich Ralf, ohne es zu Gaggern, für den schlimmsten Fall genannt hat. Der war voriges Pfingsten, mit dem Motorrad bei einem Überholvorgang. Am Regensburger Theater spielte Ralf den Doktor in Büchners „Woyzeck“, „Jim Knopf“, zuletzt die Titelrolle von Fitzgeralds „Der Präsident oder Das Würstchen“. „Das ist schon völlig ungewöhnlich hier“, sagte der Amberger Kommissar an der Unfallstelle. Und jetzt muckte die Lenkung des 343iger Volvo. Auf der Stadtautobahn hielt ich bei 80 Km/h den losen Kupplungshebel in der Hand. Der Weg zurück war aus dem Gedächtnis gelöscht. Jürgen sah mir direkt ins Gesicht. „Hast du das auch alles bei dem Autohaus angegeben?“ „Klar“, sagte ich. „Die wollten die Kupplung austauschen, jetzt fährt es sich schon besser.“ Die neue Testfahrt endete an der Glienicker Brücke, drüben rechts die Potsdamer Heilandskirche von Sacrow im Schattendasein der Mauer, auf meiner Seite die Freiheit. Irgendein Ruckeln war da aber noch. Wir leuchteten in der Hocke die Abdeckbleche unter den Pedalen ab, die Wasserrohre zur Heizung, die Rohre zum Ausgleichsbehälter.
Unter Jürgens Auto hatten sie eine Bombe hochgehen lassen, als er und Lilo mit den Kindern aus dem Haus kamen. So hatte ich Utz verstanden. Ich hatte aber eine Sperre, in die Richtung zu denken, wir wären jetzt vielleicht alle dran. Spät im Jahr 1983 drückte mir Utz Jürgens Manuskript „Fassonschnitt“ in die Hand. „Das ist besser als Kundera. Echt.“ Völlig übertrieben, aber das war wie besser als Gott. Viellicht am Tag zuvor hatte ich Jürgen von meiner Wohnung in der Schöneberger Bülowstraße 30 wegen eines seiner Gedichte angerufen. Die „Scheinwerfer“ hatte ich mit grünem Filzstift aus der Anthologie „Neue Lyrik. Neue Namen“ abgeschrieben und neben das Gewürzregal in meiner Küche, Plauen, Myliusstraße 6, gepappt, wo es bei meiner Verhaftung am 14. Februar 1981 von einem der Geheimpolizisten abgerissen wurde. Bei den Verhören fragte einmal der Stasi-Oberleutnant: „Kennen Sie diesen Jürgen Fuchs?“ Und gab gleich die Antwort selbst: „Der macht doch auch nur aus einer Mücke einen Elefanten.“
[Über die Geschichte der Vertonung von Jürgens Gedicht "Scheinwerfer" bitte hier: http://blogs.dickinson.edu/glossen/2020/12/18/erinnerungen-an-jurgen-fuchs-zum-70-geburtstag/]
Und völlig schön, im Jahr 1984 fuhr Jürgens Vater mit Aktentasche im Fahrstuhl hoch zu unserer - Susannes, Jennys und meiner - Maisonettwohnung, Neukölln, Nogatstraße 55, und überreichte mir den von Jürgen signierten Rowohlt-Band „Fassonschnitt“. Dann gab es den Briefwechsel, man dachte öfter aneinander. Seine Risographiereihe „Dialog“ legte es nahe (einmal schickte er auch, wie wir eben alle einmal pleite waren, Susanne, Jenny und mir 100 D-Mark), doch ich war weiterhin wie blöd blockiert in der Richtung, dass wir jenen Scheinwerfern noch immer, und ausgerechnet in Westberlin, ausgeliefert sein könnten. Susanne kam aus Hamburg, Jenny erblickte im noblen Zehlendorfer Krankenhaus Waldfriede das Licht der Welt. Und doch, im Licht von Scheinwerfern blitzte manches auf und sie erfassten so manches, was der ätzenden Fantasie der Staatssicherheit entsprang.
1989 aber, Anfang Dezember, fraßen sie, ohne ihre Mauer, nur noch die Straße, und am Theater der Stadt Plauen, wo Ralf und ich, um eine Dekade zeitversetzt, Kulissen schoben, Anne Frank bei mir zum Beispiel, ein Bühnenbild aus Praktikablen, brachte ich eine Lesung für Jürgen, Utz und mich an Rosenmontag 1990 durch die Intendanz. Ich gab ein wenig Gas. „Das knirschte damals“, sagte ich aus dem Fenster. Und musste Jürgen jetzt aber langsam wieder zurückgehen lassen zu seinen Jugendlichen, die genauso Halt brauchten wie Menschen, für die es „Zeit [sei], in die Zelle zurückzukehren“ (Primo Levi, Das periodische System, Süddeutsche Zeitung Bibliothek, Bd. 48:143), wie es für Jürgen, für Utz, für mich, und jeder für sich, einst Zeit war. Jürgen konzentrierte sich auf das Geräusch. „Da ist nichts zu hören. Hast wohl eine Anleitung zum Wechsel von Kupplungen gelesen.“ „Die hat mir der Autoverkäufer schließlich gegeben“, sagte ich, „aber eigentlich hat der nur schief gegrinst."
PS: Es sollten schriftstellerische Erinnerungsstücke sein, zwei poetische Federbälle. Wer die Arbeit des Schriftstellers, Psychologen und Bürgerrechtlers Jürgen Fuchs kennt, wird sich daran vielleicht einfach erfreuen können. Auch für Jürgen Fuchs galt zuerst der gelungene Text. Wer sich tiefer und ernster einlesen einlesen möchte, dem seien empfohlen die Essays von Utz Rachowski http://blogs.dickinson.edu/glossen/archive/glossen-42-dec-2016/jurgen-fuchs-kommt-nach-polen/ und Dr. Ernest Kuczyński: http://blogs.dickinson.edu/glossen/archive/glossen-44-2019-current-issue/uber-grenzen-hinweg/ Sehens- und beachtenswert ist auch der Filmbeitrag zum Gedenken an Jürgen Fuchs vom Deutschlandradio an seinem 60. Geburtstag: https://www.youtube.com/watch?v=DwrrMdeJoG4
Beitragen möchte ich ebenfalls mein Interview mit Lilo Fuchs im pandemischen Sommer 2020: https://www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/du-bist-bei-dir-geblieben .
Der langjährige Freund von Jürgen Fuchs, Bernd Markowsky, schafft nicht nur mit so die schönsten und lebendigsten Fotografien von Menschen und Begegnungen, er schreibt auch einen sehr anschaulichen Blog mit ausgesprochen lesbaren Texten: https://www.zeitreissen.com/blog/ und selbstverständlich herrlichen Fotografien.
Foto: Bernd Markowsky|Robert-Havemann-Gesellschaft e.V.
Foto: Bernd Markowsky|Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. (links Lutz Rathenow)
..."sah man bereits den Schatten der tödlichen Krankheit in den Augenringen." (Bernd Markowsky) Rückblick via Facebook-Messenger 17.12.2020.