Donnerstag, 16. Januar 2014

Buchkritik: Großvater rettet Enkel vor Krake und Menschenjägern - Michael Augustins beachtliche Ostsee-Storys


Die gute Kritik:
Großväter rettet Enkel vor Krake und Menschenjägern
Michael Augustins beachtliche Ostsee-Storys  
oder
Portrait des Künstlers als junger Lachs
33 Prosa-Miniaturen klarsten Wassers
nebst feinsten Collagen
in der Edition – Temmen



Michael Augustin 
Radiomacher (Radio Bremen), 
Zeichner und Dichter
Foto: Jenny Augustin


Wohin fahren wir denn?“ fragte ich.
Dylan Thomas, Besuch beim Großvater


Es geht an die Ostsee - und zwar mit Michael Augustins Buch „Ostsee- Storys“ - und das für einen sensationellen Preis. „Macht unsere Bücher billiger!“ brüllte einst Kurt Tucholsky den deutschen Verlagshäusern zu. Die Edition - Temmen hat's gehört und drückt den Preis des elektronischen Schmökers (e-book) unter dem eines frisch gezapften Bieres. Für 2, 99 Euro erhält der geneigte Leser 33 Prosa-Miniaturen, und schön gekümmelt und gebommerlundert. („Sauft!“ munterte weiland seine Leser auf als weiser Arzt und Autor der Dr. Francois Rabelais, seines Zeichens Erfinder der die Welt beschreitenden Riesen Gargantua und Pantagruel.)

Michael Augustin selbst ist weithin bekannt als Redakteur und Hörfundsachen-Sammler bei Radio Bremen, der Sender, der immer schon einen Jahrhundertschritt voraus war, Stichwort: Beat-Club.Was es mit Michael Augustins shantyesken Geschichten auf sich hat, soll Inhalt nun der leicht schunkelnden Rezension sein. (Strauss II!- Bittscheen den Walzer „Die Publicisten“, Op. 321!“)

Zunächst-woher der Lachs? Bei James Joyce war es noch das 'Portrait des Künstlers als junger Mann', bei Dylan Thomas wandelte sich das Portrait schon zum 'jungen Dachs', und darauf reimt sich hier nicht nur der 'Lachs': die autobiografischen Geschichten sind so voller Wasser, voller Schiffe und voller Geschichten und Fische, dass dem Rezensenten gar nichts anderes übrig bleibt: „Portrait des Dichters als junger Lachs“ scheint ihm gerade richtig. Zudem ist Michael Augustins Liebe zum Werk von Dylan Thomas der Mehrheit seiner Hörer und Leser bekannt. Und (!) es scheint vor allem in diesen kleinen, feinen Geschichten, wie bei Thomas so oft, und eigentlich immer, die Sonne. Gut.

Zutage tritt dem geneigten Leser nun, gleichwohl mit Historien aufgeladen, ein schöner Reigen nordischer Urtypen, die laden dem Leser nichts über, sondern teilen mit ihm ihre weltgewandten Schätze. Da staunt man nicht, da snackt man, von lauter Snackern umgeben.

Das fängt gleich an mit Käpt'n Kölsch. Bach. Kölschbach, jedenfalls Käpt'n, der, zur Anprobe beim maßschneidernden Lübecker Großvater des Autors sein blaubäreskes Seemannsgarn spinnt, in dem Imagination und Wirklichkeit fließend wechselwirken und die Schreiberling-Fantasie des lauschenden Kindes mit einer Fülle enternder Meeresphantasien bevölkert.

Die zweite Story, „Kraken“, zeigt eindrucksvoll, was im Endeffekt an innerer Freiheit herauskommt, wenn zunächst der schreib-begabte Junge in wirklich Menschenjägern gegenübersteht. Auf sicheren Abstand zwar, doch werden diese grauen Schiffe der DDR-Volksmarine deswegen Kraken genannt, weil sie von Jägern befahren werden, die mit Ferngläsern in den Gewässern nach DDR-Flüchtlingen spähen (jene ostdeutschen Boatpeople), um sie herauszufischen (zu entführen!), zu verhaften, in den Knast zu stecken und später für eine Stange Devisen vom Westen freikaufen zu lassen. (Die DDR brauchte ja ständig Geld. Und: „Die Welt ist ein Geschäft!“ wusste schon Arthur Schopenhauer.) Doch als der nunmehr gestandene Autor, Jahre später, unmittelbar nach dem Untergang des Menschenhandelsstaates auf einer Taxifahrt im Osten ausgerechnet in Gestalt seines Taxiwagenfahrers auf einen jener Menschenjäger trifft, drückt er den Zorn im Herzen nieder und lässt den Ex-Jäger widerspruchslos (oder auch doch noch fassungslos) erzählen. Am Ende der Fahrt hechtet der fromm gewordene Menschenfänger zum Kofferraum und pullt, begeistert vom Travemünder Fahrgast, ein Foto-Album mit Schnappschüssen aus seiner Menschenjadgtrophäenzeit hervor. Der Abschied vollzieht sich mit einem menschlich - allzumenschlichen „Ahoi!“ Ça ira...Michael Augustin ist Dichter und kein Richter.

Im Prosa-Ständchen „Sand“ fällt dem Rezensenten sofort das Wort "Muschelkalk" ins Auge: Ringelnatz nämlich hat so seine Asta [Nielsen] auf Ostsee-Postkarten gegrüßt. In den wenigen fein- ziselierten Zeilen der Story aber geht es nun um erste gut begründete Zweifel. Und wer die nie hatte, taugt zum Filosofieren sowieso nie nich' nimmer.

In der einsichtsvollen Miniatur „Auf dem Eis“ können alle Papis lernen, was sie ihrem Kinde, um deren Blick nicht einzutrüben, niemals gar nie erzählen dürfen (13 Zeilen in
zwei Absätzen, ab in jedes Schulbuch!).

Wie ein Knabe seinen englischen Sprachschatz in einem kurzen Moment "verjubelt" und darüber auch noch (verstehe, verstehe) ganz glücklich, ist "Auf dem Leuchtfeld" nachzulesen.

Um Sprachbarrieren geht es natürlich in "Sprachbarrieren". Wir alle lieben Großmütter! Und wir alle lieben "Sandtorte" und wir alle lieben "Marzipantorte". Gar keine Frage.

Um "Scholle, Dorsch und Knurrhahn" und drum, wie eine Möwe eine Angel fängt, geht es in in "Petri Heil! Petri Dank. "

Lebensgefahr" beschwört Lübecks Steilküste herauf und erklärt, warum man da oben nicht so blindlings weit an die "Kante" treten sollte: fiel doch ein blindlings verliebtes Liebespaar einst kopfüber von da oben herunter. Das es dennoch zum Happy End kam und wieso denn nur, sollte gelesen werden.

In „Der Vater von Markus“, flieht der Autor als kleiner junger Junge am Travemünder Strand Hals über Kopf zu seinem Vater, immerhin einem Polizisten, weil ihn sein Kumpel Markus dauernd in den Ohren liegt, sein Vater sei der größte, der gehöre nämlich zu den „Berufskommunisten!“ Die Zeit: "Anfang der sechziger Jahre" und "selbst im Juli" herrschte Kalter Krieg. Anwesend, "ein paar Meter weiter in seinem Strandkorb", der Komponist Karl-Heinz-Stockhausen.

In jenen Jahren hieß Absurdistan noch „Priwall“, vom Autor beschrieben als "das wohl absurdeste Stück deutsch-deutscher Grenze", festgehalten in "Nackedunien". Mecklenburgische Landzunge, aber zu Lübeck zählend, Travemünde gegenüber: Grenz- und Sperranlage der Deutschen Demokratischen Republik, aus den Dünen kommend, quer über den feinen Sandstrand hinein ins kühle Nass der Ostsee, wo die Linie dann durch einige dümpelnde Bojen bis ins tiefere Wasser fortgesetzt wurde.Von den Wachtürmen [DDR-Terminus = BT=Beobachtungsturm] nehmen Grenzsoldaten den Nacktbadestrand West ins Visier, dessen Ausdehnung nach Westen hin ein breites Stacheldrahthandtuch Einhalt gebieten soll. Nur wenige Meter voneinander entfernt also: nackt badende Wessis gegen bis zum obersten Knopf des Klassenstandpunktes zugeknöpfter Grenzkompanie - Ossis. Alles bei guter Sicht und immer bei "heftigster Sonnenbestrahlung".

Sei kein Fisch! "Morgen beißen sie bestimmt!" prophezeit in der Prosa "Lachs" der Großvater dem Enkel, denn in der Tat: ein riesiger Lachs wird gefangen. Den heimsen am Ende zwar andere ein, doch denkt der Autor Jahre später noch gern an das großartige Lachen seines Großvaters zurück und wird darüber selber zum Lachs (sic) und schluckt den süßen Köder der Erinnerung.

So - und woher rührt nun eigentlich der "Salzgehalt der Ostsee"? Wer kennt noch jene verzauberte Kaffeemühle, die, weil der Besitzer (natürlich ein Seeräuber!) den Zauberspruch vergessen hat, das Salz unaufhörlich fließen lässt. Diesen Alzheimer-Effekt kennen wir von Goethes Zauberlehrling, Stichwort „Besen, Besen ...“ und von Hauffs Kalif Storch, Stichwort hier: "Mutabor", Was dieser Mythos mit dem sehr realen, sehr berühmten 20. Juli 1966 zu tun hat, ist nachzulesen in "Salz".

Wer weiß übrigens was ein "Pilker" ist? "Schweißgebadet, klitschnass, als hätte man mich gerade aus dem Meer gezogen", schließt die Geschichte "Wasserleiche".

Und wer hatte es am Strand nicht auch schon mal auf Fundstücke wie "Donnerkeile" abgesehen? Diese Dinger stammen von sogenannten Belemniten, urzeitlichen Tintenfischen, die „vor hundert oder zweihundert Millionen Jahren gelebt haben." Zweihundert hatte der Autor seinerzeit zu Hause in der Schublade, das sind zweihundert gelebte Leben. Die Tragödie dieser Geschichte aber sind "Tausende von Toten". Das waren Passagiere der Schiffe, darunter das KZ-Schiff Kap Arcona, die „draußen in der Bucht... im Mai 1945, als der Krieg noch nicht ganz zu Ende war“, durch mutwillige und
irrtümliche Bombardierungen ums Leben kamen.

Schweigeminute.

In "Flaschenpost" wird (einmal mehr vom Großvater) der Weg eine reiner real empfangenen Flaschenpost von Prag nach Travemünde nachgezeichnet. Wer aber schickte die Flasche einst auf Reisen? Ausgerechnet in den Tagebüchern Franz Kafkas findet der Autor einen aufschlussreichen Hinweis.

Zusammengefasst "Unter Segeln", "Wikinger", "Die Pamir", "Der U-Boot-Pastor". Viermal geht es durchweg um Schiffe, auch um ein Kirchschiff, und immer sind es Untergänge (oder fast!) In einer dieser Geschichten taucht der argentinische Weltpoet Jorge Luis Borges sein Gesicht in die Ostsee, „ in der Nähe von Schleswig, dort, wo die Schlei sich zum Meer hin öffnet“, und deklamiert ein Gedicht über die Wikinger.

Der Dichter Michael Augustin versteht sich auf die überraschenden wiewohl schönen, dichten und packenden Momente (dazu gehören übrigens auch seine fein ziselierten kongenialen Collagen).

Hier könnte schon Schluss sein und es wäre schon ein wunderschönes Büchlein. Doch legt uns der Künstler noch ein Dutzend frischer Lachse oben drauf.

In "I Feel Fine", klar die Beatles, reitet der Autor auf dem berühmten Intro hinauf auf die Bühne der Carnegie Hall und gesellt sich zu den FAB-Four - warum ihn die Beatles aber schließlich nicht mehr mitspielen lassen, muss der geneigte Leser selbst erfahren.

Eine ähnliche Bewandtnis hat es übrigens mit den Kinks in "Dedicated Followers", nur eine Buchseite weiter und nur "eine halbe Stunde“ von einem beachtlichen Weltrekord entfernt.

Dann wird es etwas unappetitlich aber es muss, es muss, es muss sein und es ist gut so, dass er Autor festhielt, was ihm "Frau Voigt" – „1891 in dem kleinen Badeort Misdroy zur Welt gekommen“ - vom „turbulenten und brutale Ende des Zweiten Weltkrieges“ erzählt hat. Sie „überlebte“ wie tausende andere jüngere und ältere Frauen die Vergewaltigungen durch Soldaten der eingerückten Regimenter der Sowjetarmee (nicht Rote Armee, das ist falsch, denn Stalin hat diese Armee während des Vormarsches auf Deutschland ausdrücklich von Rote Armee in Sowjetarmee umbenannt. Er hatte dafür seinen eigenen strategischen Grund. Gehörte der Terminus 'Rote Armee' der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges an, sollte der Titel 'Sowjetarmee' (auf den sowjetischen Schulterstücken 'CA') die neue Weltmacht präsentieren. Doch schließt Augustin die Miniatur mit dem Wort Hoffnung ab. August 1982. Der Autor im Zug mit Alfred Anderschs 'Sansibar oder der Letzte Grund'. Der Autor: "Ein Boot, in das sich Menschen ducken, sich in viel zu großer Zahl unter der Plane verbergen, Menschen, die einen Grund gefunden haben, einen ersten, einen zweiten und einen letzten, ihrem bisher gelebten Leben den Rücken zu kehren und nun voller Hoffnung..."

Die Hoffnung nach dem Krieg hieß ein neues demokratisches Deutschland. Doch wie wurde (wie wird!) diese Hoffnung von den Deutschen gelebt? Dies ist zugleich der Hintergrund der kleinen, feinen Ostsee- Storys von Michael Augustin. Five Points!

Zutage tritt dies auch in den abschließenden zehn Minidramen „Totentanz", "Der Blödmann aus Hamburg", "Meerjungfrauen", "Dackel royal", "Ikke Inger", "Schweden", "Begegnung in Riga", "Buch-Befreiung in Flensburg", "Wie die Ostsee macht" und "Das Meer".

Krieg, Kalter Krieg, die Sanfte Revolution (oder auch „Wende“ genannt) und ihre Folgen sind trotz des omnipräsenten Seewindes immer spürbar. Und mit vielen weiteren welterfahrenen Seelen blickt der Leser immer weiter aufs Meer [der Geschichte]. Auf „Das Meer, das Meer, das voller Wasser ist, und voller Fische.“ Ein Lachs kommt selten allein.

Michael Augustin, Ostsee - Storys, Edition Temmen, e-book, 102 Seiten mit 33 Prosa-Miniaturen und 22 Collagen des Autors, für 2,99 Euro.


Vielen Dank und bleiben Sie dran!

Offener Brief: An den Geschäftsführer Lars Kleba, Die Linke Sachsen, und Protestschreiben des P.E.N. Zentrums deutschsprachiger Autoren gegen die Willkürmaßnahme des Oberbürgermeisters von Reichenbach (Vogtland), Henry Ruß

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