Samstag, 2. April 2016

Buchkritik: Herr Hübner und die sibirische Nachtigall. Ein Roman von Schädlich

von Axel Reitel

Das Elend überredet uns
zur Verzweiflung;
der Stolz zur Anmaßung.

Pascal, Pensées, Aphorismus 229



Der Weg ins Paradies führt über das Universum der Niedertracht. Wieviele unsagbare Schicksale bilden das schreckliche Antlitz dieser Welt? Wir sind Verdammte, seit wir das zulassen. Wir sehen, was wir sehen wollen, und das sind vor allem: keine Schwierigkeiten. Romantisch, was wie schön gedeckt mit Kerzenschein aussieht und wenn einer dazu am Klavier sitzt. Und wenn der Klavierspieler gerade von da herkommt, wo gequält wird? Nur Kinder stellen solche Fragen. Das ist so sicher,wie auf ihren Spaziergängen durch die Wohnung keine Tür verschlossen bleibt. Mutti, Vati, was geschieht in einem Lager? Die Antwort lautet – wetten -,dass sich das so einfach gar nicht sagen lässt.

Susanne Schädlich leuchtet in ihrem Roman „Herr Hübner und die sibirische Nachtigall“ das Unsagbare aus und verwebt die Lebensfäden zweier Schicksale zu einer lehrreichen Geschichte: die des Liberaldemokraten Dietrich Hübner, der im Jahr 1948, mit 21, von der sowjetischen Militärverwaltung verhaftet wird. Mara Jakisch, eine Operettensängerin und Filmschauspielerin, ist bei ihrer Verhaftung bereits 42. Beide schmoren in der KGB-Untersuchunghaftanstalt am Münchner Platz in Dresden.

Und beide werden dort für kurze Zeit Zellennachbarn und tauschen sich über Klopfzeichen aus (A 1 bis Z 26, Wortende kurz zweimal kurz, Ende der Info dreimal kurz). Sehen werden sie sich nie, aber sie werden sich für immer im Gedächtnis bewahren. Beide hatten einst vor, die Welt zu verbessern - er über die Politik, sie über die Macht der Musik (was ihr noch helfen wird) -, jetzt warten drakonische Strafen auf sie. Beide erhalten 25 Jahre Arbeitslager. Wobei Dietrich Hübner in der Sowjetisch besetzten Zone bleibt, –die am 07. Oktober 1949 zur Deutsche Demokratische Republik, kurz DDR, umgestaltet wird -,und wünscht sich im Laufe der Haftjahre manchmal nach Sibirien.
Während Mara Jakisch tatsächlich in den sibirischen Gulag kommt und sich nach Deutschland zurücksehnt. Doch gegenüber der Präsenz des Lagers und was es über die Jahre dem Leidtragenden zunehmend an Kraft abringt, spielt am Ende nur noch innere Stärke die Rolle, selbst das Leiden als erträgliche Existenz anzuerkennen.

Lenin, der für ein irdisches Paradies war, hatte die Losung ausgegeben, dass uns Menschen, anstatt mit dem Wahren, Schönen und Guten zu begeistern, stets ordentlich eins über den Schädel gehört. Genau in diesem Sinne gestaltete sich auch die Lagerwelt des KGB.

Was Susanne Schädlich auszeichnet ist, dass sie die Strategie der Lagertechnik eher in der Unschärfe lässt – darüber wurde ja eh schon alles geschrieben -, während ihre ganze Aufmerksamkeit der Technik des Überlebenskampfes der Leidtragenden gilt.

Aufmerksamkeit? Moment mal! Was ist mit den begangenen Verbrechen? Nun ja, wenn das Verbrechen sind. Also: Dietrich Hübner war Liberaldemokrat und damit kein Kommunist. Punkt. Er musste weg. Auch über diese Technik gibt es bereits ausgezeichnete Literatur. Und Mara Jakisch? Die sang auch im braunen Reich, das stimmt. Sang sie aber auch im Herzen für Hitler? Spielte Heinrich George auch im Herzen für Hitler? 1941 war Mara auch in Paris. Von der"Austellung 'Le Juif des France"' (S. 27) hielt sie sich jedoch fern.

Dietrich Hübner war von Herzen Liberaldemokrat und kein Kommunist, das stimmt. Dürfen wir einen Menschen aber nur deswegen zum Verstummen bringen, weil er uns irgendwie nicht - oder nicht mehr -,in den Kram passt? Der KGB durfte das nicht nur, er war besessen vom Verstummenbringen anderer Menschen. Das war sein inneres Ziel. Nur zu diesem Zweck wurden in den Lagern die unwürdigsten Bedinungen geschaffen.

Susanne Schädlichs weist in ihrem ausgezeichnet strukturiertem Roman drei Möglichkeiten auf, die Würde und das Leben in diesen Lagern zu bewahren: ein festes Herz und einen eisernen Willen (Hübner) oder eine goldene Stimme (Jakisch); die größere Rolle aber spielt die Zeit.
Im Roman klingt das so: "An einem kühlen Morgen nahm eine sehr viel ältere russische Frau Maras Gesicht in ihre Hände, küßte die rechte Wange, die linke Wange, die rechte, die linke. Die viel ältere Frau bekreuzigt sich. 'Sobaka umerla! Sobaka umarla!' sagte sie. Der Hund ist tot.'" (S. 90)
Stalin war gestorben und die Zeiten änderten sich. Mara Jakisch durfte im Lager auftreten, singen und sich und den anderen Trost spenden. Auch solche Erfahrungen haben Folgen. Später, als sie längst entlassen ist, in Frankfurt am Main lebt,ist sie, sobald am Himmel der "Mond als Sichel" steht, wieder "in Sibirien".Im Buch klingt das so: "Und sie sah dieses Licht. Dieses blaue Licht von Sibirien. Das sie nicht ersehnte. Das sie nicht losließ." (S. 192)

In der SBZ, seit 1949 DDR,knallten indessen weiter die schweren Riegel. "Gesicht zu Boden." ... "Umdrehen, Gesicht zur Wand." ... "Gehnse." "Stehenbleiben. Gesicht zur Wand." (S. 193) Und diesging bekanntlich weiter so bis zum Herbst 1989, in dem sich - und das in nur drei Wochen -, alle acht Völker des kommunistischen Osteuropas von ihrer Machthabern befreiten. Dietrich Hübner gelangte im August 1964 aus der Haft in die Bundesrepublik und fand erfolgreich seinen Platz in der Politik.

Für beide Protagonisten, für Dietrich Hübner wie für Mara Jakisch, bleiben es in der Erinnerung entbehrungsreiche Jahre voller Schläge, Hunger und Kälte, aber nie voller Einsamkeit. Susanne Schädlichs Buch ist eine kleine wunderbare Enzyklopädie menschlicher Solidarität, das einem das Herz öffnet und wieder einmal eine Axt ist gegen das gefrorene Meer in uns (Thank you, Mister Kafka). Kurz: Susanne Schädlich erzählt knapp, dafür bleibt sie beim wesentlichen. Damit weckt sie unsere Neugier, macht Wegsehen unmöglich, verdammt.


Susanne Schädlich, Herr Hübner und die sibirische Nachtigall, Roman, Droemer 234 Seiten. ISBN 978-3-426-19975


Erstveröffentlichung: http://tabularasamagazin.de/artikel/artikel_5905/

Buchkritik: Feine Herzen, grobe Herzen in Nicki Pawlows neuem Buch “Der bulgarische Arzt”

von Axel Reitel

2019 wird die bulgarische Stadt Plovdiv die europäische Kulturhauptstadt. Und in Plovdiv spielt auch ein Gutteil der spannenden Handlung des Romans der 1964 in Köthen, Sachsen-Anhalt, mitten im Kalten Krieg als Tochter eines bulgarischen Vaters, des Arztes, und einer deutschen Mutter, geborenen Nicki Pawlow. In Plovdiv lebt die Familie des Vaters, dessen wuchtiger Schädel bald einem befreundeten Ostberliner Bildhauer als Vorlage für eine Karl-Marx-Büste dient. Diese wird von der Tochter im “Haus des Lehrers” am Stralauer Platz erinnert, wo sie sie einmal bewundert und von wo sie nach dem Ende der DDR über Nacht verschwindet.


Das wäre sozusagen der Türöffner des Romans, bei dem es sich einerseits um die Spurensuche nach der Biografie des gutherzigen, doch von Wutanfällen heimgesuchten Vaters mit der “slawischen Seele” und der zwischen Narzißmus und Eiseskälte taumelnden deutschen Nachkriegsfamilie der Mutter dreht. Andererseits spielt Nicki Pawlow wie bereits in ihrem Roman, “Die Frau in der Streichholzschachtel”, äußerst geschickt mit politischer Zeitgeschichte und ihren Folgen für die betroffenen Menschen. Und diese treten am deutlichsten am zweiten Schauplatz des Romans hervor, in der zwischen Ost und West gespaltenen DDR. Dass dabei vor allem der Neid auf Freiheit und Besitz der anderen eine Rolle spielte und ganz speziell der Neid auf den Westen, der ganze Familienstrukturen und Liebesverhältnisse zerreißt, arbeitet die Autorin in einer Schlüsselszene heraus, wie in jener zwischen der Mutter Rose und deren Geliebten Jakobi (sic), einem Befürworter des rigiden Staatssystems, heraus: “Sie erzählte, wie Jacobi an einer roten Ampel gehalten hatte und wie ihr Blick auf einen weißen Transporter auf der anderen Straßenseite gefallen war...Vor dem Transporter parkte ein "Tschaika" [russische Luxus-Limousine]. Die Möbelträger verstauten gerade Tische, Stühle, Kommoden und Schränke.” Eine Wohnung eines in den Westen Geflohenen wird von den Dienern der Staatsmacht ausgeräumt, das Interieurs beschlagnahmt, was Rose entrüstet und Jacobi gefällt: “Verräter brauchen kein Privateigentum!” (S.306)


Diese herablassende Haltung des Mitläufers Jacobi, in seiner Neugier auf Schlechtes, empört Roses Prinzip der Bereitschaft zur Freude. Vor allem aufgrund der Tatsache, dass die Unvereinbarkeit, die am Ende der Szene beide voneinander trennt, auch an anderen, heute noch existierenden Orten – und nicht allein in der DDR -, spielen könnte, verweist auch auf die universellen Grundproblematiken innerhalb der Handlung.


Ja, die Autorin Nicki Pawlow führt uns in der Tat so einiges vor Augen und beweist, dass die DDR weder “auserzählt” ist - noch auserzählt sein kann. Wie auch kann von einem Staat mit seinen nahezu zahllosen internationalen Verflechtungen wie zum Beispiel in die Volksrepubliken Afrika, Asien und die Karibik jemals alles erzählt sein? Überall da waren Menschen wie die Familie Nikolow unter der Maßgabe einzuhaltender Gesetze und gegebener Gesetzmäßigkeiten unterwegs. Natürlich waren jene Gesetze auf die Unterwerfung der Menschen ausgerichtet und erzeugten Konflikte. Genau das ist der Stoff, aus dem Nicki Pawlows höchst bemerkenswerter Roman ist. So wird das eigentliche dramaturgische Ziel der Protagonisten, nämlich die Flucht in den Westen, vom äußersten Rand her und durch Nebenfiguren – durch Mitglieder des deutschen Teils der deutsch-bulgarischen Familie-, eingeführt: [...] “Aber es geht doch um die Freiheit!” rief Rose. Und Lotti sagte: “Genau!” “Von einem Schlamassel sind wa in den nächsten jerutscht”, kam es von Max, der nervös an seiner kalten Zigarre zog. “Unser Bruder hat’s richtig gemacht, der ist im Westen!”, sagte Lotti.[...] (S. 68)
Die gesamte Szene entwickelt die Autorin über drei Seiten und sie gehört mit zu den besten des Romans. Vor allem spricht Lottiaus, was Wantschos Familie letzten Endes nur übrigbleibt. Dabei wird vorher zunächst aus der DDR nach Bulgarien zu Wantschos Eltern umgezogen, was sich einerseits aus scheinbar kulturellen Unvereinbarkeiten -die von der deutschen Schwiegermutter Wantscho ständig in wahrlich eiskalten Briefen unter die Nase gerieben werden. Andererseits verdient Wantscho, obwohl er schnell eine gute Stelle als Arzt findet, so gering, dass es zum Ernähren einer Familie – Rose wird in Bulgarien schwanger -, kaum reicht.


So bleibt am Ende nichts anderes als die Rück-Siedlung in der DDR. Dort lässt es sich zunächst gut an, doch überschlagen sich gerade jetzt jene politischen Ereignisse, die heute als Anfang vom Ende des Kommunismus gelten. Die Panzerkolonnen der Warschauer Paktstaaten 1968 überraschen die Familie während des Badeurlaubes in Heiligendamm. 1976 folgt die Ausbürgerung Wolf Biermanns, die sich gerade für die DDR als Sargnagel erwies.


Beeindruckend schildert die Autorin eines der letzten Konzerte Manfred Krugs in jenem kleinen Kaff in Thüringen, in dem Familie Nikolow in der DDR bis zur ihrer ausgeklügelten Flucht in den Westen lebt. Der herzhafte Auftritt des beliebtesten Schauspielers und Jazzsängers der DDR, der sich mit seinem Freund und Kollegen Biermann solidarisierte, gerät zum Alptraum für die zum Konzert geschickten FDJ- und MfS-Schlägerbanden, als Krug von der Bühne herab mit ihnen Klartext redet und anschließend die Bühne verlässt.


Es wimmelt von VoPos und schließlich soll Wantscho wegen des Konzertbesuches der Doktortitel aberkannt werden (S.304). Nichtsdestotrotz erhält er am Tag des Gesundheitswesens eine hohe Auszeichnung, doch als er das Podest für die Dankesrede besteigt, denkt er nur an die eigene Flucht. Auch mit der Beschreibung der beinahe in letzter Sekunde gescheiterten Flucht der Familie Nikolow über Österreich gelingt der Autorin ein Stück ganz hervorragender Prosa.

Überhaupt hält dieser großartig geschriebene Roman das Krachen der Gegensätze von einst in ungeheuer lebendigen Bildern fest. Und last but not least lebt dieser Roman auch von der Tatsache, dass die Autorin, mit Georg Steiner gesprochen, ihr Thema nicht einfach mal so auswählte, sondern hier suchte sich zweifelsfrei ein Thema seine Autorin. Das lässt sich gerade einmal von den Glaubwürdigsten sagen.

Nicki Pawlow, Der bulgarische Arzt, Roman, Langen Müller Verlag, 496 Seiten, € 23,70.

Buchkritik: Ein Hort des Entzückens - Deutscher Kolumnist schreibt den Fußball in die hohe Literatur



von Axel Reitel
„Auch jetzt noch sind die sonntäglichen Sportveranstaltungen in einem zu Bersten gefüllten Stadion und das Theater, das ich mit einer Leidenschaft ohnegleichen liebte, die einzigen Stätten auf der Welt, wo ich mich unschuldig fühle.

Albert Camus, Der Fall


Das Vorwort schon stimmt hoch ein. Und Vorwort-Autor Markus Hesselmann behält auch recht. Die ersten Seiten bereits machen klar, warum diese Texte so hammermäßig gelobt werden. „Die Fußballkunst wird vom interessierten Volk in allen möglichen Formen goutiert“, bekennt der Autor, wem er bei seinen Reportagen aufs Maul schaut, in Kolumne 11 - der die Überschrift auch entnommen ist.

„Fliegen kann jeder“- aber wer schreibt, nimmt „den harten Weg“ (S.9). Ein guter Autor nimmt dabei, was er verwerten kann. Eine Kunst, die von Frank Willmann perfekt beherrscht wird. Dieser Autor fängt so gut wohl wie alles ein, was den Leuten durch den Kopf geht - und was sie mit der Zeit wieder vergessen hätten, weil immerdar abgelenkt und beherrscht davon , „bestimmte Rituale einzuhalten“ (S. 61).

Frank Willmann schreibt klug und phantasievoll, er geißelt, er motzt, er lacht, er sieht die Zusammenhänge und gießt sie in staunen machende, hochpoetische Bilder. Er nimmt auch kein Blatt vor den Mund. Tüchtig teilt vor allem namentlich nach oben aus, etwa wenn Beckenbauer oder Hoeneß verbal unsinnig werden oder wenn eine „Person wie Katrin Müller-Hohenstein ... sich gern mal vor lauter Verzückung einen inneren Reichsparteitag gönnt“ (Seite 156). Er legt den Finger auf die Wunde. Dabei ist der Autor Frank Willmann dem Feminismus keineswegs abhold, im Gegenteil, er schreibt klar und deutlich, dass das brachiale Gehabe mancher Fanschaften es nur beim Männerfußball gibt; auch die hier und da eingeschobenen Familienbilder mit der hochklugen Ehefrau und dem gemeinsamen Sohn klingen inspiriert an.
Frank Willmann legt den Finger auf die Wunde, aber bohrt in der Wunder nicht herum, sondern macht es eher wie „der Geist von Berni“ (S.88f), er „hört hin und gleichsam weg“. Was bleibt ist Quintessenz. Die Schwächen des Einzelnen sind die Schwächen aller.

Schärfer geht er um mit den Abgründen des blasser zwar gewordenen - doch immer noch zupackenden braunen Himmels über Deutschland - sie lassen Frank Willmann (wie auch den Rezensenten) erschauern. An diesem Punk lässt der Kolumnist, zu Recht, Null-Komma -Nichts durchgehen, auch kein „klitzekleines 'Heil'“ im Hallraum des „angestimmten Kurzgesangs 'Sieg'“ (S.154).Und Frank Willmann drückt sich so aus, dass es sitzt. Derartige „Szenerien“ verderben die Weltmeistertitel-Freuden fürwahr.

Der dicke Rest des Buches folgt dem Hauptmotiv indessen: „Lachen ist gesund“. Keine Barrieren. Nirgendwo. Ein Zaun ist „kein Hindernis“, noch wie Zyankali ätzende Fangesänge (S.120). Ob „sympathischer Club“ (S.121) oder „nimmersattes Monstrum“ (S. 151). Frank Willmann ist überall zu Hause und erweist sich als rasender Fußballreporter nicht nur in Deutschland - das er ironisch verkürzt auf Schland - sondern „in jeder Himmelsrichtung“. Ost- und Westeuropa, Südamerika: neben philosophischen Fußballbetrachtungen hat er ebenfalls erstrangige Städtebeschreibungen drauf.

Den Anker dabei tief im Bitumen der unteren Ränge, mitten im Menschenmeer der verschmähten breiten Masse, in der aber eben auch noch Ehrlichkeit , Lebensfreude und Unschärfe als Regulativ zu Hause sind.

Hier lebt man eben noch die Kunst, über menschliche Schwächen hinwegzusehen. Und so mischt auch der Autor Willmann von den gern übersehenen eigentlich nur die großen verzapften Übel in seine Fußballnachrichten mit ein und zeigt so nebenbei, wie wahres Engagement den Spaß nicht einfach so mal auf der Strecke lässt.

Empfiehlt sich hier das Bild von Diogenes? Der Rezensent hat keine Ahnung, er tauchte einfach auf. Wie weiland mit seiner Laterne durch die breiten Masse von Athen, hält er dir den Spiegel vor Augen und ruft: „Menschen suche ich! Menschen!“ Und warum nicht? Zieht doch auch unser Kolumnist von Stadion zu Stadion, stets auf der Suche nach dem Menschlichen im wahren, echten, alle glücklich machenden Fußball.

Der Rezensent bekennt im vollen Umfang seine Begeisterung. Frank Willmann schreibt in seiner Fußballkolumne (in: Der Tagesspiegel) Sätze wie bunte Schüsse, mit denen er den Fußball in die hohe Literatur „schießt“. Wo er bisher kaum war. Was gefehlt hatte bisher. Das ist Frank Willmanns Verdienst. Diese Kolumnen sind so schön wie irre unterhaltsame Filme.„Ein inneres Blumenpflücken“, nennt ein Facebook - Kommentator das Lesen dieser Texte. Eine Stimme aus der breiten Masse. Von den unteren Rängen. Gegönnt sei ihr das letzte Wort hier.

Frank Willmann Kassiber aus der Gummizelle. Geschichten vom Fußball. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2015, 160 Seiten. Englische Broschur. ISBN 978-3-7307-0169-0 € 9,90.

Kunstgeschichte: Trauerweidengepeitsche Kunst. Dieter Hoffmann zum 80.

Trauerweidengepeitschte Kunst

von Axel Reitel
Bild
Über zwei neue Bücher des renommierten F.A.Z.- Kunstkritikers Dieter Hoffmann und aus gegebenem Anlass über Dieter Hoffmann selbst

Es ist wichtig, dass man vieles zusammensieht. 
Dieter Hoffmann zu Hubertus Giebe, S. 76.

Der renommierte Kunstkritiker Dieter Hoffmann wurde 80 


Ein Leben. Und was für ein Leben. Und zum 80ten legen gleich zwei Verlage jeweils einen Übersichtsband vor. Doch wo bleibt das hochverdiente, das große Echo? Wir vergessen zu schnell. Wir sind ja verrückt. Dieter Hoffmann, ein verdienter Mann, fast vergessen? Ich rufe einige Kunstfreunde an, aber so richtig fällt bei denen der Groschen nicht. Ich will Dieter Hoffmann aber nicht vergessen. Sicherlich hat er viele Leute noch immer um sich. Aber eine große Leserschaft, wie er dereinst hatte als Autor der FAZ? Die Zeit ist derart schnelllebig und wir vergessen wie im Rausch. Wir sind ja verrückt. Ich will Dieter Hoffmann aber nicht vergessen.
Ich kannte vor unserer ersten Begegnung von Dieter Hoffmann immerhin ein Gedicht, in: Meine liebsten Gedichte, von Johannes Bobrowski (1985 aus dem Nachlaß herausgegeben). Das Gedicht heißt "Meierei”. Ich schlage Seite 369 auf, ahne wieder etwas und lese: "Quarkgemäuer, / Lehmkuchen, / Meierei in der Lößnitz./ Hahnenschrei glänzt wie Fayence. / Taxushecke dunkelt./ Hochzeitskleid./ Kapelle schwillt./ Vergißmeinnicht, /einst/Blume der Hetären./ Spaziergang volèrenbunt. /Glasbläser trinken./ Nachmittagsgäste / sitzen auf dem breiten / Backblech des Hofes. Erwartend / rosinfarbenen Abend." Es ist so. In nuce enthält dieses Gedicht bereits Hoffmanns Blick auf das, was ihm wichtig ist als Spaziergänger seiner Zeit und auf seine Themen. Johannes Bobrowski entnahm Hoffmanns Gedicht dem 12. Jahrgang des Literaturkalenders "Spektrum des Geistes" .Das war 1964. Dieter Hoffmann ist Anfang Dreißig.
So alt war ich auch, als ich Dieter Hoffmann Anfang der 1990er im Haus von Marlies und Hubertus Giebe erstmals begegnet bin. Ich war frischer Mitbegründer und Redakteur (neben Roland Erb und Utz Rachowski) der brandneuen Dresdner Kulturzeitschrift "Ostragehege" (den Namen setzte Heinz Czechowski durch) und wollte sofort etwas von Dieter Hoffmann bringen (wie das konsenstechnisch so in der Branche heißt).
Über Hubertus Giebe kannte ich ein wenig auch Hoffmanns Biografie sowie einige seiner Kunstessays. Was mir gleich auffiel, war Dieter Hoffmanns General-Thema, das ich, vielleicht etwas salopp, zu verknappend, "Die Stadt Dresden und ihre Bildenden Künstler" nennen möchte. Ein weiterereinnehmender Aspekt für mich wurde sein deutliches Engagement, mit dem er sein Thema ausleuchtet. Es schien ihm einfach nichts Wesentliches zu entgehen.
Ich notiere. Dieter Hoffmann ist Jahrgang 1934, ein gebürtiger Dresdner. Als der Krieg zu Ende geht, ist Dieter Hoffmann elf Jahre, so alt wie Jim Hawkins, der frühjugendliche Erzähler der Schatzinsel und auch Dieter Hoffmann wird reisen, (Kunst-)Schätze heben und unnachahmlich darüber erzählen, wie gesagt, vor allem eben über Dresden und seine bildenden Künstler.
Auch der ein Lebensthema auslösende Schock fehlt nicht. Als der Krieg zu Ende geht, brennt sich Dresdens "Ausbombung" (Eckart Kleßmann), der kunstreichsten Stadt Deutschlands, für immer in ihm ein. Dem "Rückzug aufs Land" (Eckart Kleßmann) bei Dresden folgen weite Erholungsspaziergänge, was in seinem Leben zum Wirkungsprinzip noch werden soll.
Dann die zäh ablaufenden Jahre bis 1949 - Du sollst dich erinnern! - sind geprägt von Schule und autodidaktischen Aktivitäten auf dem Gebiet der Lyrik (!).Durch die Lektüre einer Anthologie expressionistischer Lyrik fühlt er sich bestätigt. Der Titel "Vom Schweigen befreit" wirkt vor allem im Hinblick auf seine Lebensumgebung exemplarisch.
Dieter Hoffmann entscheidet sich zunächst für Vorlesungsbesuche über moderne Dichtung an der Dresdner Volkshochschule. Die Begegnung mit der Malerin Inge Theiß regt ihn jedoch an, einen Berufs-Weg als Maler einzuschlagen, auf dem er bald scheitert, auch den sich anschließenden Berufs-Weg zum Gartenbauarchitekt bricht er ab. Und warum eigentlich nicht? Sein Talent lag anderswo. Aber wo? Er wird ein Flaneur und auf seinen Spaziergängen lernt er wie im Vorübergehen die namhaften Dresdner Künstler kennen, darunter Karl Kröner, Wilhelm Lachnit, Hermann Glöckner – und über sie alle wird er, ihre Werk analysierend, schreiben.
Der Nachkrieg geht vorüber. Das Deutsche Reich wird zweigeteilt, die Bundesrepublik (September 1949) und Deutsche Demokratische Republik (Oktober 1949) entstehen. Die Interessen der West-Alliierten und Stalins erwiesen sich unvereinbar. Dabei zeigt sich Stalins UdSSR - nach außen hin - von ihrer Sahneseite. Russische Briefmarken gehören zu den schönsten im Haus der Philatelie. Auch in der DDR wird früh auf Kunst gesetzt; doch der Staat hält die Zügel fest in der Hand, was zu sagen verboten ist. Der Staatsbürger mit den zwei Gesichtern wird geboren. Dieter Hoffmann weicht oft aus nach West-Berlin und ist schnell hier in der Literaturszene und fühlt sich wohl.
Auch in Dresden ist Dieter Hoffmann schon gefragt und wird gefördert von den Kunsthistorikern Wolfgang Balzer und Fritz Löffler, beide "schanzen" ihm kunstessayistische Aufträge zu. Fast schon nolens volens wird auch Hoffmann der geschätzte und gern gelesene und zitierte Kunstkritiker, verbunden zunächst mit einer bezahlten Anstellung als Redakteur des Dresdner Organs der Ost-CDU, "Die Union". Hier darf er doppelt existieren, auch einige seiner einprägsamen Gedichte werden von der "Union" gedruckt.
Bis 1956 legt Dieter Hoffmann zwei Lyrik-Bände vor, darunter "Mohnwahn", wohl anklingen wollend an Celans schnell berühmt gewordenen Gedicht-Band "Mohn und Gedächtnis", der das Weltgedicht "Die Todesfuge" enthält. Bereits 1957 werden Gerüchte von einer Absperrung Ostberlins laut, worauf Dieter Hoffmann die DDR aus- in diesem Zusammenhang - politisch zu nennenden Gründen verlässt.
Im neuen Heim, in Stuttgart, fasst er rasch Fuß. Er arbeitet wieder als Redakteur, wird ordentliches Mitglied der Akademie der Wissenschaften und Literatur in Mainz, sogar über zwei Wahlperioden deren Vizepräsident.1961 erscheint beim renommierten Verlag „Luchterhand“ ein weiterer Gedichtband. 1963 folgt der Rom-Preis mit Aufenthalt in der Villa Massimo, 1964 die Niederlassung in Frankfurt am Main, wo er als Redakteur für die „Frankfurter Neue Presse” tätig wird. Von 1979 bis 2007 schreibt er unter dem Pseudonym Anton Thormüller für die „Frankfurter Allgemeine Zeitung“ über bildende Kunst. Von Anfang an setzt er sich dabei für die klassische Moderne in Ostdeutschland und ganz speziell in Dresden ein.
Der Rest ist die Erfolgsgeschichte eines über Jahrzehnte sich verdient machenden Flaneurs, wie auch der von den Herausgebern Dieter Hoefer und Gisbert Porstmann im "Verlag der Kunst" 2014 - unter dem Titel "Trauerweidengepeitscht" - vorgelegte Prachtband mit Texten aus sechs Dekaden von Dieter Hoffmann - zur Dresdner bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts - hinreißend unter Beweis stellt.
Ach ja,Hoffmanns “Republikflucht” wird – wie großzügig - von der DDR 1974 amnestiert, worauf Hoffmann Dresden promptin Folge besucht. Er kann wieder anknüpfen und es entsteht eine tiefe, nicht mehr abreißende Verbindung.Das erfreuliche Ergebnis dieser seismographischen Verbundenheitstellen uns die Herausgeber des mehrere Kilo wiegenden Prachtbandes “Trauerweidengepeischt. Spaziergänge durch die Dresdner Kunst des 20.Jahrhunderts” nun vor.

Trauerweidengepeitschte Kunst 

Der Band kann sich wohl sehen lassen. In summa summarum fünfundsiebzig genussvollen Kunstkritiken setzt sich Dieter Hoffmann mit den sich ablösenden “Kunstwenden” (Werner Haftmann), beginnend in den 1950er Jahren, auseinander. Und auch ein roter Faden findet sich erfreulicherweise auf den ersten Seiten, wenn Hoffmann (im August 1955 über den Maler Willy Wolff) schreibt:” Es ist nicht immer das gleiche, was die Verkaufsgenossenschaft Bildender Künstler zu bieten hat – dafür aber sind es immer wieder die gleichen, die aus der Masse der Relativitäten herausragen.” (S. 13).
Er lobt (und fordert damit heraus) die “völlig neu gesehene Landschaft” (über Ernst Hassebrauck), den “eigenen Stil” (über Wolff) und Beispiel sein dafür, “was in Dresden doch noch an Kunst geleistet wird” und die Verwandlung des unerträglichen Schweren in inspirierende Stimulans, “in Duft” (über Wilhelm Lachnit und Karl Kröner. S. 14). Dabei verwandelt, dechiffriert der bildende Künstler schließlich das, von was er sich “bewegen” lässt, Vegetation, Stadt, Geschichte, Selbstbildnis, “Ikarus-Thema” (Dieter Hoffmann) oder “sozialkritisches Engagement” (Hans-Jürgen Buderer, Manfred Fath) in eine eigene sichtbare Wirklichkeit. Dass dieses “produktive Verhalten” (über Karl Kröner, S. 19) stets “in den Kampf um eine erneuerte Kunst” (ebenda) mündet, legt uns dieser Band nun nahe. Dazu gehört als Maxime auch, dass sich ein Künstler am Ende nicht “unterkriegen” lässt (über Hans Jüchser, S. 21). Beachten wir dafür bei Rainer Maria Rilke dessen Forderung:“ Überstehen ist alles!”
Darauf kommt Hoffmann mit einem Seitenhieb auf jenes Kunstvereinsleben in der Bundesrepublik zu sprechen, das sich allzu bereitwillig den offiziellen Maßregelungen des DDR- Behörden unterordnete, in dem “ihr Augenmerk ... den Künstlern des Sozialistischen Realismus galt” (S.25), und damit den “inoffiziellen in der DDR lebenden Künstlern” gleichermaßen die Aufmerksamkeit versagte und “den ihm zukommenden Rang nicht zukommen ließ”. (ebenda)Auch wenn am Ende die unbeachteten Künstler diese Herabwürdigungen großartig überstanden, war es in der für sie staatlich “vorgegebenen Wirklichkeit” (Hans-Jürgen Buderer, Manfred Fath) schwer auszuhalten. Das künstlerische “Ringen um jeden Bildzentimeter” (S.25) schärfte gerade ihnen andererseits “deutlich” den “Blick auf die Ursachen und Folgen”.(S.30)
Doch wo die einen den Konsens wählten - der Partei zu gefallen - und sich gemeinhin auf das Jahr 1945 und der Zerstörung Deutschlands als den Sieg des neuen Menschen nach sowjetischen Muster, den „Sozialistischen Realismus“ eben, einschworen, sahen die anderen “eben nicht nur die Zertrümmerung Dresdens, sondern überhaupt das Ende einer Epoche” (S. 37). Dieser Blick - vom Ende her – verschaffte vor allem jenen, die “nie auf DDR-Line ausgerichtet” (über Max Uhlig, auf den sich der Buchtitel bezieht, S. 111)waren, die innere Freiheit, ein genauer “Betrachter durchaus .... seiner alltäglichen Lebenswelt” (Hans-Jürgen Buderer, Manfred Fath) zu sein. Dieter Hoffmann nennt beispielgebend dafür den bereits oben erwähnten Maler Hubertus Giebe, der zu DDR-Zeiten in Dresden“ wiederum ironisiert diese falsch-florentinische Akademie-Kuppel, die ihm täglich vor Augen führt, wie unerreichbar das wahre Florenz für die DDR-Bürger ... ist”. (S. 41).
Natürlich geht es vor allem um Malerei, auch wenn Kunstwenden noch nie ohne eine aufrechte Haltung des Künstlers auch errungen wurden. Die Schwierigkeit bei der Gestaltung der “chaotischen Überfülle, die nun einmal Gegenwart kennzeichnet” (Werner Haftmann), bringt Hoffmann bei der Dresdner Bildenden Kunst des 20. Jahrhunderts nun auf die erfindungsreiche Formel einer “Kunst als Abwehr”. Also doch nicht nur Malerei? Abgewehrt werden muss, was “die getanen Taten, sprich Bilder” (Dieter Hoffmann zu Hubertus Giebe, S. 76) verhindern will. Was war das - und - wie ging das?
Die beste Abwehr blieb hier auch für die von Hoffmann versammelten Maler den Blick auf die Hauptprobleme zu richten. Diese brachten für die Künstler mit der Lizenz zu öffentlichen Ausstellungen ihrer Arbeiten vor allem die Diskrepanz mit sich, der gewünschten Sichtweise der alleinigen Staatspartei, die auf die Sichtweise des Künstlers nur dann Rücksicht nahm, wenn der sich irgendwie mit ihrem “Weltbild” in Einklang bringen ließ. Dabei sollte die Realität derart gezeigt werden, wie es sich die Partei wünschte. Die Degradierung des Künstlers zum Schönfärber ist bei dieser Vorgehensweise offensichtlich und nicht akzeptierbar. Wer dieses Dilemma zu überstehen gedachte, bemühte sich sodann vor allem redlich um verwandte Geister. Diese fanden sich für die Dresdner bildenden Künstler in der Hauptsache im Expressionismus -hier vor allem die Maler der Brücke - u n din der großen Kunstwende der Neuen Sachlichkeit (empfohlen sei von Hans-Jürgen Buderer und Manfred Fath “Neue Sachlichkeit”, aus dem bereits zitiert wurde), vorzüglich beim bis 1969 in Dresden stilprägenden Otto Dix.
Wie das für die Folgezeit bis zur Auflösung der DDR für diese Künstler funktioniert hat, machen die von Dieter Hoefer und Gisbert Porstmann zusammengestellten und spannend zu lesenden Artikel Dieter Hoffmann plausibel – und es soll auch nur noch so viel verraten werden, dass das, was vor allem die „jungen Wilden der DDR“ wie Angela Hampel, Conny Schleime, Lutz Fleischer und Hubertus Giebein den ideologisch betonierten 1980er Jahren gegen allen Unwillen von oben durchsetzten, die eine „höchst lehrreiche“ Geschichte einer Anti-Muff-Revolte wie eine “windliebende Zaubermühle” (über Veit Hofmann, S. 231), auf dem Level höchster Kunstfertigkeit, ist. Der Raum, in dem wir existieren, wird über-deutlich, dehnt sich, er flieht, er sucht sozusagen das Weite. Die Ideologie wollte - ganz im Gegenteil -mit aller Kraft zurückhalten, wie wohl im Glauben, sie selbst sei das Rad der Geschichte. Doch das Rad der Geschichte ist eine Erfindung, es dreht sich im Kreis, während die Zeit ein Blutstrahl ins Offene ist.
Die vielen Beispiele, die uns hierfür Dieter Hoffmann auf seinen “Spaziergängen” vor Augen führt, sind insgesamt auch nach mehr als fünfzig Jahren seit Erscheinen des ersten Artikels, “so lehrreich wie das Vorzeigen des Schönen.” (über Josef Hegenbart, Ernst Hassebrauk und Albert Wiegand, S. 117). Der Band “Trauerweidengepeischt” sei, wie der Roman, “Der Turm” von Uwe Tellkamp, zur Einstimmung auf Dresden und fürSightseeing-Touren durch Dresden wärmstens empfohlen.
Dazu gleichfalls empfohlen Dieter Hoffmanns, ich will sagen besten seiner Lyrik-Bände, "Gedichte aus der Augustäischen DDR", allesamt poetische Momentaufnahmen und Reflexionen der Neuentdeckung seiner Geburtsstadt und angestammten Heimat, nun einer „HEIMAT-IM- UNTERWEGS“ (Karen Joisten), die ihm trotz der herrschenden Politik des politisch oktroyierten Selbstverhältnisses des Menschen dennoch wieder eine vertraute Heimat wurde. Hoffmanns Geheimnis – wie dies gelang – auf die Spur zu kommen, sind die detektivisch veranlagten Leser herzlich eingeladen.
Sein essayistisches Hoheitsgebiet bleibt das "Dresdner der Bildenden Künste", wobei er sich in den 1980er Jahren vor allen mit dem Werk des Malers und Zeichners Hubertus Giebe vertraut macht, den er überaus schätzt und bald im Regal der liebsten Maler ganz nach oben stellt. Von der Geschichte dieser achtsamen Entdeckung erzählt Hoffmann in seinem 2014 im Sandstein Verlag erschienenen Band “Dieter Hoffmann zu Hubertus Giebe”, für den er Texte der Jahre 1986 bis 2009 zusammenstellte.

Der Mensch erscheint im Phänomen 

Ach dass man wo wenig begreift, solange die Augen nur Abend wissen.
Nelly Sachs

Auch dieser Band, “Dieter Hoffmann zu Hubertus Giebe”, ist Quintessenz, will sagen: vulkanisierte Analyse des “komplexen Phänomens” (Werner Haftmann), das der Künstler ist (als Vertreter e i n e s Menschentyps). Vom Maler und Zeichner Hubertus Giebe nun gibt es, schreibt Hoffmann, “grausame Bilder grausamer Geschehnisse – von Inquisition, Faschismus, Stalinismus. Dix grüßt aus den Katakomben. Der gegen den Moloch anmalende Giebe … distanziert sich im Bildgerüst, denn nicht zufällig hatte er mit Zeichnen begonnen.“ (S. 20)
Und weiter: „Giebe schätzt das Menschliche, wo es nicht das Allzumenschliche ist, sondern- das Humane. Das geht durch das ganze Werk.“ (S.21) Und: „Hubertus Giebe ist auch ein homo politicus, in seiner Generation unter den deutschen Künstlern Ost und West, wenn man noch so sagen kann, sicher der bedeutendste ‚politische‘ Maler“. (S.120)
„Lieber schreibe ich über Einen viel als über Viele etwas“, schreibt Dieter Hoffmann in seinem Vorwort (S.6f). Er hat – nicht als Einziger aus kritischer Hingabe - viel über Hubertus Giebe geschrieben. Allesamt sind es Versuche, die Quintessenz aus Werk, Künstler und schöpferischen Anlass zu zeigen. Quasi „die Bilder als aufgebrochene Schädeldecken“ (S.49), “getane Taten“ (S.67) mündend- Eugène Delacroix‘ zitierend -in einem „Fest für das Auge“ (S.97).
Die Zusammenhänge dabei führt Dieter Hoffmann in glänzenden Überleitungen aus und alles klar: das Auge will sehen, weil es auf die Sprünge helfen will. Es will dahin, wo es hell ist und dass vor allem, damit aus dem Menschen, dem es diese guten Dienste tut, schließlich ein heller Kopf wird, der wirklich sehen – womöglich kausal sehen - kann. Ob er das auch will, geht das Auge nichts an. Die bildende Kunst – das Bildermachen – steht im Dienst am Auge. Und immer wieder stellt Dieter Hofmann Hubertus Giebe als manischen Maler, Zeichner - und Leser und Kunstessayisten übrigens - dar. Das scheint ihm wichtig und er behält offensichtlich recht.
Auch was letztlich alles zu diesem Dienst gehört, beschreibt Dieter Hoffmann im Fall des Laudiertenausführlich. So gehören zu den verzahnt zu sehenden Grundlagen gleichermaßen das Handwerk, vom anatomischen Zeichnen bis zum „Verwirklichungsort“ (Werner Haftmann) des Gemäldes, eine bestimmte Tradition, da „ohne Erbe keine Identität“(Johannes Bobrowski) ist, und nicht zuletzt ein fundiertes kunstgeschichtliches Wissen. Zu wirklicher Größe führt natürlich der eigene Weg [Stil] und den hat der Maler nun einmal zu entdecken.
Das ist soweit klar. Bei Hubertus Giebe drängt Dieter Hoffmann nun auf ein wesentlich dichteres Gewebe: neben Handwerk, Tradition und Stil, kommt des Malers persönliches Ansinnen, mit seiner „Kunst…die Erinnerung wachzuhalten“ (S.80). Gemeint sind hier die weitreichenden Erinnerungen an die „Bloodlands“ (Timothy Snyder) von Hitler und Stalin und ihre Folgen: der Kalte Krieg, die DDR und Osteuropa.
Nichts kommt von ungefähr, so habe der Maler Hubertus Giebe„die Hitler-Greul … nicht am eigenen Leibe erlebt, aber ihre Folgen“ (S.75). Dazu gehört vor allem der frühe Tod des Vaters: er war bis Anfang 1950 in einem sowjetischen Lager inhaftiert. In einem, eines der Hauptwerke Giebes, das er auch „Das Lager“ nennt, treten die traumatisierenden Zeichen der Gegen-Menschen und deren Produktion lichtlosen Licht mit bannender, dechiffrierender Klarheit hervor.
Über das Thema Konsens, „konspirative Disziplin“ (Peter Weiss) als modernes Trauma, dachte auch der Rezensent nach, als er das „grausamen Bild ‚Der Schmaus‘“ (S.30) betrachtete.Andernorts, sogar in der Neuen Nationalgalerie Berlin, dann ebenfalls die „Gekreuzten Männer“, die „wie zwei gekreuzte Klingen, wie zwei Geschosse (die aneinander vorbeigehen, und beide dennoch tief verwunden)“ (S.28).Dieter Hoffmann schreibt in schöner klarer Sprache. Seinen Stil hat er früh gefunden und ausbauen können. Als Kunstkritiker gibt er seine Bildbetrachtungen in inspirierenden, nachvollziehbaren Bildern zurück. Eine angenehme Seltenheit.
Jeder hat ein Geheimnis – Giebe selbst auch. Dieter Hoffmann zu Hubertus Giebe (S.30)
Als „balladesk“ und von ungeheurer Schönheit geprägt bezeichnet Dieter Hoffmann das Aquarellwerk sowie das zeichnerische Werk des entdeckten Malers.Und es ist auch nicht nur ein anderer Ausdruck für das „gefilterte Entsetzen“ in den Bildern [auch] über die „Grausamkeit der modernen Welt“ (S.27). Vieles führt bei Hubertus Giebe über die Literatur: er „liest süchtig, liebt Dichtung, er lässt sich intellektuell und emotional anregen, aber er ist ihr nicht hörig.“ (S.25)
Nadeshda und Ossip Mandelstam, Anna Achmatowa, Joseph Brodsky, Joseph Roth, Arthur Koestler, Peter Weiss, insgesamt eine lange Namensreihe, und immer wieder zu Albert Camus, allesamt Dichter der Freiheit wie der „Hochzeit des Lichts“ (Albert Camus).Der Begriff der Freiheit – nie Angst vor Freiheit (!) – ist verständlicherweise für den Maler Giebe von elementarer Bedeutung.
Und last but not least thematisiert auch Dieter Hoffmann in seinen Texten zu Hubertus Giebe die „Verteidigung der Freiheit“ (Albert Camus), aber nie die Angst vor der Freiheit! Der Freiheiten sind freilich so viele wie ihre Formen: die bürgerliche Freiheit nannte Camus eine „Schaukel“ (Albert Camus, Brot und Freiheit, Ansprache vom 10. Mai 1953 an der Arbeitsbörse von St. Étienne).
Für die DDR, in die der Maler Giebe geboren wurde und hineinwuchs, galt das wenige klare aber geflügelte Wort: „Freiheit, das ist die Einsicht in die Notwendigkeit.“ Von der Analyse des Zusammenhangs und welche Notwendigkeit denn gemeint ist, einmal abgesehen, wurde selbst dieser reduzierende Ausdruck mit der Zeit noch weiter reduziert, bis die Floskel von der „Einsicht in die Notwendigkeit“ übrigblieb.
Und da Kritik in der DDR so gut wie nicht möglich war, es dafür aber eine verminte Grenze mit zu Scharfschützen gemachten Grundwehrsoldaten gab, bei der es vor allem darum ging, die eigene gefangen gehaltene Bevölkerung davon abzuhalten, doch noch ein Schlupfloch in die Freiheit zu finden, ist es wenig verwunderlich, dass es in diesem Land zeitweise die höchste Selbstmordrate weltweit gegeben hat.
Und schließlich, so Dieter Hoffmann, male auch Hubertus Giebe soviel „den Tod, weil er das Leben liebt“ (S.81) Der Künstler hat im Auge die erzählende Welt, die den darin erscheinenden Menschen, als einen „Rebus“ (S.29),den auseinanderschachteln Aufgabe des Künstlers ist.



Dieter Hoffmann. Trauerweidengepeitscht. Spaziergänge durch die Dresdner Kunst des 20. Jahrhunderts. Verlag der Kunst Dresden, 323 Seiten, 2014. ISBN 978-3-86530-203-8. 29 €.
Dieter Hoffmann zu Hubertus Giebe. Sandstein Verlag Dresden, 141Seiten, 2014. ISBN 978-3-95498-153-3 18 €.
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Theaterkritik: Lola und die Philosophie der Gier. Eine fulminante Fassbinder-Lesung mit Harry Baer und Axel Pape


von Axel Reitel
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Harry Baer und Axel Pape: Fotograf: Florian Lein
Bar Jeder Vernunft. 11. Juni 2015. Zwei Stühle. Ein Tisch. Ein Mikrophonständer. Ein fossiles Tonbandgerät, von dem unerwarteter Weise Klang-und Stimmschnipsel aus der deutschen Vergangenheit erklingen. Derart wurde das Publikum auf die szenische Lesung mit Harry Baer und Axel Pape eingestimmt. Gelesen werden sollte aus dem Drehbuch des Fassbinderfilms „Lola“. Als der Film 1981 in die Kinos kam, galt er als Ereignis. Das Tonband rief mit alten Nachrichten jene Vergangenheit auf den Plan. Es mühte sich. Sonst blieb die Bühne leer. Das ging so einige Minuten und der Kritiker dachte mit Benno Besson: Ein Theater ohne größere Ausstrahlung finde ich nicht gesund. Mit dem Auftritt endlich von Harry Baer und Axel Pape, flohen alle Bedenken hinweg. Das Stück gibt die lebhafte ewige alte Mähr von Gleichgültigkeit und Geld. Daraus machte Wedekind schon „Lolas“ Seelenverwandte „Lulu“.
Auch „Lola“, von den Autoren des Drehbuchs - Peter Mertesheimer und Pea Fröhlich - in eine bayerische Kleinstadt verortet, wird vom sündigen Sinnenreigen der Herren der Stadt als Edelnutte gleichermaßen hofiert wie missbraucht.Sowas gab es sogar in echtund zwar in den 1980er in Berlin (West). Da besaß der bekannte Abgeordnete L.eine eigene Suite in einem Puff auf der Kurfürstenstraße. Ein brisantes Stück also - aber zu lange her? Der Skandal um jenen französischen Politiker und dem afrikanischen Zimmermädchen liegt erst wenige Jahre zurück; vor allem aber geht es um den dargebotenen Abend mit zwei ganz hervorragenden Schauspielern, die es nicht nur mit Bravour verstanden, einem den schändenden Figurenreigen um Lola plastisch vor Augen zu führen.
Beide Schauspieler präsentierten den Inhalt darüber hinaus als Gespann im Widerstreit, was in Eigenregie entstand und also nicht zum Drehbuch gehörte. Genau damit aber fügten sie neben der Ebene des Stoffs und der Ebene seiner Vergangenheit die dritte Ebene ein, nämlich der kritischen Gegenwart. Das ist auch eine einnehmende Art Mauern einzureißen, um weiter zu können. Und in dieser Richtung ging es denn auch aufs Feinste weiter.Beide gruppierten unerbittlich dieeinzelnen Szenen in kleinere und größere aber stets greifbare Bilder. Weder kam ein Abservieren der Handlung auf, noch war es das bloße Nachbauen einer handfesten Geschichte.Vielmehr erlebte das Publikum eine einzigartige Wirkung, die auf überzeugende Weise allein von den beiden beteiligten Schauspielern ausging. 
Harry Baer brillierte [zudem] mit spannenden Anekdoten aus seiner Zeit als Akteur in Fassbinders Drehstab. Zu diesem gehörte weiland auch der heutige Weltstar Armin Müller-Stahl, für den es immerhin die erste Rolle nach seiner Übersiedlung in die Bundesrepublik war. Auf die Frage nach dem Geheimnis guter Schauspielerei, sagte Müller-Stahl einmal, es wären die Pausen. Dieser Anforderung nun zeigte sich Axel Pape vollkommen gewachsen. Als kongenialer Part beeindruckte er zudem mit einem wohl eher selten gewordenen Facettenreichtum. Zwar ist auch dasStück „Lola“nach dem Leben geschrieben, keine Frage, da geht es um die ganz reale, keine Leichen scheuende Gier nach dem immer süßen Leben. Dagegen ist die Aufgabe der Sprache eines Stücks wie seiner Schauspieler der „Triumph über die Realität“. Und genau das ist Harry Baer und Axel Pape mit ihrer wunderbaren szenischen Lesung in der „Bar jeder Vernunft“ auf das Vortrefflichste gelungen.

Weitere Termine unter www.lola-lesung.de

10 Fragen an Harry Baer und Axel Pape anlässlich des gemeinsamen Programms einer szenischen Lesung desDrehbuchs des erfolgreichen Fassbinder-Films „Lola“.

1. 
Welche Spuren hat Fassbinder für Sie beide als Anreger und Sinngeber hinterlassen? 
Axel Pape:
Z.B. Katzelmacher, Händler der vier Jahreszeiten, Acht Stunden sind kein Tag und Lola. Ich glaube, dass haben wir als Jugendliche instinktiv verstanden. Damit hat Fassbinder bei uns wahrscheinlich mehr erreicht als bei manchem Filmkritiker - und Jugenderinnerungen bleiben natürlich...

Harry Baer:
Er hat mein Leben total verändert, sonst wär ich heute pensionierter Lehrer in Dingolfing.

2. Könnte man sagen, dass Sie mit Ihrer Lola-Lesungauch eine Chance sehen,beim jungen Publikumgerade ein neues Verständnis für Fassbinder anzukurbeln?
Axel Pape:

Wenn man nach den Publikumsreaktionen geht, ja. Ein junges Mädchen hat gesagt: Sie habe von Fassbinder keine Ahnung und sie fände „so was (Lesungen) eigentlich langweilig, aber das (unser Abend) war voll gut, echt klasse“.
Harry Baer:
Das Verständnis für die immer gleich bleibenden Probleme ist die Chance und Humor natürlich. 

3. 
Gab es für Fassbinder - und auch für Sie - eine womöglich auch nur fiktive – Zielgruppe - etwa eine assoziative Öffentlichkeit?Oder geht von Fassbinder noch eine andere Linie aus, die sich bis heute fortsetzt? 
Axel Pape:
Ich weiß nicht, wie es bei Fassbinder war, aber ich würde als Zielgruppe niemand ausschließen. Unser Premieren-Publikum war ja ein guter Querschnitt und ist sehr gut mitgegangen. Die verbindende Linie ist wahrscheinlich eine gute Geschichte und sich zu bemühen, sie gut zu erzählen.

Harry Baer:
Fassbinder hat Filmgeschichte geschrieben, ohne an Zielgruppen zu denken.

4. Unter anderem offenbart ihr Programm, wie sehr Fassbinder seinen Schauspielern auchdie Freiheit ließ,eigene Ideen umzusetzen, in die Figur einzubringen, unter anderemanhand einiger bezaubernden Anekdoten um den Schauspieler Mario Adorf, der den zu Geld gekommenen Proll Schuckert quasi noch einmal selber erschaffen hat. Ist das eine gewisse Ausgleichsbewegung zwischenRegie und Schauspieler gewesen? 


Harry Baer:

Ja,nicht nur bei Mario Adorf, das war allen die Ausgleichsbewegung.

Axel Pape:

Und Fassbinder hat wahrscheinlich ein gutes Händchen für seine Besetzungen gehabt...

5. 
Könnte man sagen, dass für alle Beteiligten der Filme Fassbinders diese Zeit nicht ohne die Beobachtung aktueller politischer Konflikte verlaufen ist? 
Axel Pape:

Ich glaube, dass die Menschen politische oder gesellschaftliche Konflikte zwangsläufig beobachten, weil sie schwer zu übersehen sind, in jeder Epoche. 

Harry Baer:

Natürlich nicht.

6. 
Der Film „Lola“ kam im Jahr 1981 ins deutsche Kino. Die Jahre 1980/81 selbst waren dominiert vom Afghanistan-Konflikt, von der Teheran-Kontroverse und der aufgrund der geplanten Stationierungder Mittelstreckenraketen erstarkten Friedensbewegung. Der Film aber versetzte das Publikum in das Jahr 1957, in eine bayerische Kleinstadt, in der eine Hand die andere wäscht, wogegen fatalerweise am Ende kein Kraut gewachsen ist. Er führt also an die Wurzeln zurück und rührt kräftig an neu-tradierte Gründungsmythen. Hat Sie beide da am Ende eine gemeinsameGrundeinstellung zusammengeführt? Wie haben Sie sich kennengelernt?
Axel Pape und Harry Baer
Ich denke, da sind wir nicht die einzigen, die sehen, dass bestimmte Strukturen damals wie heute vorkommen. Wenn sie heute Bauskandal im Netz eingeben, finden sie die gleichen Szenarien wie damals bei Lola: Geld, Gier, Korruption und Girls... Also, diese gemeinsame Beobachtung teilen wir wahrscheinlich mit vielen.

7. Lieber Herr Baer, wie ist Ihre Zusammenarbeit mit Fassbinder zustande gekommen? 
Harry Baer:
Ich kam 1969 als Schulbandschlagzeuger zum antiteater und daraus sind vierzehn Jahre Filme machen geworden.

8. Was hatte Fassbinder die Freiheit für die Umsetzung seiner Filme gegeben? Hat er am Ende nie mit der Bundesrepublik als ernst zu nehmendes demokratisches Land gerechnet? In den Figuren und im Milieu war dieses Land ja drin. Oder wie viel Bundesrepublik war tatsächlich in seinem Filmen? 
Harry Baer:
An Wiedervereinigung war zu dem Zeitpunkt nicht zu denken. Wir konnten nur über die Bundesrepublik denken und schreiben.

Axel Pape:
Das war für uns ja das spannende, unser Land durch eine neue Brille zu sehen. 

9. Außerhalb von Fassbinder gab es ja viel Bestätigungs-Kino einer sich nolens volens heilenden Welt. Würden Sie beide - oder jeder für sich -sagen, dass es eine besondere Qualität Fassbinders war, unter ganz eigenen Bedingungen eine eigene – vielmehr die wirkliche Wirklichkeit spiegelnde - Filmsprache hervorgebracht zu haben? 
Harry Baer:

Ja. Die besten Beispiele sind Katzelmacher und die darauf folgenden Filme.

Axel Pape:

Klar. Da wurden Wahrheiten versucht zu treffen, die in anderen Filmen nicht vorkamen.
Aber dabei war es immer auch menschlich und sogar humorvoll.

10. Hat es vorher Vergleichbares gegeben?

Harry Baer:
Nein.

Axel Pape:
Nein.

Ich danke Ihnen für das Interview.

Buchkritik: Das „erstaunliche Wort von der ‚deutschen Chance‘“. Der Mann Otto Klepper



Das „erstaunliche Wort von der ‚deutschen Chance‘“. Der Mann Otto Kleppervon Axel Reitel




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Astrid von Pufendorf
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Wir schreiben das Jahr 1947 und Otto Klepper - ehemaliger Finanzminister der Weimarer Republik und nach der Machtergreifung der Nazis Emigrant -, sprach es als erster in der noch anwesenden Trümmerwelt für das geschlagene Deutschland aus. Die promovierte Autorin Astrid von Pufendorf legt nun ein lesenswertes und faszinierendes Buch über das Scheitern dieses beeindruckenden und weltweit geachteten Wirtschaftsarchitekten vor. Zugleich verschafft das Buch der Leserschaft einen nachvollziehbaren Überblick über die Gründe und Abgründe deutscher Wirtschaftsgeschichte vom Deutschen Reich bis in die Bundesrepublik der 1950er Jahre.
Jahre vor 1933 hatte Klepper seine Stimme gegen Rechtspopulisten und Nazismus erhoben. Im Jahr 1938 wurde er Mitbegründer Exil-Zeitschrift "Die Zukunft", in der er die künftige deutsche Politik nach dem Nazireich schreibt. Zitat: "Wir wollen aber in die künftige deutsche Politik einen Zug tragen, der unser Volk zur europäischen Freiheit führt. Schwache Seelen glauben nicht an das Gelingen, sondern bezeichnen uns als Utopisten." 
Die Nationalsozialisten haben ihn derart gehasst, dass sie ihn mit immer wieder gestellten Auslieferungsanträgen „durch die ganze Welt hetzten“. Am Ende hat die Geschichte ihm und seinen vielen Mitstreitern Recht gegeben.
Nach dem Krieg aber war Otto Klepper zwar weltweit gut angesehen und besaß beste Kontakte nach Frankreich, England und den USA. Doch sollte am Ende ausgerechnet in Deutschland - das ihm viel, sehr viel zu verdanken hat - sein „Schatz von Erfahrungen, Wissen, Urteil und sein Charakter…ungenutzt“ bleiben. Warum war das so? Das interessiert mich.
Es ist eine alte Geschichte, die „unweigerlich“ an den Punkt der Schuld und zu den Möglichkeiten der Wiedergutmachung und der Aussöhnung führt. Zwar blieb Otto Klepper durch die Machtergreifung gar kein anderer Weg als den in die Emigration - doch waren nach 1945 die im Reich Dagebliebenen vor allem und in erster Linie um ihre eigene Zukunft besorgt. 
Bei dieser (spannend beschriebenen) Jagd nach Pöstchen und Posten wurden gerade die Emigranten „im Allgemeinen“ als störend empfunden. Das lag weniger als vermutend etwa an moralisch sauberen Lebensläufen – von denen wollten die wenigsten etwas hören – sondern der nicht identische - der andere – Stallgeruch (der zum Gegenangriff blasen lässt).
Und so spielt es im Grunde gar keine Rolle - wie im Buch zu lesen -, ob Otto Kleppers gute Eigenschaften von den hugenottischen Ahnen herrühren. Sehr wohl aber, dass fast jedes Mal Kollaboration „so ausgezeichnet“ klappt, der Widerstand sich dagegen stets langsamer entwickelt, und nach der Niederlage „die Problematik“ im großen Stil unverarbeitet bleibt. Für den Rezensenten ist es das versteckte Thema des Buches: nämlich der Weg eines Protagonisten trotz großartiger – gesellschaftsrelevanter - Lebensleistungen am Ende in die „Vereinsamung“ und Wissen um die „tragische Vergeblichkeit um sein Tun seit 1947“. Oder wurde Otto Klepper gar, wie Stimmen im Buch es behaupten, im Stalins Namen ermordet? Wundern würde es nicht aufgrund tatsächlicher Mordfälle und Mordversuche, die auf das Konto von KGB und MfS gehen.
Es hätte auf jeden Fall ein glanzvolles Leben sein können, wenn man ihm gegenüber schon einmal zu Hause dankbarer gewesen wäre. Denn allein die Gründung der der WIPOG („Wirtschaftspolitische Gesellschaft von 1947“) war ohne wenn und aber ein Geniestreich, der Westdeutschland obendrein das Schönste beschert hat: das Wirtschaftswunder. Weiterhin hätte es ohne die WIPOG keine FAZ gegeben, deren geistiges Kind sie in ihren Anfängen ist. Nach der ersten Ausgabe der FAZ im September 1949, begann ein schwieriges erstes Jahr, in dem um vieles gerungen wurde und am meisten wohl um die Neubelebung eines einheitlichen Nationalgefühls. Das bedeutete für die Gesellschafter der FAZ: strikt abseits „einseitiger Standpunkte“ und gerade heraus der „Bildung einer neuen Einstellung“ zu dienen, “in der sich das ganze deutsche Volk zusammenfinden könne.“ 
Dass sich das ganze deutsche Volk im Herbst 1990 - vierzig Jahren später – zusammenfand, war vielleicht spät, zu spät war es nicht. Es hat in diesen vier Dekaden immer wieder den Versuch gegeben, mit viel Sein und Schein „wieder wer zu sein“ zu sein. Aber es hat sich auch einiges durch die neuen Sichtweisen und Einsichten der Nachfolggenerationen abbauen können.
Dass das Wirtschaftswunder eine Diskussion über die braune Vergangenheit nicht gefördert hat, liegt heute ebenso auf der Hand, wie sich für die aus demselben braunen Sumpf hervorgegangene DDR jener Vergangenheit durch das einmalige Großreinemachen der Waldheimer Prozesse 21. April bis zum 29. Juni 1950 erledigt hat. Das war freilich nur „nach außen hin“. Noch im Jahr 1954 waren „27 Prozent aller Mitglieder der DDR-Regierungspartei zuvor in der NSDAP und deren Gliederungen“ (DER SPIEGEL 24.9.2012).
Es durfte darüber geschwiegen werden. Für den „gemeinsamen“ Aufbau des Sozialismus als Übergang zu Kommunismus durfte es vor allem „keine Fehlerdiskussionen“ geben. Die Devise hieß „nach vorne diskutieren“. Damit war einem hoch-ideologischen Konsensualismus der Weg geebnet, dem u.a. mit Margit Honecker als Bildungsministerin im SED-Staat eine langjährige BDM – Führerin vorstand, die noch im Frühjahr 1989 auf dem DDR-Pädagogen-Kongress ihr Wort dafür erhob, mit der Waffen in der Hand gegen die vorzugehen, die aus der Reihe tanzen. 
Dass die DDR auf diesem Weg „in die nächste Diktatur rein marschiert ist und zwar mit Karacho“ (Henry Leide), ist eine bittere Geschichte vor allem für die Abertausende Opfer dieses Regimes (zu denen womöglich also auch Otto Klepper gehört). Dass sich dagegen die Bundesrepublik zu einer blühenden Demokratie entwickeln konnte, haben wir auf jeden Fall Über-den-Tellerrand-Denkern wie Otto Klepper zu verdanken. 
Dennoch habe Klepper, heißt es im Buch resümierend, zwar stets in die Zukunft gedacht, manchmal aber (wichtige) Kleinigkeiten übersehen. Gerade das ist das Schicksal tragischer Helden. Und auch er - Otto Klepper - war natürlich vergänglich wie Achilles.

Wir haben ihm zu danken.

Und der Autorin auch.

Astrid von Pufendorf. Mut zur Utopie. Otto Klepper – ein Mensch zwischen den Zeiten. Societäts-Verlag 2015, 373 Seiten, 14,80 Euro. ISBN 978-3-95542-118-2

Buchkritik: Hilfsschule Bixley I-II. Frank-Wolf Matthies famose Übersetzung des späten Ivan Blatný

von Axel Reitel


Als der Schriftsteller Milan Kundera im Jahre 1981 vom Journalisten Jürgen Serke auf dem Slawisten-Kongress in Philadelphia einen Gedichtband von Ivan Blatný (21. Dezember 1919 in Brünn - 5. August 1990 in Colchester) in die Hand gedrückt bekam, begann er zu schwärmen: „Den musst du besuchen. Wenn du wissen willst, wie phantastisch tschechische Lyrik in den vierziger Jahren war, dann wirst du es bei ihm erfahren. Einer der großen. Und Momente dieser Größe findest Du in diesem Band.[1]

Zu dieser Zeit lebte Ivan Blatný bereits seit drei Jahrzehnten zurückgezogen in einerpsychiatrischen Anstalt, dem „Warren House“ im St. Clemen's Hospital, bei Ipswitchtown, in England. Im Jahre 1948 hatte sich Blatný in London von einer tschechoslowakischen Delegation abgesetzt, um den geahnten stalinistischen Säuberungen in der Heimat zu entgehen.

Und Ivan Blatný sollte Recht behalten. Beispiel liefernd in Erinnerungen zu bringen wäre an dieser Stelle der Historiker Záviš Kalandra, dem in Prag ein Schauprozess gemacht wurde, bei dem von vornherein feststand, dass man am Ende den „Angeklagten“ aufhängen würde.

Ein weiteres Vernichtungsmittel gegen ihre vermeintlichen politischen Gegner, war für die an die Macht gelangten kommunistischen Putsch- Spezialisten schließlich deren Entführung aus dem Ausland. Ein Gutteil dieser Entführten wurde im Auftrag von Partei und Geheimdienst nach der „Rückführung“ dann auch tatsächlich umgebracht.

Dass Ivan Blatný auch seine eigene Entführung zu Recht befürchtete, legen die Akten der tschechischen Staatssicherheit nahe. Aber wo konnte er sich jetzt sicher vor dem Zugriff verbergen? Als Ivan Blatný als Zufluchtsort schließlich eine „Klapsmühle“ wählte, ging sein Plan zumindest soweit auf, dass tatsächlich die halbe Welt von einmal glaubte, er sei „verrückt“ geworden. Zu seinem Leidwesen ging aber auch das Anstaltspersonal im „Warren House“ davon aus.


Was Ivan Blatný fortan hinter den Anstaltsmauern schrieb, wurde ihm von den Wärtern im Warren-House Personal weggenommen, um es als das Geschreibsel eines Nicht-Zurechnungsfähigen wegzuschmeißen. Dies änderte sich – welch wundersame Fügung – mit einem Schlag im Jahre 1976.

Zu dieser Zeit war Ms. Frances Meacham als Krankenschwester tätig. Durch einen Angestellten kam ihr die Liste der Insassen des „Waren House“ in die Hände. Dabei machte sie der Name Ivan Blatný aus einem höchst erklärlichen wie schicksalhaften Grund hellhörig.

Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte Frances Meacham eine Liebesbeziehung mit einem tschechischen Piloten, der in der englischen Luftwaffe gegen Nazideutschland kämpfte. 

Diese Beziehung zerbrach zwar nach dem Krieg, doch besuchte Ms. Meacham die CSSR immer wieder. Dieser Ivan Blatný, sagte sie sich, muss ein Tscheche sein. 

Sie besuchte Ivan Blatný im „Warren House“ und bekam von ihm am Ende ihres Besuchs einen Packen Zettel mit der Bemerkung in die Hand gedrückt, die würden sonst doch nur „vom Wärter“ weggeworfen.[2] Sie erkannte sofort, dass sie kein Geschreibsel eines Geisteskranken sondern hohe Dichtkunst las. 

In der Folge sorgte Ms. Meacham mit Erfolg dafür, dass Ivan Blatný ab sofort einen „Tisch in der Ecke einer Anstaltswerkstätte“ bekam, wo er in Ruhe schreiben konnte: die Wärter warfen hinfort nichts mehr weg und Blatný bekam sogar eine Schreibmaschine. Derweil nahm sie, wieder mit Erfolg, Kontakt auf mit dem in Kanada ansässigen tschechischen Exil-Verlag „Sixty-Eight-Publishers“ auf. 

Es war der vom Verlag veröffentlichte Band „Ivan Blatný Pomocná škola Bixley“ (1979), der Milan Kundera auf dem Slawisten-Kongress in Philadelphia schwärmen ließ. Weitere Gedichtbände Ivan Blatnýs folgten 1987 und posthum 2011.

In den Jahren 2013 und 2014 legte der Schriftsteller und Dichter Frank Wolf Matthies „Bixley“ in deutscher Übersetzung komplett in zwei Bänden vor, jedoch „ausschließlich für den privaten Gebrauch und als Geschenk gedacht“, was der Rezensent mehr als bedauerlich findet, denn Milan Kunderas Schwärmen lässt sich bei der Lektüre im Jahr 2015 immer noch nachvollziehen. Mit seinen Übertragungen ist wirklich Frank Wolf Matthies etwas Wunderbares gelungen.

Bereits der Titel „Hilfsschule Bixley“ verweist auf ein zu erwartendes singuläres Ereignis und ist eines schon selbst. Man kann lange auf dem aktuellen „Lyrik-Markt“ nach einem Vergleich suchen: die Gedichte der Bixley-Bände geben sich nicht nur so. Die frühe Lyrik Ivan Blatnýs umfasst insgesamt vier Bände, der letzte erschien gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erschien. Zu „Quellen der Inspiration“(Serke) seiner Inspiration zählte Ivan Blatný die Dichtungen von T.S. Eliot, Carl Sandberg, Dylan Thomas und Walt Whitmann. 
Eines seiner Hauptthemen ist das Glück auf dieser Welt. In einem Gedicht aus dem Jahr 1941 schrieb dazu Blatný: Siehe, wir sind in der Landschaft der neuen Wiederholungen, / und die Stadt auf den Hügeln unter uns tritt aus dem Morgen wie aus einem Bade heraus […][3].Ivan Blatnýs später „Bixley-Dichtung“ gibt sich in ihrer interessierten Kontemplation noch immer diesen Bildern hin. Eine Kostprobe aus Band I. Ivan Blatný nennt das Gedicht schlicht „Anarchie“. Jede der insgesamt sieben Verse dieses Gedichtes spricht der Welt zugewandt. Das lyrische Ich im Gedicht lebt noch immer gern und hat doch einen Kontrahenten, den es in Gegenüberstellungen zu bannen versucht. 

Hier ist die Welt ohne Mief
Hier ist die Welt ohne Chief
Tschechisch heißt Eis mit Schoko Eskimo
Wie immer sitze ich froh
auf der dritten Bank in der Felixtown Road
Immer am Wochenende
Behütet – doch bis Ende?


Mit Berücksichtigung der Biografie Ivan Blatnýs wäre jener „Chief“ einerseits mit dem kommunistischen Herrscher„Stalin“ entschlüsselbar, doch kann jeder ex-beliebige Dogmatiker gemeint sein, wobei die Nennung dieses oder jenes Namens das Gedicht zu Fall bringen würde. Offenkundig verweist dieser Fakt auf die Unvereinbarkeit zwischen der Poesie, die die Freiheit ist, und politische Verordnung, die gezielte Unfreiheit ist. 

Anstatt Klage bevorzugt das Gedicht Bilder der Freude und des Scherzes und manifestiert ein konstruktives Interesse an einem Leben, das keine Feindbilder nötig hat. Die einzige Bedrohung bleibt bestehen im gedimmten Codewort „Chief“, dessen zu ahnende hierarchische Ordnung(und ihrem Heer) aber in der Felixtown Road ausgeschlossen bleibt, was den heiteren Grundton des Gedichts bestimmt.

Dass lyrische Ich, „froh“ darüber, sich auf immer die gleiche Bank niederzulassen, verweist auf Blatnýs Philosophie der Heimat, in der eine Bank gleichfalls Hoheitsgebiet der Unantastbarkeit menschlicher Würde ist. 
Die Unantastbarkeit dieser Würde speist sich aus den einfachen, seit Kinderzeit bewahrten Freuden. Sei es nun wie bei Blatný im darauffolgenden Vers eine tschechische Eis-Sorte oder wie im verwandten Gedicht einer antiken Schönheit mit Namen Sappho ein „Apfel[4]



Einsam rötet und ründet sich
Zuhöchst im Gezweige
Der süßeste Apfel. 
Vergaßen die Pflücker ihn? 
O sie vergaßen ihn nicht;
Zu fern nur 
Reift er den Händen ...

Wer die Verwandtschaft beiden Gedichte erkennt, sei herzlich aufgenommenin den Kreis der wahren, echten Leser. Felixtown Road – Felix, Felice, das Glück. Was ist in meinen Augen Glück? So lautet in beiden Gedichten die Frage. Und seit den frühesten Zeiten ist die Lyrik der Antwort auf diese Frage auf der Spur. Und das weitab von den glücksverheißenden Meta-Erzählungen politischer Utopie. Denn am Ende eines Gedichtes befindet kein Reich sondern es fehlt sogar jede Spur usurpatorischer Bedrängnis.

Ebenfalls kein regierendes Amt hindert im Gedicht der Sappho daran zeitlos über jenen „süßesten“ Apfel nachzusinnen, sowie auf der Felixtown Road die Anwohner von „deskriptiv-pragmatischen Sehweisen“ (Joisten) wie in Diktaturen keine Notiz nehmen. 

Mit dem Denken im anderen nur zu bekannten Leben, zusammengepfercht auf einem Gesellschaftsfloß „der Medusa“ (Géricault) - zu peinigen, wer nicht spurt, bis er erstarrt - können beide nichts anfangen. 

Dennoch versteckt sich Blatný in seinen Gedichten nicht: er ist in nahezu jedem seiner Verse zu sehen. Sein lyrisches spricht heiter im Waren House die Wahrheit aus: „ich habe heute zwei Stifte und jede Menge Papier / Tinte und Federn schäkern vor Tisch“. Das Synonym schäkern steht für flirten. Und auch hier ist es ein Flirten von Clowns eher, die am Ende die vermeintlichen Götter hinter ihren falschen Masken – mit Papiergeschossen natürlich – schließlich hervor zerren. 

Diese Haltung folgt ebenfalls – der Rezensent kommt zum Schluss – der bildende Künstler Lutz Leibner mit seinen gelungenen grafischen Beigaben. Was die Entsprechung von Bild und Text betrifft, sei auf die allgemeingebräuchliche Reduzierung kongenial verzichtet. Lutz Leibners (unbetitelte) Bilder lassen in beiden Bänden die Gedichte Blatnýs förmlich zu Form und Farbe werden, ohne mit seinen Bild-Kompositionen auf bloße Dekoration anzuzielen.

Im Gedicht „Schicksal“ formulierte Blatný ein philosophisches Bonmot, der es zumindest geschafft hat, inzwischen in aller Munde zu sein: „Du hast keine Chance also nutze sie“. Der Gedanken-Ball wird in den Schlussversen des Gedichtes „Anarchie“ aufgefangen. Das lyrische Ich sitzt auf der Bank in der Felixtown Road:


Immer am Wochenende Behütet – doch bis ans Ende?Zwar spielt der „Chief“ im Schlussvers unsichtbar noch einmal seine unheimliche Rolle. Solange Felixtown Road aber existiert – werden Gemeinschaften, die jeden zur selben Sitte zwingen, keine Einkehr finden, wiewohl der Grauton im Schlussvers fragt, ob das bis ans Ende gelingt.

Behütet – doch bis ans Ende?

Die Bilder von Lutz Leibner nutzten die ihnen zur Verfügung stehende räumliche Polarität in beiden Bixley-Bänden für einen von Blatnýs Gedichten inspirierten zwar doch – wie gesagt - eigenständigen feinsinnigen wie lebendigen Dialog mit dem Dingen, was vorzüglich gelingt. Ohnehin die einfach großartigen Übertragen von Frank Wolf Matthies.

PS: Wie der Rezensent erfuhr, befindet sich „Hilfsschule Bixley Band III“ in Progress.

Ivan Blatný, Hilfsschule Bixley & andere Gedichte. Mit Bildern von Lutz Leibner. Ausgabe nur für Privat und zum Verschenken. Nicht paginiert. Nachdichtungen von Frank Wolf Matthies. Alle Rechte beim Nachdichter.
Ivan Blatný, Hilfsschule Bixley II. Gedichte. Mit Bildern von Lutz Leibner. Ausgabe nur für Privat und zum Verschenken. Nicht paginiert. Nachdichtungen von Frank Wolf Matthies. Alle Rechte beim Nachdichter.

Besuchen Sie auch die Internetseite des Nachdichters:
www.frankwolfmatthies.de

Erstveröffentlichung: http://tabularasamagazin.de/artikel/artikel_6264/ 
[1]Jürgen Serke, Die verbannten Dichter, Fischer TB 1982, S.178.
[2] Ebenda, S.175.
[3] Jürgen Serke S. 181. 
[4] Sappho, Der Apfel, übersetzt von Rudolph Bayr, in: Die Klassische Gedichte der Weltliteratur, Verlag Das Bergland Buch, Salzburg/Stuttgart 1966, S.137.

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Offener Brief: An den Geschäftsführer Lars Kleba, Die Linke Sachsen, und Protestschreiben des P.E.N. Zentrums deutschsprachiger Autoren gegen die Willkürmaßnahme des Oberbürgermeisters von Reichenbach (Vogtland), Henry Ruß

Die Linke Sachsen Lars Kleba Cottaer Str. 6c 01159 Dresden Tel.: 0351 85327-0 Fax: 0351 85327-20 kontakt@dielinke-sachsen.de Sehr geehrter H...