Samstag, 29. März 2014

Golden Mugge Vol. 14: Axel Reitel & collegium novum feat. Reinhard Fissler: Die Provinz



Axel Reitel & collegium novum feat.Reinhard Fissler: Die Provinz



Refrain: "Weißt Du, alle, / die über dein Gartentor gesprungen sind / von der Küste oder sonst woher, / wollten einfach nicht, / dass du sie auf den arm nimmst, / sondern nur eine Atempause und eine Frage gewiss: / Ist das hier Eden? Ist das hier Eden ? Ist das hier Eden?"  








 Welche Rolle spielt Pablo Picasso in diesem Musik-Bilder-Video?



                Und welche Rolle spielt im Video Sophia Loren?


Von der fernsten und ältesten Galaxie bis zu den Gärten und Bars in deutscher Provinz: im Meister-und Margarita-Haus in Kiew: in den Hamlets in Vietnam: in den Stadt- und in den Wüstenregionen Mauretaniens: in Frankreich: und dort insbesondere in einem Garten in Aix-en-Provence, geht es um eine Frage - und diese Frage lautet: 
"Ist das hier Eden?"

          "Die Provinz" ist Track 8 des Albums "ohne anzuklopfen"


 Front
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Axel Reitel & collegium novum: Die Provinz
Komposition und Text: Axel Reitel
Arrangement: Jörg Hoffmann, Andreas Sittig, Hans-Peter Nitsche, collegium novum

Axel Reitel (Voc)
Reinhard Fissler (Voc)
Jörg Hoffmann (Git)
Jörg Baudacher (Bachtrompete)
Bernd Schricker (Sax)
Andreas Sittig (Bass)
Hans Peter Nitsche (Perc)
Friedemann Mütze (Cachon)
GEMA

Vielen Dank und bleiben Sie dran!

Montag, 24. März 2014

Reportage: Wer war Siegfried Heinrichs? - Ein Portrait des Berliner Verlegers und Lyrikers

Radio-Reportage: WER WAR SIEGFRIED HEINRICHS?
Ein Portrait des Berliner Verlegers und Lyrikers
von Axel Reitel (Produktion RBB 2012)
ca. 30 Minuten

Bei Youtube anzuhören, herunterzuladen und zu teilen: http://youtu.be/vog6JSEAXoE


Der Sendetext befindet sich auch in meinem neuen Buch Nachtzensur
Zum Verlag: https://www.verlag-koester.de/index.php?id=114&tx_fbmagento[shop][route]=catalog&tx_fbmagento[shop][controller]=product&tx_fbmagento[shop][action]=view&tx_fbmagento[shop][id]=1161&tx_fbmagento[shop][s]=nachtzensur-ddr-und-osteuropa-zwischen-revolte-und-reaktorkatastrophe

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                                            Siegfried Heinrichs (links), Utz Rachowski (links)
                                                          Foto Horch und Guck

Über Siegfried Heinichs in DER  TAGESSPIEGEL:

>>In des Waldes finstern Gründen und in Höhlen tief versteckt, ruht der Räuber allerkühnster, bis ihn seine Rosa weckt …“ Er war der Mann des Tages, ach was der Saison, wenn nicht des Jahrhunderts, Christian August Vulpius. Die Damen beteten ihn an, den edlen Räuber Rinaldo Rinaldini, dessen Lebensroman ein sensationeller Publikumserfolg wurde. Vulpius’ Verleger konnte in die Hände klatschen. Johann Wolfgang von Goethe hingegen wird sich ein wenig gegrämt haben, denn seine Bücher verkauften sich durchaus schleppender als die seines Schwagers.

Der Ruhm eines Verlegers bemisst sich nicht an Verkaufszahlen, er bemisst sich am Wagemut und ein wenig auch am Wahnsinn seines Tuns.

1985 übernahm Siegfried Heinrichs den maroden Oberbaumverlag. „Ein kleines Zimmer in der Neuköllner Pannierstraße 54“, erinnert sich der Freund und Autor Utz Rachowski, „das der junge Lyriker Walter Thümler und ich ausweißten, ein Tapeziertisch, 12 Plastikstühle drumherum, ein paar Regale an der Wand. Wenn sich unerwartet wieder einmal ein alter Gläubiger mittels Gerichtsvollziehers ankündigte, packten wir am Vorabend blitzschnell unseren Verlag zusammen, Bücher, Akten, Tapeziertisch, 12 Stühle, versteckten sie in unseren Wohnungen und Kellern.“

Heinrichs finanzierte den Verlag durch seine Arbeit als Materiallagermeister in einer Kreuzberger Firma für Sanitäreinrichtungen, 25 Jahre verkaufte er Kloschüsseln. Seine Autoren brachten ihm wenig ein. Obwohl sie das Zeug dazu hatten: „Ich habe vieles ausgegraben, was auch in großen Verlagen längst, wenn man es nur wollte, hätte veröffentlicht werden können.“ Wie alle guten Verleger war er beruflich der kleinen Familie der widerborstigen Trüffelschweine zugehörig.

„Geboren wurde ich im Kriegsjahr 1941. Herbst war es. Die Zugvögel über Deutschlands Wäldern sammelten sich, durchflogen den Rauch der zerbombten Häuser, noch jenseits der Grenzen. Zwei Jahre später fiel, mit dem Dank des Führers für Treue und Tod, mein Vater vor Stalingrad. Heimlich beseitigt, weiß ich heute, durch einen Schuss in den Rücken. Als Sozialdemokrat klebte er Plakate gegen Hitlers Endsieg.“

Siegfried – „meiner Mutter Sorgenkind durch Krankheiten, Schwierigkeiten in der Erziehung eines frühzeitig Ungehorsamen“ – schrieb schon als junger Mann Gedichte und Erzählungen, gab sie seinem Bruder, Abel vertraute Kain. Die Folge: siebeneinhalb Monate Stasi-Untersuchungshaft, dann drei Jahre im Zuchthaus Waldheim, wo schon Karl May einsaß.

„1096 Tage und Nächte inhaftiert für einige Gedichte, zusammen mit Mördern, Malern, Kinderschändern, Dieben. „Auch nach der Entlassung lebte ich in meinem Land, keine Zeile gedruckt, abgelehnt, alles, mit üblichen Begründungen, und suchte wenigstens das eine Gramm Hoffnung und Zärtlichkeit mir zu erhalten, zu erobern, im Wort, im Leben, das jeder Mensch für seinen Atem braucht.“

1974 verlässt er die DDR, ausgebürgert, „im Gepäck nichts als einige Bücher und Bitterkeit“.

„Die Gitter sind meinem Wort eingewachsen – deshalb versuche ich, sie mit meinem Atem, meinem Vers, zu zersägen.“

Er glaubte an das Wort, immer schon, und er konnte heraushören, wie andere die Worte verwendeten, ehrlich oder verlogen. Einspruch erheben. Das geht auch in Versen. Das geht besonders gut in Versen, weil die Worte nicht abgenutzt sind, neu erwogen werden, anders bedacht. Nur Sesselfurzer nehmen ihren Wohnsitz im Elfenbeinturm. Er schrieb einen offenen Brief an Anna Seghers, wünschte ihr darin, dass sie ihrem „Siebten Kreuz“ nicht noch ein achtes, das des ewigen Schweigens, hinzufügen möge, während die Menschen des Landes ihr Kreuz zu tragen hätten, „bei der Wanderung durch die Hölle der Realität“.

Auf der Visitenkarte eines guten Verlegers sind nicht die Verkaufszahlen vermerkt, sondern die Namen der Autoren, die er in seine Obhut genommen hat. Anna Achmatowa, Maria Zwetajewa, Boris Pasternak, Sergej Samjatin. Oder der aus Syrien exilierte Ali Ahmad Said, der unter dem Pseudonym Adonis schreibt. Oder Ousmane Sembène aus dem Senegal.

Kurz vor der Vergabe des Nobelpreises wurde Siegfried Heinrichs immer unruhig. Er hatte ja Brodsky im Programm, Walcott, er führte zwei Titel des Chinesen Ba Jin, und im letzten Jahr hatte das schwedische Fernsehen bereits einen Termin mit ihm am Tag der Bekanntgabe vereinbart, wegen Adonis, dem berühmten Dichter der arabischen Welt. Es wurde dann doch nichts mit dem ganz großen Erfolg. So wie es auch mit dem ungarischen Weltbürger Sándor Márai nichts wurde.

Er hatte Márais autobiografisches Werk und die Briefe in der Zeit des Umbruchs im Ostblock für 2000 D-Mark gekauft. 1996 erscheinen die „Bekenntnisse eines Bürgers“, Startauflage 500 Stück. Drei Jahre bevor Márais Wiederentdeckung in den Feuilletons gefeiert wurde. Als dann plötzlich alle ihn lasen, hatte Heinrichs die Rechte an den Piper-Verlag abgetreten, der ein Vermögen damit verdiente. Ein guter Coup, von wem auch immer.

Aber Erfolg ist schnell vergessen. Erinnern wird man sich an Siegfried Heinrichs, an einen, der für seine Verse in den Knast ging und der dennoch unverbrüchlich an die Verwandlungsmacht der Worte glaubte: 'Eines Morgens erwachst du und das Leben ist anders.'"Gregor Eisenhauer
Quelle: http://www.tagesspiegel.de/berlin/nachrufe/siegfried-heinrichs/6751936.html


Siegfried Heinrichs in DER SPIEGEL:

AUTOREN

Der glückliche Pessimist

Von Traub, Rainer

Die spektakuläre Wiederentdeckung seines Romans "Die Glut" machte den ungarischen Schriftsteller Sándor Márai ein Jahrzehnt nach seinem Tod zum europäischen Bestsellerautor. In seinen jetzt erscheinenden Tagebüchern erweist er sich als scharfsichtiger Zeitzeuge.
Der Mann ist einsam und sehr alt, gebrechlich und halb blind - und doch geistig hellwach. In seinem Tagebuch notiert er ohne eine Spur von Larmoyanz, was ihm vom Leben geblieben ist. Er beschreibt die Krebsqualen und das entwürdigende Hospital-Siechtum der Frau, mit der er seit 62 Jahren verheiratet ist. Und er beschließt, im eigenen Fall einem derart "demütigenden Niedergang" zuvorzukommen: Den Krankenhäusern und Altersheimen, diesen "institutionellen Müllkippen", wird er sich nicht ausliefern.
Und so absolviert der 85-jährige Sándor Márai im Ausbildungscamp der Polizei im kalifornischen San Diego einen Schießkurs. Das Tagebuch, das er fast ein halbes Jahrhundert lang geführt hat, endet mit den Worten "Es ist so weit." Kurz vor seinem 89. Geburtstag, im Februar 1989, erschießt sich der Greis.
Das unerschütterlich klare Bewusstsein und die Haltung, die den letzten Akt des Schriftstellers Sándor Márai (sprich Schandor Maroi) auszeichnen, haben sein ganzes Leben geprägt: Das offenbart eine mehrbändige Auswahl aus den berühmten Tagebüchern, die Márai zwischen 1943 und 1989 zu Papier brachte. Sie erscheint nun auf Deutsch im Berliner Oberbaum Verlag
des literaturbesessenen Verlegers, Lyrikers und Márai-Pioniers Siegfried Heinrichs*.
Postum erst ist Márai im letzten Jahr international wiederentdeckt worden - als einer der großen Erzähler Europas. Sein Roman "Die Glut" begeisterte die Kritiker und wurde in mehreren Ländern zum Sensationserfolg; auch "Das Vermächtnis der Eszter", eine weitere Márai-Ausgrabung, drang auf die Bestsellerlisten vor. Die Veröffentlichung der Tagebücher aber belegt nun: Márai fesselt nicht nur als Erzähler, sondern auch als klarsichtiger Chronist und Diagnostiker seiner Epoche.
Der Sohn eines Anwalts und Nachkomme deutscher Einwanderer wurde im Jahr 1900 im ungarischen Kassa (im k. u. k. Deutsch Kaschau, heute Kosice/Slowakei) geboren. Mit den Großeltern sprach er deutsch, mit den Eltern ungarisch. Später war er mit dem Englischen, Französischen und Italienischen so vertraut, dass er Bücher in all diesen Sprachen las.
Mit 19 Jahren zog Márai nach Leipzig, um dort Zeitungskunde zu studieren - und schaffte es innerhalb weniger Monate, von der "Frankfurter Zeitung", der zu jener Zeit wohl bedeutendsten deutschsprachigen Zeitung, als ständiger Mitarbeiter engagiert zu werden. Zwar sah der junge Autor dort "siebenköpfige Drachen über die Reinheit der deutschen Sprache wachen", doch seine Feuilletons wurden - wie er in dem glänzenden autobiografischen Roman "Bekenntnisse eines Bürgers" stolz berichtet - unverändert gedruckt.
Im Kulturteil der "Frankfurter Zeitung" fand sich sein Name neben dem von Thomas Mann oder Stefan Zweig. Einige Jahre lang erwog der junge Márai sogar, als Autor ganz in die deutsche Sprache zu wechseln. Aber er hing zu sehr an seiner Muttersprache - und blieb ihr treu.
Von Frankfurt zieht Márai nach Berlin, wo er den noch unbekannten Autor Kafka entdeckt und ins Ungarische übersetzt. Vor allem aber lernt er in Berlin die zauberhafte Ilona Matzner, genannt Lola, kennen. Sie stammt wie Márai aus Kaschau.
Ihre Eltern haben sie nach Berlin geschickt, damit sie sich einen Mann aus dem Kopf schlägt. Dieser Mann ist ausgerechnet ein alter Freund von Sándor Márai. Mit seiner Loyalität ist es trotzdem nicht weit her, die Leidenschaft für Lola ist stärker. Er heiratet sie 1923, erst Lolas Tod im Jahr 1986 beendet die Ehe.
Eine schöne Frau zwischen zwei Männerfreunden: In diesem autobiografischen Dreieck könnte "Die Glut" ihren Ursprung haben, jener Roman über Freundschaft, Liebe und Verrat, der die aktuelle Márai-Renaissance auslöste.
Das junge Paar aus der Provinz siedelt bald über in die Literaturhauptstadt Paris. Auch dort arbeitet Márai als Journalist. "Ein wenig schlotterte die ,westliche Kultur'' an uns wie der Frack am Neger", heißt es in den "Bekenntnissen" über die schwierige Umstellung.
Nach zehn Lehr- und Wanderjahren in Westeuropa kehrt Márai 1928 nach Budapest zurück. Als Romancier, Essayist und Publizist ist er so produktiv, dass er binnen eines Jahrzehnts Ungarns erfolgreichster Autor wird: eine literarische Größe, vor der auch der Budapest-Besucher Thomas Mann den Hut zog - wie ein historisches Foto zeigt.
Mit 43 Jahren nahm Márai seine Tagebuchaufzeichnungen auf. Bis zur letzten Eintragung im Januar 1989 umfassen sie im ungarischen Original rund 3000 Seiten. Knapp die Hälfte davon gibt die Auswahl des Oberbaum-Verlags wieder.
Zu Beginn des Tagebuchs halten die Nazis noch den Großteil des Kontinents besetzt. Der Autor verachtet ihre ungarischen Verbündeten, die faschistischen Pfeilkreuzler, als "Abschaum" - und versteckt seine Notate im Boden. "Man kann in Ungarn nicht mehr anders leben als in innerer Emigration."
Während die Bomberflotten der Westalliierten Budapest ins Visier nehmen, vergräbt sich Márai in die Lektüre Platons oder spricht in der Rundfunkreihe "Mein liebster Schriftsteller" über Goethe: "Das einzige Menschenphantom im Universum, dessen Hand ich jetzt, da mir das Haus und die Welt über dem Kopf zusammenzubrechen drohen, ergreifen kann" - so beschwört er Goethe im Tagebuch.
Sein lateinischer Lieblingsautor Mark Aurel lehrt ihn, stoischen Gleichmut zu wahren: "Heute oder morgen wird eine Phosphorbombe meine fünftausendbändige Bibliothek verbrennen ... Während die anderen Europa und Ungarn verraten und zerstören, will ich bis zum letzten Augenblick beiden dienen: Ungarn und Europa."
Vor seinen Augen zerfällt das Bürgertum, "die Klasse, in deren Lebensform ich hineingeboren wurde". Im Beschreiben dieses Zerfallsprozesses sieht er "die einzige wirkliche Aufgabe in meinem Leben".
Angesichts der Zehntausende mit gelbem Stern, die an seinem Haus vorbei zur Deportation und Vernichtung getrieben werden, notiert er: "Es ist eine Schande zu leben ... Der Mensch als Epidemie". Doch Lola, die jüdische Ehefrau des berühmten Autors, bleibt offenbar unbehelligt.
Seltsam: Warum wird sie, im Tagebuch stets als L. chiffriert, nur so selten erwähnt?
Denken und Schreiben sind für Márai Männersache. "Frauen adelt die Liebe, Männer ihr Handwerk", lautet ein Eintrag. Ein 1942 publiziertes Prosastück - es spielt auf den Bibelmythos von Evas Entstehung aus einer Rippe Adams an - skizziert sein erzpatriarchalisches Frauenbild:
Gott hat sie ein wenig nebenher und als Zugabe, also mit leichter Hand und etwas zerstreut erschaffen, als er merkte, dass das Original so allein zu einsam und unvollständig war ... und dann hat sich das Zubehör und die Draufgabe so in die Brust geschmissen und ist ein bisschen übermütig geworden ... Männer, sie wurde doch aus einem Teilstück gefertigt, das der liebe Gott einfach so hingeklatscht hat, wie der Metzger die Zuwaage, den Knochen zum Fleisch.
So steht es im Buch "Himmel und Erde", das Anfang Januar bei Piper erscheint.
Aus dem Sommerhaus, in das sich Márai bei der Besetzung Ungarns durch deutsche Truppen zurückzieht, kehrt er 1945 ins zerbombte Budapest zurück. Aber die Hoffnung, im Schatten der siegreichen Roten Armee ungestört schreiben zu können, zerschlägt sich schnell. Anfang 1948 hält er im Tagebuch fest, das kommunistische Parteiorgan habe "die Arbeit meines ganzen Lebens zur ,schädlichen'' Literatur" erklärt. Statt sich zur Propaganda für das Regime zu erniedrigen, wie man Márai nahe legt, nimmt er 1948 ein Ausreiseangebot an.
Die Stationen des nun beginnenden 40jährigen Exils sind die Schweiz, Italien, New York, abermals Italien und schließlich, in Márais letzten Jahren, San Diego. Die öffentlichen Bibliotheken mehrerer Gastländer müssen ihm die verlorene Heimat ersetzen, er schreibt fortan nur noch für eine Hand voll ungarischsprachiger Leser seines kanadischen Exilverlags.
Márais wache Zeitgenossenschaft, sein enzyklopädischer und kosmopolitischer Geist lassen ihn die Tagespolitik ebenso behandeln wie Geschichte, Soziologie, Philosophie, Musik, bildende Kunst und anderes mehr. Dabei ist sein politischer Liberalismus ähnlich kompromisslos wie sein kultureller Konservativismus. Überall nimmt er den Zerfall bürgerlicher Kultur und klassischer Maßstäbe wahr.
Das Kino erscheint ihm als moderne Abart des religiösen Bilderbuchs, das im Mittelalter als "Biblia pauperum" dem analphabetischen Volk die Heilige Schrift ersetzte: Das Kino sei die "neue Bibel für alle, die geistig arm sind".
Ein paar Jahrzehnte später hat sich die Filmbranche auf ihre Weise an Márai gerächt: Ein internationales Konsortium sicherte sich, nach dem fulminanten Bucherfolg der "Glut", die Rechte am Stoff; für die Hauptrollen sind Juliette Binoche und Anthony Hopkins vorgesehen.
Neben der manchmal allzu rigiden Kulturkritik zeigt Márai oft lakonischen und grimmigen Witz. Die so genannten Bruderküsse zum Beispiel, zu denen die sowjetischen Führer tschechoslowakische Reformkommunisten nach der Niederwerfung des "Prager Frühlings" von 1968 nötigten, kommentiert er so: "Der zum Küssen gezwungene Gegner ist eine neue Figur der Geschichte. Hitler küsste sich nicht mit seinen Opfern, er begnügte sich bescheiden damit, sie abzumurksen."
Der Blick, mit dem er seine Zeitgenossen mustert, ist scharf, manchmal sarkastisch, aber nie gnadenlos. Über ein Sexkino im Rentnerparadies Florida schreibt er: "Die Greisenbabys stehen an der Kinokasse Schlange, um ein Gläschen Sex zu nuckeln." Was sich da ausdrückt, ist eher Schrecken als Spott. Der Autor weiß genau, dass er selbst zur wachsenden Masse der Alten gehört - und ahnt eine düstere Zukunft: "Eines Tages beginnt die Gesellschaft, sich gegen die Alten zu wehren, wie man sich gegen Seuchen wehrt."
In der zunehmenden Schwäche seiner späten Jahre genießt er umso mehr das Glück eines aktiven Bewusstseins: "Der Verfall ist zugleich ein Erlebnis; das Bewusstsein wählt aus der Vergangenheit und der Gegenwart das aus, was immer noch Realität ist, was immer noch durch den Dämmerschein leuchtet wie der letzte Strahl der untergehenden Sonne, wenn der Himmel bereits dunkel und das Licht nicht zu sehen, aber immer noch zu spüren ist."
Mit einem schönen Paradox, das Márai auf seinen Lieblingsphilosophen Schopenhauer gemünzt hat, beschrieb er insgeheim sich selbst: Er war ein glücklicher Pessimist. Sein Vermächtnis an die Nachwelt ist kurz und bündig. "Aus dem Nichts sende ich euch die Botschaft: Das Leben, und sei es noch so düster, noch so unergründlich und endlich, hat seinen Sinn. Einen einzigen Sinn: die menschliche Vernunft." RAINER TRAUB
* Sándor Márai: "Tagebücher". Band 1: "Auszüge, Photos, Briefe, Dokumentationen". 120 Seiten; 32 Mark. Band 2: "1984-89". 168 Seiten; 38 Mark. Band 3: "1976-83". 200 Seiten; 44 Mark. Band 4: "1968-75". 304 Seiten; 48 Mark. Band 5: "1958-67". 304 Seiten; 44 Mark. Aus dem Ungarischen von Hans Skirecki. Band 6: "1945-57". Übersetzt von Paul Kárpáti. 252 Seiten; 44 Mark. Band 7: "1943-44". Übersetzt von Christian Polzin. 262 Seiten; 44 Mark. Alle im Oberbaum Verlag, Berlin.
Quelle: http://www.spiegel.de/spiegel/print/d-18124690.html

Links:

http://www.horch-und-guck.info/hug/veranstaltungen/in-memoriam-siegfried-heinrichs/
 

http://blogs.dickinson.edu/glossen/archive/most-recent-issue-glossen-342012/utz-rachowski-glossen-34/


         

Dienstag, 18. März 2014

Veranstaltungstipp: Bert Walthers Kriminale in Bad Elster (Vogtland)

Wer also gerade vor Ort ist oder spontan reisen will: 
es lohnt sich!

"Die Kultur- und Festspielstadt Bad Elster, Sachsens traditionsreichstes Staatsbad und seit Königszeiten eines der ältesten deutschen Moorheilbäder liegt im Dreiländereck zwischen Böhmen, Bayern und Sachsen - im Herzen Europas. Neben der Profilierung als Sächsisches Staatsbad mit hochwertigen Gesundheits-, Kur- und Wohlfühlangeboten ist Bad Elster aufgrund seiner einmaligen »Festspielmeile der kurzen Wege« und einem herausragenden Veranstaltungsprogramm vor allem zu einer bedeutenden »chursächsischen« Kultur- und Festspielstadt avanciert." Weiterlesen: http://badelster.de/de/bad-elster.html




Mittwoch, 7. Mai, 19.30 Uhr
Sachsenhof-Fachklinikum
BAD ELSTER







Mittwoch, 7. Mai, 19.30 Uhr
Sachsenhof-Fachklinikum
BAD ELSTER

Zur Verlagsseite: http://www.bewawabe-verlag.de/fruehling.html

"Frühlingshass" bei amazon.de: http://www.amazon.de/Fr%C3%BChlingshass-Kriminalroman-Bert-Walther/dp/B00E1QCQWO/ref=sr_1_1?s=books&ie=UTF8&qid=1394800455&sr=1-1&keywords=Fr%C3%BChlingshass

Vielen Dank und bleiben Sie dran!

Samstag, 15. März 2014

Buchkritik: Im Erfahrungsraum Prinzip Hoffnung - Franz Hodjaks neuer Gedichtband "Der Gedanke, mich selbst zu entführen, bot sich an"


[…] vielleicht
sind wir doch keine Wunderkinder, sondern

Arschlöcher, die eine Taube brauchen, um das
zu sehen, was sie nicht begreifen."

Franz Hodjak "Gedicht mit Taube"


Der neue Gedichtband von Franz Hodjak beginnt mit einem vielsprachigen Reisenden, dem Autor Franz Hodjak selbst, an einem ihm vertrauten, doch von Zeit, Gott und den Menschen verlassenen Ort. Dieser Ort ist ein stillgelegter Bahnhof. Keine Züge kommen mehr an. Keine Züge fahren mehr ab. Doch wurde der Bahnhof nicht "abgeschlossen". Und es gibt noch ein Gleis. Und auch noch einen zweiten Gast. Das Gedicht heißt "Aufgelassener Bahnhof".

Aufgelassener Bahnhof

Einst
wechselte ich hier die Sprache
wie den Zug. Jetzt sprechen da
hin und wieder Engel
und Narren. Auf nichts mehr wartend,
werfe ich die Mütze

ins gefrorene Kiesbett, zum
Schädel des Schafbocks, in dem
der Kiebitz
nistet.

Dieses Gedicht zerfällt in zwei Teile, die ein spontaner Akt miteinander verzahnt. Wobei der zweite Teil zum Begreifen des ersten Teils führt. Der Vogel im Gedicht benennt uns die Zeit, in der der Reisende den verödeten Bahnhof inspiziert. Kiebitze sind relativ früh am Brutort anzutreffen, und das ist im März.

Das Brutareal des Kiebitz reicht von Europa bis in die Türkei, Iran, Kasachstan, Mongolei, Nordchina und Ostsibirien. Allerdings verweist das gefrorene Kiesbett auf eine nördlichere Region.

Aber Vorsicht: oft wird der Norden mit Kälte und Tod assoziiert. Der Schädel des Schafbocks im gefrorenen Kiesbett dagegen mag genauso gut auf einen nur vorübergehenden Tod verweisen: denn im Schädel des Schafbocks brütet der Kiebitz neue Leben aus. Geschlüpfte Kiebitzjunge sind ab dem 35. Lebenstag vollbefiedert und flugfähig.

Andererseits ist so ein gefrorenes Kiesbett eine wirklich nun gewagte Brutstätte und fungiert in diesem Zusammenhang eher als Bedrohung des Lebens.

Dagegen die geworfene Mütze als einerseits ethischer Akt des Mitgefühls (die Mütze als Wärme speicherndes Dach) und andererseits als das praktizierte philosophische Prinzip Hoffnung, das auch bereits im Titel des Gedichtes enthalten ist. Denn es kann nur dann einen aufgelassenen Bahnhof geben, wenn dieser hin und wieder auch einmal abgeschlossen wurde.

Wenn der Sinn des Abschließens aber im Abtrennen (vom Leben der anderen) liegt, dann liegt der Sinn des Auflassens im erwarteten oder im erhofften Fest (des Lebens mit den anderen).

Beim Kiebitz handelt sich übrigens um einen Zugvogel, der weit mehr in der Welt herumkommt, als seine Brutstätte (die zudem immer der Ort auch der eigenen Geburt ist) verrät. Beginnt der Gedichtband also mit einer Visite in oder nahe Hermannstadt, Rumänien, dem Geburtsort des Dichters?

Auf jeden Fall „entführt“ Fanz Hodjak sich in seinen klug inszenierten Gedichten in eine uns angehende Geschichte. Die Geschichte nämlich von den Königskindern Ost-und Westeuropa, ein "gefrorenes Kiesbett" dazwischen.

Das wird im zweiten Gedicht des Buches sogleich noch um einiges klarer - spiegelt es doch die "Ausgewanderten" und deren Auswanderungsgrund, "Leben / die nicht mehr zählen", in den Augen der Zögernden, der vor Ort Gebliebenen, wider, die ihr Bleiben, ihr "lohnendes Leben", durch Selbstverleugnung teuer zu bezahlen hatten. Sie trauern nun um die einstige Identität und verharren doch "in dummer / Geste erstarrt, ratlos, leer".

Das nächste Tier, im nächsten Gedicht, ist ein Wal. "Taucht ein Wal auf, halten die Fischer die Zeit an." Ein beliebter Slogan einst lautete: "Nimm dir Zeit und nicht das Leben." Der Sinn der Zeit ist die Freiheit. Das Symbol der Freiheit ist der Wal. Doch ist der Wal auch Sinnbild für Sorgfalt (Aufzucht der Jungen) und Fleiß (unermüdliches Durchpflügen der Ozeane). Freiheit ist vor allem also die Freiheit, das Richtige zu tun - zum Beispiel auch, "daß man sich befreit von all dem, / was man für Freiheit/ hält". Das Gedicht mündet im Wunsch nach dem "besinnlichen blaue Montag", der als befreiender Schuss Selbstironie fungiert.

Im Gedicht "Mauer" krachen über dem Abgrund einer "Tiefe, die / nicht zusammenhält", "Die Schutzengel aus Ost und West" mit unnachgiebigen "Schuldzuweisungen" aneinander; während im darauffolgenden (in die Schulbücher gehörende) Sonett "Landgasthof" in Abzählversen volksliedhaft gegänseblümelt wird:


Landgasthof

Von der Wasserratte der Schwanz,
von er Fremde die halbe ganz.
Ein warmes Kissen fürs Kreuz,
ein alter Freund der Mark Deutz.

Etwas weniger Grau in Grau,
etwa mehr Leben im versteckten Bau.
Die Wirtin trinkt den Kaffee schneller,
ich mal schwärzer, mal heller.

Viele wankenden Brücken,
welche meine Vertrautheit kippen.
Im Campingplatz der Zaun,

durch den verluderte Damen schaun.
Nachts die stockdunklen Pfade.
Bleiben oder gehen, das ist die Frage.

Es gehört für mich zu den schönsten, weil auch Lachen machenden Gedichten in diesem an lyrischen Goldstücken und "Perspektiven" bemerkenswert reichen Buch.

Sei es die Frage, warum der Menschen nur immer so "heimatlos" lebt - die Frage, wann eigentlich etwas begann - von "Wunden" die "rosten" - eine Fremde, in der "auch die Pappeln" anders zurücksehen" - vom vorbildhaften Charakter schwadronierender Wildschweine in Städten - "Honigmonat" und "Viertelmond" - von "zwei Sonnen" - viel Liebe, die in einem Sommer wohnt - die Unendlichkeit - und wieder der Kiebitz, der nun als Metapher dient für "das, was zu sagen ist" - von "Reisenden, die singen":  mit jeder neuen Seite betritt der Leser ungegangene Wege und wird dafür belohnt!

Die Lithografien des Dresdner Malers, Grafiker und Essayisten Hubertus Giebe perfektionieren einerseits die Schönheit dieses bibliophil gestalteten Buches, andererseits erweitern sie den Inhalt zusätzlich um die Dimension der "Bildzeichen [s]eines [des Malers] Welterlebnisses" (W. Haftmann). Und auch dieses "Erlebnis", das "Welterlebnis" des Malers, setzt sich zusammen aus einem Geflecht zahlreicher Erfahrungen. Sei es nachhaltig einschneidende Historie wie der Bombenangriff auf Dresden (Grafik S. 11), sei es das erdrückende Lebensgefühl in der zweiten deutschen Diktatur (Grafiken S. 21 ff.), im hermetischen Ostblock (Grafik S. 49) oder gewonnene wie abgetrotzte Freiheit (Wal-Siege!; Grafik S. 95).


Die hier zu sehenden Dechiffrierungen einer gesichteten Welt "berühren in einem eigentümlichen Zurückkommen auf einen alten Ausgangspunk" (Haftmann) und geben alternative Antworten auf etwa Franz Hodjaks Poem "Was war?", in dem der Dichter fragt:  

Wie war es nur, als uns der Zufall spülte 
ans Ufer, müde, hungrig, abgewrackt?
Waren wir Strandgut bloß, war das der Fakt?“

Die letzten drei Zeilen des Gedichtbandes übrigens lauten:

Nimm mir ein Stück ab
von der Hoffnung, die ich allein
nicht mehr tragen kann.

Sie klingen für mich jetzt wie begleitende Worte zum lebensrettenden Flug der Mütze.

Franz Hodjak (Gedichte) / Hubertus Giebe (Lithografien), Der Gedanke, mich selbst zu entführen, bot sich an, Verlag SchumacherGebler, 98 Seiten, ISBN 978 - 3-941209-28-2.



Vielen Dank und bleiben Sie dran!


Freitag, 14. März 2014

Buchkritik: Alle haben alles zu verlieren. Bert Walthers kluger Kriminalroman „Frühlingshass“

Alle haben alles zu verlieren

Bert Walthers kluger Kriminalroman „Frühlingshass“









Jede Zerstörung sendet ihre Vorzeichen aus, nur die meisten davon nehmen wir nicht wahr. Mit seinem Krimi  „Frühlingshass“ schreibt Bert Walther ein spannend zu lesendes Verwirrspiel um Rachsucht und Gier, das im Januar 1990, mit dem gewaltsamen Tod eines Elfjährigen, s e i n e Vorzeichen sendet. Jene Zeit steht am Ende der friedlichen Osteuroparevolution des Jahres 1989 und bedeutet zugleich den Anfang ganz neuer Maßstäbe. 

Nachdem im Gebiet des Warschauer Paktes „die Revolution der Massen“ tabula rasa mit jeder Art von sozialer Einmauerung machte, gibt es diesen Staatenverbund nicht mehr. Jedem steht es fortan frei, reich und glücklich zu werden. Auch im wiedervereinten Deutschland. Doch auch hier profitieren von der neuen Freiheit, wie bekannt, vor allem die Satrapen der gestürzte Nomenklatura. Wie in Brechts „Macki Messer“ laufen die wahren Geschäfte im Verborgenen. In der Öffentlichkeit wütet allein der Wettbewerb um Marktanteile als ein Kampf ohne Grenzen. Soweit zum Zeitmotiv in Walthers wirkungsträchtigem Roman. 

Das Tatmotiv der Kriminalhandlung speist sich aus der Erkenntnis, dass selbst in der größten Freiheit das große Glück - oder hier: das neue große Glück - der anderen keineswegs grenzenlos verläuft, sondern von einer Minute auf die andere komplett zerstört werden kann. 

Man sollte es sich eben dreimal überlegen, bevor man jemanden auf die Füße tritt. Auch ein noch so zurückliegendes, selbst unglücklicherweise geschehenes Unglück, kann den oder die Beteiligten Jahre später irreparabel einholen. Auch dann, wenn sie zum Tatzeitpunkt noch Kinder gewesen sind. "Je glücklicher du bist, um so weniger kostet es, dich zu Grunde zu richten" *. Das ist der Stoff, aus dem Bert Walthers Figuren sind. 

Struktur und Spannungsbögen sind ganz hervorragend arrangiert. Nachwende Wetterleuchten dunkler Schicksalsschläge über Stuttgart, Zwickau, Strasbourg, Plauen und Poitiers. 

Kinder, Mütter, Väter, Baulöwen, Architekten, Kuriere, Fußballstars, Penner, Punker – der Mörder findet seine Opfer überall. Oder gibt es etwa mehrere Täter? Geht hier ein Islamistisches Terrornetzwerk vor? Oder gibt es eher einen rechtsextremen Hintergrund? 

 Die ost - westdeutschen Ermittler der Kripo tappen lange Zeit im Dunkeln. Nur hin und wieder Licht. Die Personnage wirkt äußerst lebendig. In diesem Buch ist alles an seinem richtigen Platz. Manches ist, zugegeben, etwas huschig in der Ausführung. Mancher doppelte, dreifache Hinweis sollte in der 3. Auflage getilgt werden, aber bisher hatte noch jedes gute Buch auch seine weniger guten Seiten. Ich habe den Krimi gern gelesen und mag die Lektüre wärmstens empfehlen.


Bert Walther, Frülingshass, Kriminalroman, BEWAWABE-Verlag, 341 Seiten, 11 Euro. ISBN 978-3-00-021633-6

Vielen Dank und bleiben Sie dran!

Samstag, 8. März 2014

Buchkritik: Fabelhaft und wunderbar - Salli Sallmanns neue Prosa

Fabelhaft und wunderbar, Salli Sallmanns neue Prosa








Der Buckelspringer heißt dieser hochkomische Reigen aus 23 Erzählungen, Stories, und bedeutet die Rückkehr der Selbstironie in die Belletristik. 

Zu seinen Meistern zählt Sallmann den Franzosen Francois Rabelais (den Erzvater des Lachens im Roman), den Russen Daniel Charms, die Tschechen Jaroslav Hašek und Bohumil Hrabal, den Deutschen Kurt Tucholsky. 

Das zentrale Thema des Buches schlichtweg lautet: Der Ernst des Lebens und was uns "normale Mitteleuropäer persönlich am meisten beschäftigt". Da riet bereits Wilhelm Busch, was man ernst meint, sagt man am besten im Spaß. 

Salli Sallmann gehört zu den Autoren, die dieses Stilmittel nach ihrem Charakter entwickelten und glänzend beherrschen. Der eigentliche, dunkle Kern seines Schreibanlasses wird vom Autor solange spöttisch umkreist, bis der erzkomische Malstrom schließlich der Prosa obsiegt. 

Wie Programmmusik (der Autor ist auch begnadeter Songwriter) heißt es in der Erzählung "Hungern": "Die Welt geht aus dem Leim und ich kriege meine Hose nicht mehr zu...Ich werde fett …. Dickwerden ist keineswegs nur ein Problem der Eitelkeit, sondern auch der Finanzen..Nicht nur die Welt unterliegt einer sich ständig vertiefenden Finanzkrise, sondern auch ich. " Und das ist es, was wir sind. Und Salli Sallmann weiß das. 

Wir beschäftigen uns permanent mit uns nur selbst; wir kraulen ständig im Ozean umher unseres Suppentellers, und wir scheitern am laufenden Band zurecht mit unseren Plänen von einer besseren Welt, ob implizit, ob explizit, alles lauter egomanische Konvolute. 

Es gibt nur zwei unumstößliche Wahrheiten und gerade diese beiden beißen sich. Erstens: Wer lebt, will etwas zu lachen haben. Zweitens: Wenn zwei sich streiten, lacht am Ende der Dritte. Die wahre Figur des Dritten aber ist der Teufel. Und der steckt auch in den Details von Sallmanns Geschichten. 

Er ist permanent anwesend: Ob als Ausländer getarnt, der einem zu obskuren Handlungen treibt (Ein Ausländerproblem), im Nacken eines Studenten der moderne Literaturwissenschaft (Hilflos), beim erfolglosen Liebhaber, die die Zeit an der falschen Stelle misst, (Balzerowiak, Kartoffelbrei), im Nacken eines sich langweilenden Hausbesitzers mit einem Faible fürs Böse (MeyerMüller), unter Künstlern in einem Hinterhaus in der Kreuzberger Fürbringerstraße und ums Eck im „Café Mistral“ (Namm namm), beim Menschen, als Untertan des Tieres (Hundeanrachie), oder beim liebeshungrigen Versager (Der Buckelspringer), um einige herauszugreifen. 

In Sallis wunderbar zu lesenden Geschichten wird gehofft, gefuttert, getrunken, gesoffen, geflirtet und gegrapscht – keiner leidet ernsthaft und doch sind sie alle schwach und es wird  (wie lebensnah !) diese Schwäche immer und überall von der Stärke  unterdrückt. 

In diesem Buch kracht es von Gegensätzen, doch nur, damit alle am Ende die Wahrheit als Suche nach der Schönheit, nach der Tugend und nach dem Guten begreifen. Dass der Weg dorthin ein krummer Weg ist, auf dem nur vorankommt, wer auch kräftig lacht, macht einem Salli Sallmann in jeder seiner Geschichten klar. Ich finde das fabelhaft und wunderbar.


PS: Auch Salli Sallmanns Konzert-Lesungen (mit Buch und Gitarre) und seine Bandprojekte (CDs) sind sehr zu empfehlen.

Salli Sallmann, Der Buckelspringer: Stories, 200 Seiten, KLAK Verlag, Broschiert 14,90 €, Kindle Edition 8,99 €.

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Freitag, 7. März 2014

Angemerkt: Sibylle Lewitscharoff hat in einem PUNKT vor allem RECHT


Sibylle Lewitscharoff hat (UNRECHT und )in einem PUNKT vor allem RECHT

Unrecht hat sie in ihrer umstrittenen - vom Wohlfahrtsausschuss (Comité de salut public) des deutschen Literaturbetriebs hochskandalierten – Rede, mit der Schmähung der künstlichen Befruchtung. A) kenne ich eine liebe Freundin, die sich in Dänemark künstlich befruchten ließ und nun einen wunderbaren kleinen Sohn hat – und B) liebe ich den wunderbaren Roman „Abschiedswalzer“ von Milan Kundera (ein MUSS!). 

Zu A ) Skandalös ist in den Fällen künstlicher Befruchtung das Verhalten der deutschen Vormundschaftsämter, die, falls sie Namen und Adresse der Spender erfahren, diese auf Biegen und Brechen zur Unterhalts-Kassen dreschen (deshalb fuhr die gute F. auch nach Dänemark und gab hier, im tugendboldigen Germanskiez, den Namen des Spenders nicht Preis!). Und: in derlei Ämtern fängt die einseitige Geschlechterunterdrückung an und setzt sich bis in die teils unerträgliche Prostitutionsdebatte fort (nur der Freier darf bestraft werden, n i e m a l s die Nutte). Ich bin kein Bordellgänger und finde doch das Unerträgliche dieser bewusst eindimensionalen Forderung ekelhaft. 

Und B) brachte das Thema künstliche Befruchtung eben einen der genialsten Roman hervor. Den hat "Lewi" womöglich noch nicht gelesen. Bringe ich einem mit ihr befreundeten Dresdner Maler mit. 

Recht hat Sibylle Lewitscharoff in der folgenden, im SPIEGEL tendenziös attackierten (teils falsch wiedergegebenen) Passage. Was Lewitschaoff hier schreibt, spiegelt absolut meine eigenen Erfahrungen wider: "Obwohl ich in den ersten beiden Jahren meines Studiums der Frauenbewegung durchaus geneigt war, wurde diese Bewegung für mich mehr und mehr zu einem Schreckbild der verblendeten, zutiefst deutschen Frauentümelei mit unsauberen Ahnenfiguren wie der Reichsfrauenführerin Gertrud Scholz-Klink und der in frauenbewegten Kreisen immer noch hoch verehrten Leni Riefenstahl. An der FU- Berlin wurde die Frauenbewegung alsbald sehr mächtig, und sie zeichnete sich vor allem durch eines aus: ihre eingewurzelte Abneigung gegen jede Form differenzierter Geistigkeit, sprich: Intellektualität, gepaart mit Selbstironie und Humor." Ebenso, wie von S.L. In ihrer rede beschrieben, habe ich diese Frauenbewegung in den 1980gern aus nächster Nähe im Westen und nicht nur an der FU-Berlin ebenfalls kennengelernt. Und eben da knüpfen heutige Geschlechterbeauftragtinnen (dieser Begriff kann nur falsch geschrieben werden) an. Nö? Nicht hier?

Studentin beleidigt Professor: "Falls wir uns in einem Puff sehen, wissen Sie warum"

Prostituierte (Archiv): Eine Potsdamer Studentin beschimpfte ihren ProfessorZur Großansicht
DPA
Prostituierte (Archiv): Eine Potsdamer Studentin beschimpfte ihren Professor
Ein Professor an der Uni Potsdam fühlt sich von einer Studentin sexuell belästigt. Weil sie eine Klausuraufgabe unfair fand, schrieb die junge Frau vulgäre Beleidigungen auf ihr Blatt. Der Professor zeigte sie daraufhin an. Übertrieben, sagen manche.
Den Paragrafen 185 dürfte die Jura-Studentin aus Potsdam in ihrer Einführung ins Strafrecht kennengelernt haben. "Die Beleidigung wird mit Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe (...) bestraft", heißt es da. Auch hätte sie sich denken können, dass ein Jura-Professor seine Rechte kennt, und dass eine geschriebene, mit dem Namen des Urhebers versehene Beleidigung vor Gericht ein perfektes Beweismittel ist.

Das hielt die Studentin Paula Heinrich, die eigentlich anders heißt, aber nicht davon ab, ihren Prüfer, Detlev Belling, in der Schuldrechtsklausur am Ende des Wintersemesters wüst zu beschimpfen: "Ich möchte mich hiermit bei Ihnen bedanken, dass Sie mich so sehr in den Arsch gefickt haben", schrieb sie laut "Märkische Allgemeine Zeitung" (MAZ) auf den Prüfungsbogen.
Offenbar empfand Heinrich die Klausuraufgabe als unfair. Das Prüfungsthema sei in der Vorlesung nur gestreift und ausdrücklich aus dem Lernstoff für die Klausur ausgeschlossen worden. "Arglistige Täuschung" warf sie den Prüfern deshalb vor - diese hätten wohl den Wunsch gehabt, sie zu ruinieren. Falle sie durch die Klausur, drohe ihr der Verlust des Bafög-Anspruchs. Dann, so folgerte die Studentin, bleibe ihr nur noch ein möglicher Gelderwerb: "Falls wir uns dann in irgendeinem Puff wiedersehen, wissen Sie warum."

Professor Belling zeigte seine Studentin an, seit Mittwoch prüft die Staatsanwaltschaft den Fall. "Ich sehe darin eine schwere Persönlichkeitsrechtsverletzung", sagte der Jurist der "MAZ". Wegen der vulgären Wortwahl fühlt sich Belling auch sexuell belästigt.
"Ist es anders, wenn ein Mann sexuell beleidigt wird?"
Das ist zwar kein Tatbestand im Sinne des Strafgesetzbuchs, Belling sieht seinen Fall aber in einem größeren gesellschaftlichen Zusammenhang: Gegenüber der "MAZ" verweist er auf den Fall des FDP-Politikers Rainer Brüderle. Der damalige Spitzenkandidat der Partei hatte mit Kommentaren über das Dekolleté einer Journalistin Anfang 2013 einemonatelange Debatte über Sexismus ausgelöst. "Ist es nun anders, wenn ein Mann von einer Frau sexuell beleidigt wird?", fragt Belling.


Der Vergleich geht manchen an der Uni Potsdam dann doch zu weit: "Der Professor sollte hier keinen Diskurs aufmachen nach dem Motto: 'Jetzt sieht man mal, dass auch Männer sexuell belästigt werden'", sagt Claudia Sprengel, Referentin für Geschlechterpolitik beim Asta der Uni. Unter sexueller Belästigung litten bis heute vor allem Frauen.

Auch wenn die Ausdrucksweise der Studentin nicht angemessen sei, hat Sprengel auch Verständnis für den Ausraster: "Es spiegelt eine Notsituation gepaart mit Existenzängsten wider, die viele Studenten erleben." Zwar wisse sie nicht, was am Vorwurf der unfairen Aufgabenstellung dran sei. Doch Professor Belling gefalle sich in seiner Opferrolle, statt über den Druck nachzudenken, unter dem die Studentin womöglich stand. Belling selbst stand SPIEGEL ONLINE für ein Gespräch nicht zur Verfügung.

Inzwischen scheint er den Vorfall aber wieder etwas gelassener zu sehen. Wenn sich die Studentin bei ihm entschuldige, werde er die Anzeige zurückziehen, teilte er über die "MAZ" mit: "Erbarmungslos bin ich nicht."

Quelle:  http://www.spiegel.de/unispiegel/studium/jura-studentin-an-uni-potsdam-beleidigt-professor-detlev-belling-a-957203.html

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Montag, 3. März 2014

Buchkritik: Der Mut der Krieger - über das Buch „Mauerkrieger“ bei Ch. Links



Der Mut der Krieger- über das Buch „Mauerkrieger“ bei Ch. Links
Herausgegeben von Ole Giec und Frank Willmann





Im wohl berühmtesten Essay über das Absurde* wird dem Leser die Beantwortung der Frage abverlangt, ob das Leben sich lohnt. Für den Fall der Verneinung bleibt als einzige Konsequenz freilich nur der Selbstmord. Die Selbstmordrate in der DDR war extrem hoch; der Rest (etwa 16 Millionen Bürger) wollte zweifelsfrei ein Leben, das sich lohnt. Und für diesen Willen zum lohnenden Leben hielt der Staat einen strickt zu lobenden wie einzuhaltenden Lebensentwurf parat.


Der Lebensentwurf dieser Sozialutopie nach stalinistischem Muster nannte sich die „Diktatur des Proletariats“. Geschäftsführende Partei dieser Diktatur war die Sozialistische Einheitspartei Deutschlands (SED). Die Partei gebrauchte Losungen wie „Alles für das Wohl des Volkes“. Es wurden Synonyme für die DDR verwendet wie „Arbeiterparadies“. Und damit nie wieder jemand aus einem Paradies vertrieben werden konnte, errichtete der allgegenwärtige SED-Staat am 13. August1961, bei schönstem Sonnenschein, ringsum seine Hauptstadt einen Schutzwall. Wer jetzt fand, dass sich ein Leben in diesem „Paradies“ nun eigentlich nicht mehr lohne, brauchte nur einen Fluchtversuch zu wagen. Die unheiligen Erzengel an den Grenzen dieses Paradieses wurden täglich mit Schießbefehl und scharfer Munition (jedes Magazin 60 Schuss) „vergattert“, die Unbeflecktheit des Schutzwalls zu gewährleisten.


Eine zuverlässige Gesamtzahl der Toten an der innerdeutschen Grenze gibt es bis heute nicht, doch darf gesagt sein, es sind viele. Erschlossen dagegen sind die Tötungen an der Berliner Mauer. Die Zahl ist dreistellig. Beleuchtende Statements nach dem Untergang dieses SED-Staates sind inzwischen Legion. "Die DDR war ein überflüssiges Experiment" ist eines. Es stammt von Dirk Mecklenbeck, einem der „Mauerkrieger ". Diese Bezeichnung fasst eine Gruppe „junger Ausgereister aus der Hallenser Heavy Metal - und Punk-Szene“ zusammen, die „von West-Berlin aus das zunehmende Aufbegehren gegen die politischen Verhältnisse in der DDR unterstützen“ und „Zeichen der Solidarität nach Osten setzen und gegen die Gleichgültigkeit derjenigen protestieren, die sich im Westen mit der Mauer arrangiert“ hatten. Der Klappentext des von den Herausgebern Ole Giec und Frank Willmann sorgfältig zusammengestellten und kommentierten Bandes, „Mauerkrieger.Aktionen gegen die Mauer in West-Berlin 1989“, fokussiert wieder ein faszinierendes Stück Neuland innerhalb der Aufarbeitungsliteratur über die zweite deutsche Diktatur.


Rückblick. „Das realsozialistische Experiment muss weitergehen", stand auf dem Flugblatt eines Westberliner FU - Professors, vorgelegt einer kleinen Runde im „Café Limit“, in der Moabiter Waldstraße, im Herbst '89 , als die Bürger der DDR ihren Staat soeben entmachteten. Die DDR verkaufte Menschen gegen Valuta und wurde immer süchtiger nach diesem Handel. Das kapitalistische Erfolgsrezept, in Investigationen zu investieren, wurde überhaupt nicht verstanden, außer wenn es um Geheimdienste und deren Machenschaften ging. Die Wirtschaft ging den Bach runter. Der Kontrollwahn nahm zu. Für sein Misslingen machte der suchtkranke Staat am Ende das Volk verantwortlich. Das gab es schon einmal, für das eigene Versagen das Volk vorzuschieben: der Mann hieß Hitler, aufgeschrieben wurde es im Bunker, so steht es in dessen Testament. Das Aller-Böseste aber für den SED-Staat war der Westen, die Bundesrepublik, der andere deutsche Teilstaat, der, wie die DDR, nach Hitlers Niederlage entstand, nur eben kapitalistisch orientiert. Dessen Einfluss auf die DDR-Jugend wurde von Polizei und Geheimdienst als größte Gefahr gesehen. Der Westen wurde verboten - und war um so attraktiver. Und nur wer attraktiv ist, gewinnt.


Und mal ehrlich, wo produzierte die "Zone" außer Schlaglöcher mal was Eigenes? DeDeRon? War Perlon. Das ist traurig, aber es gibt keinen Traurigkeitsbonus. Traurig lohnt sich kein Leben. Das Volk der DDR dachte westlich. Die DDR-Bonzen lebten westlich. Und hielten am Westverbot für das Volk fest. Eine Niedertracht mit Folgen. West-Mode und West-Musik dominierten den Osten. Ins Land geschmuggelte Broschüren mit Berichten und Abbildungen des vermeintlichen Lebensgeschmacks der Westjugend hatten Konjunktur. Wer sich das im Osten zu eigen machte, lief nun Gefahr, mit dem kruden Vorwurf des „antisozialistischen Verhaltens“ konfrontiert zu werden und wanderte auch schnell mal in den Knast. Der Staat kriminalisierte, was ihm nicht geheuer war. Das verdeutlichen beeindruckend die im „Мauerkrieger“ - Buch vorgestellten Lebensläufe.


Raik Adam besucht einen evangelischen Kindergarten, anstatt jene auf sozialistische Früherziehung ausgerichtete staatliche Kinderschmiede zu besuchen. Von den Eltern bekommt er das Zwei-Gesichter-System des SED-Staates erklärt: das ehrliche für zu Hause, das schummelnde für die Öffentlichkeit. Zuhause, privat, laufen im im Radio und im Fernsehen nur Westsender. Die Westverwandtschaft schickt zudem reichlich Jeans und T-Shirts. In der Schule spielt einmal ein Lehrer im Vollrausch verbotene Platten der Rolling Stones. Ob die LP's der Rolling Stones in der DDR tatsächlich verboten waren, entzieht sich der Kenntnis des Rezensenten. Das DDR-Label „Amica“ brachte zumindest 1983 eine Auswahl der bekanntesten frühen Stones-Hits heraus. Auch schickte der Rezensent selbst etliche Plattenpakete mit Stones-Scheiben in den Osten und alle kamen unversehrt bei den Adressaten an. Andererseits hieß der beim RIAS von Osthörern häufigst gewünschte Titel „Street Fighting Man“. Und der RIAS war Feindsender Nummer 1. Und so eine durchaus sympathische Eskapade wie die des betrunkenen Lehrers, konnten im Osten eine Vita frühzeitig dicht machen und eine weitere Karriere ausschließen. Oder man diente sich sich durch noch größeres Anpassen dem SED-Staat. Etwa als Spitzel, der verhasstesten Spezies auf Erden. Für derlei Dienste erweisen sich die vier Helden des Buches als völlig ungeeignet. Sie standen auf Amerikanische Literatur (seit der 1950ger-Generation unangefochtene Nr.1: Jack Kerouacs „On The Road“), gründeten eine eigene Punk-Band, sprühten Graffiti a la „Stell dir vor, es sind Wahlen und keiner geht hin.“ Jeder im Osten wusste, wie der Staat sein eigenes Volk betrog. Aber sagt man das laut, klebten einem schon die Häscher an den Fersen. Die Mehrheit verhielt sich still, noch. Die "Mauerkrieger" gehörten nicht zu dieser Mehrheit.


Heiko Bartsch ist seit den gemeinsamen Tagen im evangelischen Kindergarten Adams Kumpel. Nach der Scheidung der Eltern fällt Bartschs Erziehung größtenteils den Großeltern zu. Der Großvater gehört zu den nach dem Krieg enteigneten Hallenser Unternehmern. 1979 reisen die Großeltern in den Westen auf Besuch und kehren nicht zurück. Nun werden die Freude zur Familie. Auf dem Schwarzmarkt in Polen gekaufte Symbole wie das Victory - Zeichen sind Zaubersymbole und Мutmacher in einem.


Gundor Holesch könnte es besser haben. Für ihn könnte sich ein Leben in der DDR absolut lohnen. Er stammt aus einer Akademikerfamilie, die voll auf Parteilinie liegt und den Haushalt „antiseptisch“ sauber hält. Ab der Grundschule schon zeigt er Interesse fürs Fotografieren, aber eben auch dafür, mit seinen Kumpels „abzuhängen“ (sic). Zudem schwärmt er wie Raik Adam und Heiko Bartsch für Heavy-Metal und Punk. Hinzu kommt sein Faible für westliche Motorräder. Seine Fotomotive findet er auf dem Parkplatz der Autobahnraststätte Köckern, gelegen an der Transitstrecke zwischen West-Berlin und der Bundesrepublik. Der Verkauf der Fotos findet auf Flohmärkten und unter Freunden statt. Zur Krönung gründet er zusammen mit René Boche eine eigene Band. Punk, versteht sich. No Future, die Pose der Verdammten, ätzende Musik Mehr "auf allem herumtrampeln" ging nicht. Der Staat wartete auf seine Chance zurückzuschlagen.


René Boche wächst ohne Vater auf. Die Mutter ist Journalistin und hat immer wenig Zeit. Von einer Lehre als Fertigungstechniker wird er aus „pädagogischen Gründen“ vom Staat in eine Lehre als Tischler „zwangsumgesetzt“. Während der Ausbildung erhält er finanzielle Unterstützung durch die Mutter. Was im Staat geschieht, gefällt ihm nicht. Er hat andere Pläne und stellt im Jahr 1984 einen Antrag auf Übersiedlung in den Westen. Doch anstatt ihn in den Westen zu entlassen, zieht ihn der Staat in die Armee ein. René Boche leistet seine Grund Wehrdienst und hält das schikanöse Leben in der nationalen Volksarmee (NVA), wie übrigend auch Heiko Bartsch, fest.


Die Walze zur Zerschlagung der Punk-Bewegung in der DDR rollte seit dem Jahr 1980 im großen Maßstab über die DDR hinweg. Immer mehr Spitzel werden in die bunte Szene eingeschleust. Für den Staat musste stets neues Wissen her: Gibt es Kontakte in den Westen zu ähnlichen Gruppierungen? Alle Namen, Äußerungen, Absichten. Nach außen hin soll die DDDR demokratisch dastehen, doch muss der SED-Staat alles in der Hand haben. Das ist die innerste Parole. Wolfgang Leonhard hielt Wortlaut und Herkunft in seinem Buch „Die Revolution frisst ihre Kinder“ fest. Der SED-Staat entzieht den rebellierenden Jugendlichen endgültig sein Vertrauen, als ihm auch noch deren Reisen zu den Montagsgebeten nach Leipzig bekannt wird. Die Nikolaikirche ist dem SED-Staat wie der Westen verhasst. Er reagiert mit dem Einzug der Personalausweise und erteilt den berüchtigten vierblättrigen „PM 12“. Der PM 12 ist sozusagen letzte Warnung und erste Stufe der Kriminalisierung (Niederhaltung) vermeintlich entgegensteuernder Bürger. Wer mit einem PM 12 außerhalb seines Wohnkreises, seiner Stadt, kontrolliert wird, hat schlechte Karten, seinen Weg unbehelligt fortzusetzen. Und den Ausweise bei sich zu führen, ist im SED-Staat Pflicht.


Auslandsfahrten sind mit einem „PM 12“ völlig unmöglich. Das Schild-und Schwert der SED, das Ministerium für Staatssicherheit, wartete auf seine Chance, die Jugendlichen einzubuchten. Und dies ist ihm beinahe auch gelungen.


Als ein weiterer im Bunde, Dirk Mecklenbeck im März 1986 auf Urlaubsfahrt  in die Tschechoslowakei (Tschechien und die Slowakei bildeten damals einen gemeinsamen Staat) an der Grenzübergangsstelle Bad Brambach mit dem Vorwurf auf Vorbereitung zur Flucht (in den Westen) festgenommen wird, hängt an der Stasi-Angel wirklich ein kleiner fetter Fisch.


Denn an jenem Tag wird Dirk Mecklenbeck in Karlovy Vary (Karlsbad) von seinem Cousin Raik Adam erwartet, der wenige Wochen zuvor in den Westen, nach West-Berlin, ausreisen durfte. Bei diesem Treffen will Dirk Mecklenbeck an Raik Adam die Briefe mit Heiko Bartsch NVA-Auszeichnungen übergeben. Sie sollen im Westen veröffentlicht werden. Doch daraus wird nichts. Dirk Mecklenbeck führt die Briefe bei seiner Verhaftung mit sich. Verurteilungen stehen in solchen Fällen bisher außer Frage. Doch nach einer Woche Untersuchungshaft kehrt Dirk Mecklenbeck nach Hause zurück. Wie konnte das geschehen?


Der im Buch abgebildete Auszug eines Vernehmungsprotokolls jener Haft-Woche gibt darauf zumindest die eine Antwort, dass die deutliche Nichtbereitschaft, selbst in dieser ausweglosen Situation, dem SED-Staat Rede und Antwort zu verweigern, sprich auch dann nicht Verrat zu üben, nunmehr den Staat in eine ausweglose Situation versetzte. Die Situation - kippte.


„[...] Frage: Hat ihr Cousin [Raik Adam] ausländische Stellen, Einrichtungen oder Personen im Zusammenhang mit der Durchsetzung seiner Übersiedlungsabsichten nach der BRD eingeschaltet? Antwort: Mein Cousin hat irgendwie entweder weitläufige Verwandtschaft in der BRD und auch zwei seiner ehemaligen Schulfreunde wohnen seit etwa einem Jahr in Westberlin. Ober er aber im Zusammenhang mit der Durchsetzung seiner Übersiedlungsabsichten nach der BRD diese Personen mit einbezogen hat, oder über diese Personen staatliche Stellen der BRD mit einbezog, entzieht sich meinen Kenntnissen. [...]“


Eine weitere Antwort ergibt sich womöglich auch aus der Verunsicherung der SED-Organe, seit dem offiziellen Kurswechsel Gorbatschows. Zwar wurde als äußerstes Zeichen des Nichteinverständnisses mit einer „Perestroika“ (Umgestaltung) in der DDR das beliebte sowjetische Wissensmagazin „Sputnik“ verboten, andererseits wurde auch Heiko Bartsch nicht verhaftet. Vor Gorbatschows war das undenkbar! In der Sowjetunion war ein zweites "Tauwetter" angebrochen und so manche Tabus flogen über Bord. Solschenizyns Meistererzählung über das stalinistische Gulagsystem, „Ein Tag im Leben des Iwan Denissowitsch“, wurde gedruckt. In der DDR gab es für den Besitz und/oder die Vervielfältigung des Buches weiterhin einige Jahre Knast.


Das alte DDR-System verharrte in alten Zeiten und zementierte sich. An seine alten Feinde war es gewohnt. Die neuen Feinde aber meldeten erst gar keine Widerspruch an. Ihr eigener, ganz anderer Lebensentwurf war es - der Widerspruch schlechthin. Alles half nichts, keine Änderung in Sicht. Schließlich will der SED-Staat die Jungens leise loswerden. Nach Raik Adam erhielten auch die anderen Freunde die Ausreisepapiere. Sie aus der Staatsbürgerschaft der DDR zu entlassen, war der DDR-Organe innigster Wunsch. Vielleicht. Denn die Bundesrepublik bezahlte auch für dies sogenannten legal Ausgereisten die gleiche Summe, wie für die Freigekauften aus den DDR-Knästen. Pro Kopf fast 100.000 DM. Ein "Gott-sei-Dank und-Schwamm-Drüber“ gibt in dieser Geschichte aber nicht. Für die ausgereisten Hallenser geht der Kampf gegen das DDR-System in West-Berlin erst richtig los.


Radikalisiert durch die (hier nicht weiter wiedergegebenen) Schikanen des DDR-Systems und den Schock über den Jubel in der DDR-Presse über den brutalen Massenmord auf dem Platz des himmlischen Friedens in Peking, werden nun Aktionen gegen die Mauer durchgeführt. Durch die "Mauerkrieger", wie sich die Jugendlichen von nun an nennen, werden mittels Molotow – Cocktails Wachtürme in Brand gesteckt, Grenzzäune nach der Art von Papierschneidearbeiten "verschönert", will sagen: zerstört - und kein Mensch soll und kein Mensch wird dadurch in Gefahr gebracht. Und bald darauf, am 04. November 1989, ist die Mauer auch schon Geschichte. Sicher auch Weltgeschichte.


Alle Hintergrunde und Beweggründe werden von den Herausgebern faktenreich dargestellt. Sie enthalten dem Leser nichts vor. Denn auch Ambivalenz und Teilhabe der Internationalen Gesellschaft für Menschenrechte (IGFM) an den Aktionen in West-Berlin gegen die Mauer werden gründlich erörtert. Das Buch baut sich logisch auf und liest sich wie das Skript eines rasanten Films. Wenn Mut, Engagement und hohes Handwerk Preise gewinnen könnten, dann bitte einmal alle an "Mauerkrieger". Eine herausragende Lektüre.


* Albert Camus, Der Mythos von Sisyphos, Gallimard 1942


Ole Gic, Frank Willmann (Hg.), Mauerkrieger, Aktionen gegen die Mauer in West-Berlin 1989, Verlag Ch. Links (VÖ: 24. Februar 2014), ISBN: 978-3-86153-788-5, 128 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 14,90 Euro

Quellen (mit jeweils verschiedenen Überschriften):

 03.März 2014 10:34 Weltexpress International: http://www.weltexpress.info/cms/deutsch/news-singleview/archive/2014/03/03/article/die-ddr-war-ein-ueberfluessiges-experiment-rezension-zum-buch-mauerkrieger-im-ch-links-v.html

07.März 2014 Tabula Rasa - Zeitung für Gesellschaft und Kultur:  http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_5380/

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Offener Brief: An den Geschäftsführer Lars Kleba, Die Linke Sachsen, und Protestschreiben des P.E.N. Zentrums deutschsprachiger Autoren gegen die Willkürmaßnahme des Oberbürgermeisters von Reichenbach (Vogtland), Henry Ruß

Die Linke Sachsen Lars Kleba Cottaer Str. 6c 01159 Dresden Tel.: 0351 85327-0 Fax: 0351 85327-20 kontakt@dielinke-sachsen.de Sehr geehrter H...