Samstag, 19. Dezember 2020

Gedenken: Jürgen Fuchs 70. Am 19.12.2020 wäre Jürgen Fuchs 70 Jahre geworden. Zwei seiner Freunde erinnern sich


 


         Jürgen Fuchs zum 70. Geburtstag.         

Zwei seiner Freunde erinnern sich



  von 

Utz Rachowski

und 

Axel Reitel


  Foto: Bernd Markowsky|Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. 

Utz Rachowski. Sommer 1968

 

Es fällt mit ziemlicher Sicherheit in diese Zeit, und vielleicht war es an einem dieser Mittage, als ich Jürgen Fuchs zum ersten Mal sah. - Oder war es der andere? Denn es gab zwei in der Stadt, die mit langen schwarzen Feincord-Hosen herumliefen, beide mit auffallendem längeren Haar, das tiefschwarz war, ungewöhnlich, ich erinnere es genau, der schwarze Glanz dieser Haare und ungewöhnlich für die Kleinstadt sowieso die Länge, über die Ohren, aber nicht ganz, in die Stirn fallend, „aber nicht zu sehr“. Ich saß auf den Treppen meines Palazzo und staunte. War es der eine, oder war es der andere? Ging da einer zur Schule, am Nachmittag zum Volleyball-Training, oder hatte ein anderer Mittagspause und war Dachdecker, vielleicht Zimmermann. Manchmal sah ich bei einem eine „Schmiege“ oder vogtländisch: „Schmiesch“ aus der Seitentasche der schwarzen Cordhose ragen, einen Zollstock, dann wieder, war es ein anderer?, nichts davon ... Schwarz, aber schwarz ist vielleicht die Farbe, nach der ich suche. Paint it black. Rolling Stones, das war seine Lieblingsgruppe.

          Erst als ich Monate später, im September 1968 auf die Oberschule kam, und ich den einen dort gleich am ersten Tag sah, beim Fahnenappell, als Mitglied des Fanfarenzuges mit Trompete und Blauhemd in Reih und Glied, wußte ich sofort, das war nicht der Dachdecker und Zimmermann. Zollstock, „Schmiege“, „Schmiesch“, schmiegsam, das schien nicht sein Metier zu sein, nicht sein Maß, er stand, seine linke Hand in der Hüfte abgestützt, stieß in die Fanfare gen Himmel und trug bei zu einem ohren­betäubenden Ritual, das ich nicht kannte, das es an unserer Schule nicht gegeben hatte. Ein paar Wochen später ergab sich zufällig ein erstes Gespräch. In der Turnhalle. Die Klasse 12B3, in die Jürgen ging, hatte 9B3 gerade mit drei zu zwei Sätzen beim Volleyball-Turnier der Goethe­-Oberschule geschlagen, und ich war stinksauer, ich war der Mannschafts­kapitän der Verlierer. Ich setzte mich auf eine der längs am Spielfeld stehenden Holzbänke der Turnhalle und senkte den Kopf. „Na, Sexer (abgeleitet von Sextaner, von Sexta) willst du nicht eine rauchen gehen auf’s Klo?“ sagte eine Stimme neben mir. Ich sah auf und erkannte den 12er neben mir auf der Bank, der mich vorige Woche in der Großen Pause auf der Toilette aufgestöbert und beim Rauchen erwischt hatte. Ich kannte ihn schon vom Stadtbild her und wußte jetzt schon, wie er hieß.

„Der Fuchs verpfeift dich nicht, da brauchst du keine Angst zu haben“, sagte ein 
Klassenkamerad zu mir, der ihn von der gemeinsamen Grundschule her kannte. Er sollte recht behalten, „der Fuchs“ verpfiff mich nicht. „Im August habe ich dich gesehen“, sagte Jürgen jetzt grinsend auf der Bank, „du hast eine tschechische Fahne in den Speichen deines Vorderrades gehabt, das hätte schiefgehen können, mit deinem schönen neuen diamant­Rad.“ Wieder lachte er. Auch er hatte mich offenbar in der Stadt schon wahrgenommen. „Hab ich von meiner Oma gekriegt“, sagte ich, „als ich auf die Oberschule durfte.“ „Und die Fahne?“ fragte er. „Aus einer Girlande gerissen, beim Sommerfest.“ „Und wie kamst du drauf?“ „Mein Bruder“, sagte ich, „hat mir alles erzählt, seit meine Eltern geschieden sind, warum dann die Panzer kamen, auch vorher schon, Rudi Dutschke, was im Mai in Frankreich los war.“ „Hat dein Bruder noch den alten Direktor gehabt?“ „Ja“, sagte ich, „noch Buchta.“ „Du mußt aufpassen“, sagte er, „Übel, der neue, ist gefährlich, Kadettenschüler, Major der Reserve, hat gleich Ordnungsgruppen gebildet und rote Armbinden aus­gegeben. Lehrer wie Kießling, Rammler, Werlich, weißt du, von wem die freundschaftlichen Besuch kriegen, im ersten Stock, in dem verriegelten Zimmer, jede Woche?“ „Wirklich, von denen?“ „Du mußt aufpassen, ich habe die Autonummern“, sagte er.

Aus: „Red' mir nicht von Minnigerode“, Dresden 2006

         

Foto: Klaus Reichelt/MDR
An der Göltzschtalbrücke 1994 
(v.l.n.r. Utz Rachowski, der Dichter Uwe Grüning, Jürgen Fuchs)

[Alles schon da, die Farben seines Lebens, abgesteckt die Themen, nach diesem Sommer 1968, als auch durch unsere kleine Stadt tagelang die Panzer der Armeen des Warschauer Paktes gerollt waren, eine nicht enden wollende Schlange aus Metall, ein Geschehnis, das die Atmosphäre dieser Kleinstadt wie eine Naturkatastrophe verändert hatte. Ein Naturereignis. Als ich an die Schule kam, zitterte die Stadt noch vom Sommer. © 2020 Utz Rachowski ]


  Foto: Bernd Markowsky|Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. 

Axel Reitel. Sommer 1988 

 

„Hier wartet jemand auf Primo Levi. Hast Du die ‚Pause‘ gelesen? Gut, ich komme gleich herum“, sagte Jürgen. Herum hieß von der psychosozialen Beratungsstelle „Treffpunkt“ um die Ecke, in der Waldstraße, in Moabit, wo er und Lilo sich eine Stelle teilten. Ich war nach oben gegangen, ein Glas Wasser trinken, da rasselte das Telefon.  Wieder auf dem Parkplatz des im Krieg freigebombten Gartenhauses, Emdener Straße 52, legte ich die „Atempause“ auf die Rückbank, sowie das Programmheft „Woyzeck“, mit dem Text „Naschmarkt“ von Utz drin, den hatte mein Bruder Ralf durch die Dramaturgie gebracht.                     

Lindgrün-metallic, die Farbe habe ich mir nicht ausgesucht. Ich kaufte den Gebrauchtwagen, um behutsam zu dem Geld zu sein von der Versicherung, bei der mich Ralf, ohne es zu Gaggern, für den schlimmsten Fall genannt hat. Der war voriges Pfingsten, mit  dem Motorrad bei einem Überholvorgang. Am Regensburger Theater spielte Ralf den Doktor in Büchners „Woyzeck“, „Jim Knopf“, zuletzt die Titelrolle von Fitzgeralds „Der Präsident oder Das Würstchen“.  „Das ist schon völlig ungewöhnlich hier“, sagte der Amberger Kommissar an der Unfallstelle.  Und jetzt muckte die Lenkung des 343iger Volvo.  Auf der Stadtautobahn hielt ich bei 80 Km/h den losen Kupplungshebel in der Hand. Der Weg zurück war aus dem Gedächtnis gelöscht.  Jürgen sah mir direkt ins Gesicht. „Hast du das auch alles bei dem Autohaus angegeben?“  „Klar“, sagte ich. „Die wollten die Kupplung austauschen, jetzt fährt es sich schon besser.“  Die neue Testfahrt endete an der Glienicker Brücke, drüben rechts die Potsdamer Heilandskirche von Sacrow im Schattendasein der Mauer, auf meiner Seite die Freiheit. Irgendein Ruckeln war da aber noch. Wir leuchteten in der Hocke die Abdeckbleche unter den Pedalen ab, die Wasserrohre zur Heizung, die Rohre zum Ausgleichsbehälter.                                            

Unter Jürgens Auto hatten sie eine Bombe hochgehen lassen, als er und Lilo mit den Kindern aus dem Haus kamen. So hatte ich Utz verstanden. Ich hatte aber eine Sperre, in die Richtung zu denken, wir wären jetzt vielleicht alle dran.  Spät im Jahr 1983 drückte mir Utz Jürgens Manuskript „Fassonschnitt“ in die Hand. „Das ist besser als Kundera. Echt.“ Völlig übertrieben, aber das war wie besser als Gott. Viellicht am Tag zuvor hatte ich Jürgen von meiner Wohnung in der Schöneberger Bülowstraße 30 wegen eines seiner Gedichte angerufen. Die „Scheinwerfer“ hatte ich mit grünem Filzstift aus der Anthologie „Neue Lyrik. Neue Namen“ abgeschrieben und neben das  Gewürzregal in meiner Küche, Plauen, Myliusstraße 6, gepappt, wo es bei meiner Verhaftung  am 14. Februar 1981 von einem  der Geheimpolizisten abgerissen wurde. Bei den Verhören fragte einmal der Stasi-Oberleutnant: „Kennen Sie diesen Jürgen Fuchs?“ Und gab gleich die Antwort selbst: „Der macht doch auch nur aus einer Mücke einen Elefanten.“                                                                                       

Myliusstraße 6, Hausseite Melanchthonstraße, obere Erkerwohnung, rechts das Küchenfenster 

 [Über die Geschichte der Vertonung von Jürgens Gedicht "Scheinwerfer" bitte hier: http://blogs.dickinson.edu/glossen/2020/12/18/erinnerungen-an-jurgen-fuchs-zum-70-geburtstag/]

Und völlig schön, im Jahr 1984 fuhr Jürgens Vater mit Aktentasche im Fahrstuhl hoch zu unserer - Susannes, Jennys und meiner - Maisonettwohnung, Neukölln, Nogatstraße 55, und überreichte mir den von Jürgen signierten Rowohlt-Band „Fassonschnitt“. Dann gab es den Briefwechsel, man dachte öfter aneinander. Seine Risographiereihe  „Dialog“ legte es nahe (einmal schickte er auch, wie wir eben alle einmal pleite waren, Susanne, Jenny und mir 100 D-Mark), doch ich war weiterhin wie blöd blockiert in der Richtung, dass wir jenen Scheinwerfern noch immer, und ausgerechnet in Westberlin, ausgeliefert sein könnten. Susanne kam aus Hamburg, Jenny erblickte im noblen Zehlendorfer Krankenhaus Waldfriede das Licht der  Welt. Und doch, im Licht von Scheinwerfern blitzte manches auf und sie erfassten so manches, was der ätzenden Fantasie der Staatssicherheit entsprang. 

1989 aber, Anfang Dezember, fraßen sie, ohne ihre Mauer, nur noch die Straße, und am Theater der Stadt Plauen, wo Ralf und ich, um eine Dekade zeitversetzt, Kulissen schoben, Anne Frank bei mir zum Beispiel, ein Bühnenbild aus Praktikablen, brachte ich eine Lesung für Jürgen, Utz und mich an Rosenmontag 1990 durch die Intendanz. Ich gab ein wenig Gas. „Das knirschte damals“, sagte ich aus dem Fenster. Und musste Jürgen jetzt aber langsam wieder zurückgehen lassen zu seinen Jugendlichen, die genauso Halt brauchten wie Menschen, für die es „Zeit [sei], in die Zelle zurückzukehren“ (Primo Levi, Das periodische System, Süddeutsche Zeitung Bibliothek, Bd. 48:143), wie es für Jürgen, für Utz, für mich, und jeder für sich, einst Zeit war.  Jürgen konzentrierte sich auf das Geräusch. „Da ist nichts zu hören. Hast wohl eine Anleitung zum Wechsel von Kupplungen gelesen.“ „Die hat mir der Autoverkäufer schließlich gegeben“, sagte ich, „aber eigentlich hat der nur schief gegrinst."

PS: Es sollten schriftstellerische Erinnerungsstücke sein, zwei poetische Federbälle. Wer die Arbeit des Schriftstellers, Psychologen und Bürgerrechtlers Jürgen Fuchs kennt, wird sich daran vielleicht einfach erfreuen können. Auch für Jürgen Fuchs galt zuerst der gelungene Text. Wer sich tiefer und ernster einlesen einlesen möchte, dem seien empfohlen die Essays von Utz Rachowski   http://blogs.dickinson.edu/glossen/archive/glossen-42-dec-2016/jurgen-fuchs-kommt-nach-polen/ und Dr. Ernest Kuczyńskihttp://blogs.dickinson.edu/glossen/archive/glossen-44-2019-current-issue/uber-grenzen-hinweg/    Sehens- und beachtenswert ist auch der Filmbeitrag zum Gedenken an Jürgen Fuchs vom Deutschlandradio an seinem 60. Geburtstag: https://www.youtube.com/watch?v=DwrrMdeJoG4

Beitragen möchte ich ebenfalls mein Interview mit Lilo Fuchs im pandemischen Sommer 2020: https://www.kas.de/de/web/die-politische-meinung/artikel/detail/-/content/du-bist-bei-dir-geblieben .

Der langjährige Freund von Jürgen Fuchs, Bernd Markowsky, schafft nicht nur mit so die schönsten und lebendigsten Fotografien von Menschen und Begegnungen, er schreibt auch einen sehr anschaulichen Blog mit ausgesprochen lesbaren Texten: https://www.zeitreissen.com/blog/   und selbstverständlich herrlichen Fotografien. 

  Foto: Bernd Markowsky|Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. 


  Foto: Bernd Markowsky|Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. (links Lutz Rathenow)

..."sah man bereits den Schatten der tödlichen Krankheit in den Augenringen." (Bernd Markowsky) Rückblick via Facebook-Messenger 17.12.2020.


                                                                  Foto: Bernd Markowsky|Robert-Havemann-Gesellschaft e.V. 
                                                            (v. l. n. r Eva-Maria-Hagen, Pamela Biermann, Katja Havemann, Jürgen Fuchs, Wolf Biermann)


Bleibt Sie gewogen! Bleiben Sie wohlauf! 

Offener Brief: An den Geschäftsführer Lars Kleba, Die Linke Sachsen, und Protestschreiben des P.E.N. Zentrums deutschsprachiger Autoren gegen die Willkürmaßnahme des Oberbürgermeisters von Reichenbach (Vogtland), Henry Ruß

Die Linke Sachsen Lars Kleba Cottaer Str. 6c 01159 Dresden Tel.: 0351 85327-0 Fax: 0351 85327-20 kontakt@dielinke-sachsen.de Sehr geehrter H...