Vom 11. April bis 14. April 2012 weile ich als Gast in Budapest. Ich freue mich auf die Gesprächsrunde im Sendehaus von Magyar Rádió. Einige Fragen bekam ich im Voraus geschickt. Die Fragen und die Antworten vorab hier.
Magyar Rádió -
Questions. Axel-Answers:
1. Waren Sie wirklich einer der jüngsten politischen Gefangenen
in der DDR? Aus welchem Grund wurden Sie eigentlich verurteilt?
In der DDR, womöglich
im gesamten Ostblock, bekam jeder Bürger ab dem vollendeten 14. Lebensjahr
einen Personalausweis. Den hatte er gegenüber der Polizei jederzeit
vorzuweisen. Andernfalls drohte eine Geldstrafen oder die Mitnahme auf das
Polizeirevier. Ab dem vollendeten 14. Lebensjahr war jeder Staatsbürger der DDR
aber auch strafmündig. Die üblichen Knäste mit kriminellen Delikten waren also mit Strafgefangenen ab dem 14.
Lebensjahr belegt. Oft genügte für eine Verurteilung ein kleiner Diebstahl in
einer kleinen Kaufhalle. Kleine Fische also, das genügte dem stalinistisch
geprägten Rechtsapparat. Die politischen Fälle, für die das Ministerium für
Staatssicherheit zuständig gewesen ist, wurden im Grunde erst ab dem 17.
Lebensjahr strafrechtlich verfolgt. Der
Fall eines 16jährigen ist mir aber auch bekannt. Dieser 16jährigen wurde vom
MfS in die U-Haft gesteckt. In der Zelle mußte er während der monatelangen
Vernehmung auch seine Hausaufgaben erledigen. Ich wurde in den frühen
Morgenstunden des 17. Juni 1978 verhaftet. Ich war am späten Abend des 16. Juni
1978 mit Freunden zu einer Fete unterwegs gewesen. Der Weg führte uns an der
Kaserne der berüchtigten Grenztruppen vorbei. Plauen, im Vogtland, liegt nahe
an Bayern. Ich hatte eine DDR-Fahne aus einer Halterung genommen und sie aus
Ulk ein bißchen herumgeschwenkt, a la Tambourmajor in Büchners Stück “Woyzeck“.
Ein paar andere haben sich eine rote Fahne geschnappt und diese angezündet. Die
Fahnen waren zum 25. Jubiläum des Plauener Spitzenfestes gehißt worden.
Plauener Spitzen hatten ja auf der Weltausstellung 1900 in Paris eine
Goldmedaille errungen. Das Fest erinnerte daran und war ein jährliches
Highlight. Gleichzeitig war es aber auch der 25. Jahrestag des 17. Juni 1953.
Wenn man sich die aufgeregte Frage vom MfS-General Erich Mielke am Tag der
Revolution 7.Oktober 1989 gegenüber seinen Getreuen ins Gedächtnis bringt -
"Haben wir jetzt den 17. Juni [1953]?“- dann weiß man um die
unterschwellige Hysterie, die den Staatsapparat der DDR Jahrzehnte begleitet
hat. An jedem 17. Juni galt für die Sicherheitskräfte der DDR höchste
Alarmstufe. In unserem Fall lauerte der Polizei-Abschnittsbevollmächtigte des
Wohnbezirkes (so wurden in der DDR die Stadtviertel genannt) in einem nahen
Trauerweidengebüsch und informierte, nach dem wir weitergezogen waren, stracks
die unweit entfernt liegende Kreisdienststelle der Stasi. Nach unserer
Verhaftung hat er dafür zwei Sterne mehr auf die Schulterstücke bekommen. Das
beschert ihm heute eine höhere Rente. Na, wenn das dem ABV kein Dankeschön an
uns wert ist.
2. Unter welchen
Umständen begegneten Sie dem Thema und den Akteuren des Hörspieles?
Zuerst begegnete ich dem
Thema „Freigekauft“ in meiner Biographie. Ich ging mit 19, das Abitur auf
krummen Wegen, das heißt trotz Verbot, mit der Hilfe zweier mutiger Lehrer, in
der Tasche, noch einmal freiwillig in den Stasiknast. Und zwar, um von der Bundesrepublik
freigekauft zu werden. Dem ersten Akteur des Features, Dieter R., begegnete ich
1980 in Plauen. Wenn man so will, ist das die Geburtsstunde dieses Features.
Dieter R. hatte 2 ½ Jahre wegen eines Witzes im politischen Knast in Cottbus
gesessen. Da sein Vater ein hoher Offizier eben jener Grenztruppen (sic!) war,
ließ man Dieter R. absitzen. Als Dieter rauskam, wurde sein Vater in Unehren
entlassen. Dieter R. aber bekam seine Ausreise-Papiere. Ich bin mit Dieter R.
alle Wege mitgegangen. Er hat mir in den verbleibenden drei Wochen alles über
den Freikauf politischer Gefangener aus der DDR-Haft in die Bundesrepublik
Deutschland erzählt. Dass nun eine geraume Zeit bis zum Jahr 2010 vergehen
mußte, bis ich mich dem Stoff
tatsächlich zuwendete, nun, so lesen sich ja manche Schicksale. Was den
Entwicklungsprozeß - Exposé - Recherche - Interviews - Reinschrift - betrifft,
trat auch hier Überraschendes zutage,
was ans Metaphysische grenzt, womöglich sogar in diesen Bereich des
Zusätzlich-Realen gehört. Das Material ist das eine, ein bereitwilliger
Gesprächspartner ist das andere. Wenn man Glück hat, hat man einen Treffer und wird dann in seinem
thematischen Dorf herumgereicht. „Kennen sie auch diese und jenen?“ „Und mit
denen müssen sie unbedingt auch noch sprechen!“ So war es gewesen. Kinder
schweigen gewöhnlich, wenn sie leiden. Aber auch Erwachsene mit einer
Leidensgeschichte öffnen sich am ehesten Gesprächspartnern mit gleichen
Erfahrungen oder zu mindestens mit einer sauberen Biographie. Also keinen
ehemaligen Opportunisten, die jetzt auf Gutmenschen machen. Diese Erfahrung
habe ich bei meinen Recherchen gemacht. Es sind ja alles Stoffe des Horrors,
die ich bisher bearbeitet habe – gerade deshalb versuche ich soviel
Lebendigkeit und Schönheit wie möglich, auch der Sprache, zurückzuerobern. Ich
bin also quasi auf einem Kriegszug, ein Soldat ohne Waffen.
3. Wie weit war das
Verfahren in der (deutschen)
Gesellschaft bekannt, dass politische Gefangene vom Westen "frei
gekauft" werden?
Das Thema gehörte in
der DDR zu den Tabus. Aber wie es mit den Tabus vor allem in geschlossen
Gesellschaften einmal so ist, werden gerade diese innerhalb der Gesellschaft
vehement thematisiert. Natürlich waren die Details nicht bekannt, andernfalls
hätte das vom Rechercheur eine andere Herangehensweise verlangt. Der Westen,
die Bundesrepublik, waren zweifelsohne Gesprächsthema Nummer 1 in der DDR.
Wie verhielt es sich übrigens mit den Reisemöglichkeiten im kommunistischen
Ungarn? Das wäre meine interessierte historische Frage an die geschätzten
Zuhörer von Magyar Rádió. In der DDR waren Westreisen außer für ausgewählte
Kader und Rentner im Großen und Ganzen
tabu. Gerade deswegen war das Thema so ungeheuer wichtig und permanent
da: wegen der Verbrechen, die der Staat vor aller Augen am eigenen Volk beging.
Und da sickerte auch durch, dass politisch eingesperrte DDR-Bürger von der
Bundesrepublik aus den DDR-Knästen rausgekauft werden. Und dass diese
freigekauften Bürger auf geheimen Wegen in die Bundesrepublik gebracht werden.
Eigentlich ist das ein ungeheurer Vorgang. Ein Staat „kassiert“
{umgangssprachlich für verhaftet. AR] Menschen wegen eine Lappalie ein, um mit
dann mit diesen Menschen beim Westen abzukassieren. Über die Einzelheiten des
„Freikaufs“ aber wusste wohl niemand in den unteren Reihen wirklich Bescheid.
Offiziell entschieden wurde ja auch, dass es
keine politischen Gefangenen in der DDR gibt. Aber sagen sie mal einem
Volk, was es gibt und was es nicht zu geben hat. Das Volk produziert
gottseidank auch darüber noch seine eigenen Gedanken.
4. Auch seither
kämpfen Sie für Demokratie, ist es ihr menschlich-journalistischer Grundsatz,
oder ein aus der DDR mitgebrachtes Erbe des
Reporters?
Ich würde knapp sagen,
sowohl als auch. Es geht um die Grundsätze des gründlichen Denkens. Wie ein
Kind auf der Suche nach sich selbst mit Fragen nicht aufhören kann, verbietet
es nachher die „innere Hygiene“ fraglos
in der Sonne zu liegen. Meine früheste
Begegnung mit dem Thema Demokratie, was das ist, und den Folgen, verdanke ich
einem Zufall. Ich war 12, da bekam ich von meinen Eltern an Weihnachten Homer
für Kinder, aufgeschrieben von Alexandru Mitru, geschenkt. Griechenland wurde
das große Thema. Bis zu meiner zweiten Verhaftung mit 19. Plutarch, Euripides
waren meine Helden. Von den minoischen Epochen las ich mit Begeisterung. Sodann
die Vorsokratiker und die griechische Geschichtsschreibung bis zum
perikleischen Staat. Ich lernte: Demokratie ist streitbar. Du mußt dich
einbringen. Du mußt dein Wort erheben im Diskurs auf der Agora. Demokratie ist
Diskurs, gründlicher Diskurs. Es ist eine Gemeinschaft von interessierten
Menschen. Erinnern Sie sich, was der französische Soziologe Emmanuel Todd vor
einigen Jahren auf arte sagte, woran der kommunistische Staatenverbund zugrunde
gegangen ist? Nicht an seinen Verbrechen. Die Menschen hatten an diesem Vehikel
einfach kein Interesse mehr. Ich wage hinzuzufügen: ergo an ihrer eigenen
Unterdrückung. Die oft besungene Freiheit, die jedem Menschen gehört, ist der
Grundsatz. In der Bundesrepublik lautet der erste Satz der Verfassung: Die
Würde des Menschen ist unantastbar. Zur Würde gehört aber auch die Freiheit.
Und sei es, wie Hölderlin sagte, die Freiheit, aufzubrechen wohin. Auch das ist
natürlich fest in meiner Biographie verwurzelt. Ich bin also kein Entwurzelter,
sondern ein fest in meiner Biographien Wurzelnder. Wenn sie so wollen, habe ich
mir das aus der DDR auf meinem Weg mitgenommen. In der DDR wäre das nichts für
mich geworden. Wo gab es in der DDR ein gründliches Journalistikstudium? Es gab
keine in der DDR. Was es gab, war ein den kommunistischen Standpunkt zu
beziehender verordneter sozialistischer Journalismus. Und das soll Journalismus
sein? Das soll etwas mit Wahrheit zu tun haben? Was aber ist die Wahrheit? Auch
das kann man in jeder Arbeit eines jeden guten Journalisten lesen. Es geht um
Fakten und Folgen, dazu gehören wahre Empfindungen. Wir Menschen sind wohl
vernunftbegabte aber eben auch sehr empfindsame Wesen. Wieviel Leid wird bloß
verursacht, weil sich jemand in seiner Empfindung verletzt sieht.
Hochaufgestockt Denkende nennen das verletzte Ehre. Stalin im Jesuitenkloster
und die Folgen. Hitler erfolglos vor der Staffelei und die Folgen. Und dann all
die freiwilligen Helfer, die aus Furcht, empfindsam getroffen zu werden, jedem
Verbrechen dienlich sind. „Wir sind immer viel zu ängstlich“, sagt Meister
Yehudi Menuhin so treffend. Um all diese
Auswirkungen zu fühlen und zu begreifen, muß man natürlich nicht alle diese Leiden
durchlitten haben. Dazu gehört eine gründliche thematische Vorbereitung und
etwas von der Ehre und vom Eid eines Arztes.
5. An welchen Themen
arbeiten Sie gegenwärtig? Haben Sie vielleicht Pläne, die kein politisches
Thema behandeln?
Kommen wir also zur
Eitelkeit. Eine gute Frage, an die sich
die Frage anschließt, was eigentlich nicht politisch ist. Sicherlich
wirken Bücher heute nicht mehr so intensiv in die Politik ein, wie etwa
Heinrich Bölls Novelle „Die verlorene Ehre der Katharina Blum", die in
Westdeutschland große Wirkung hatte. 0der nehmen wir die vielen verbotenen
Bücher im Ostblock, deren Veröffentlichungen, fast ausschließlich im Westen, für
die Autoren in der Heimat oft Fürchterliches
zur Folge hatte. Oder der irrsinnige Akt der nationalsozialistisch bewegten
Studenten am 10. Mai 1933 auf dem Opernplatz in Berlin. Allerdings gab es
Bücherverbrennungen bereits zu Sokrates‘ Zeiten. Heute weisen die 200 Morde an
Journalisten seit Anfang der 1990iger Jahre natürlich auch daraufhin, wie
gefährlich bestimmte Texte für bestimmte Leute sind. Nur, was macht unsere
Bücher denn so gefährlich? Abgesehen von der guten und notwendigen Aufarbeitung
der eigenen jüngeren Geschichte seit 1990, bleiben für mich meine alten Fragen
bestehen: Warum gibt es Leben? Warum streben wir nach Wahrheit? Was fange ich
damit an? Das sind drei Fragen, die sich auch durch meinen Roman ziehen, für den ich die letzten
acht Jahre recherchiert habe. Der Roman umfaßt die Zeit der Ankunft deutscher
Transmigranten in Algerien im Jahr 1846 - das heißt, die die Überfahrt überlebt
haben - bis ins Jahr 2010. Im 1846er
Bordbuch eines Schiffes, das ich als Scan besitze, stehen die Namen aller
Passagiere der Überfahrt nach Oran (Algerien). Es sind Familien. Das jeweilige
Alter der Familienangehörigen steht da. Es steht da der Beruf der Eltern. Und
bei einigen findet sich der traurige Zusatz: mort au mer. Sprung. Der Erzähler
des Romans ist auf einer Familienspur in Vietnam. Der Onkel des Erzählers
bereiste Asien in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg. Weiterhin bedeutete für
den Erzähler das Thema Vietnam einst so etwas wie ein kreativer Urknall. Wie
ich stammt der Erzähler aus der einstigen DDR. Die Menschen in der der DDR
wurden vom ersten Schultag an politisiert. Als der Erzähler im Fernsehen 1972
das von Napalm verbrannte Mädchen Kim Phuc auf der Straße von Trang Bang sah,
schrieb er aus Empörung spontan ein Stück Prosa, in der ein Adler, so auch der Titel, ins Weiße Haus
fliegt und dem Präsidenten gehörig in den Kopf hackt. Dazu kommt seine
Freundschaft zu einem älteren Berliner, der von 1947 bis 1954 als
Fremdenlegionär für die französische Kolonialregierung in Indochina kämpfte.
Dieser Bekannte, Heinz, ist sehr interessant. Bei seinen Recherchen fragt sich
der Erzähler, warum war Heinz überhaupt dort? Heinz hatte eine erträgliche
Anstellung in einem Bergwerk im Kreis Calais. Er ging 1947 als Freiwilliger
dorthin für ein Jahr. Berlin und Deutschland, da war ja um diese Zeit noch
immer alles zerstört. Diese Frage hilft dem Erzähler, soziologisch tiefer in
die deutsche Verhältnisse vor und nach 1945/46 zu schauen. Vor allem kann der Erzähler
den Protagonisten Heinz alle seine Fragen direkt stellen, denn Heinz ist noch
immer am Leben. Und am Leben zu sein, am Leben zu bleiben, auf sein Leben acht
zu geben, bedeutet viel, darum soll es in diesem Roman auch gehen. Das ist eine
Quintessenz, die der Erzähler von seiner Recherchereise aus Vietnam mitbringt,
denn, dies sei vorab gesagt, ungefährlich ist diese Reise nicht. Dennoch, um noch einmal Hölderlin zu
zitieren, „wo aber Gefahr ist, / wächst das Rettende auch.“