Alfred-Döblin-Stipendiaten
in Lesung und Gespräch, am 12. November 2013, 20 Uhr
Eine leicht gekürzte Fassung wurde von Tabula Rasa Zeitschrift für Gesellschaft und Kultur geschaltet:
http://www.tabularasa-jena.de/artikel/artikel_5121/
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Akademie der Künste am Pariser Platz, Terasse,
Kleiner Saal 4.Etage
Foto rp-online
Da
war ich also gestern. Gewissermaßen als Alumnus. Die Akademie der
Künste lud für den gestrigen Abend aktuelle und ehemalige
Döblin-Stipendiaten in den kleinen Saal im vierten Stock am
Pariser Platz 4. Die Stuhlreihen bieten etwa einhundert Gästen Platz
und sind restlos besetzt. Auf dem Podium stellen Luise Boege, Ricoh
Gerbl, Boris Preckwitz und Ellen Wesemüller ihre 2012 im von Günter
Grass gestifteten Alfred-Döblin-Haus in Wewelsfleth entstandenen
Texte vor. In Luise Boeges französisch betiteltem Text, den weder
sie noch der gut aufgelegte Moderator Jörg Feßmann eindeutig
übersetzen kann, stattet ein „öffentlicher Körper“ in der
Beschreibung eines Kapuze tragenden Streuners, der nichts kafkaeskes
oder browneskes hat, dafür aber viel von einem verzweifelten
Dealer oder Prostituierten, der Erzählerin einen Besuch
ab. Das heißt, eigentlich will er zum abwesenden Mitbewohner
Dimitri, aber der ist nicht da. Den Dimitri, so stellt es Frau Boege
im anschließenden Gespräch dar, hätte sie sich aus Dostojewskijs
"Dämonen" ausgeliehen, weil sie das Buch gerade gelesen
hatte und „auch so was schreiben“ wollte. Merke: Solcher Wille ist des Autors bittre Pille! Dass Frau Boege, jung an Jahren,
geschickt ihren Text zu drehen und zu wenden vermag und ganze Szenen
neu zu ordnen weiß, was sie womöglich bei Lynch beobachtet haben
mag, täuscht nicht darüber hinweg, dass ihr ein eigenes Thema, ein
eigenes nachvollziehbares Interesse an irgend einer nachvollziehbaren
Ungerechtigkeit in dieser Welt, noch fehlt. Obwohl der „Öffentliche
Körper“, etwas kafkaesker, etwas brownesker, diese Rolle mit
Bravour stemmen könnte. Der
Blick des Zuhörers vom Kleinen Saal rüber zur gläsernen goldlichtig
illuminierten Reichstagskuppel wäre in Bezug auf Boeges "Öffentlichen Körper"
vielleicht noch zu erwähnen.
Und dass der Rezensent davon überzeugt, dass Frau Boege diese Hürde
auch wirklich noch überwindet. Sie
liest mit sicherer Stimme und zeigte sich schlagfertig gegenüber
Moderator Feßmann.
Das Döblin-Haus in Wewelsfleth
Foto: Adk/Archiv
Vor der genannten Hürde steht nach Ansicht des Rezensenten
auch noch Ricoh Gerbl, die von der Bildenden Kunst, zu der sie „über
eine Lüge“ gekommen sei, was sie an anderer Stelle einmal äußerte,
zur schönen Literatur spagatierte. Ihre, aus vielen Textpassagen,
Textschnipseln und Alltagsreflexionen und der Darstellung eines Kopfkinos während einer Selbstbefriedigung bestehenden Textproben, aus ihrem Romanprojekt „Miriam
Wolf – Eine Anpassung“, sind zwar ebenfalls gut geschrieben und
mit Verve montiert, doch ob da auch ein Roman dabei heraus kommt,
wurde nicht ersichtlich. Warum nicht? Vielleicht gerade deshalb, weil sich eine
tiefere (gesellschaftliche) Wahrheit in den ausgewählten Szenen einfach nicht ausmachen lässt.
Ohne diese Tiefe aber kann zwar Roman drauf stehen, aber es muss noch
lange kein Roman drin sein. Dies als Anregung für den weiteren
Hürdenlauf, der nun einmal sein muss. Der Rezensent mag Frau Gerbl
im Ziel einlaufen sehen. Nun Boris Preckwitz und Ellen Wesemüller.
Ellen Wesemüller las zuletzt, der Rezensent zieht sie hier im Text vor. Ellen
Wesmüller war ihm die liebste. Ellen Wesemüller ist wohl die
erste, die ihren Döblin – Aufenthalt dazu nutzte, das erlebte
Leben oder die „wirkliche Wirklichkeit“ jener drei Monate in
Wewelsfleth in scharf geschnittener feuilletonistischer Manier
festzuhalten. Der Rezensent findet, dass Ellen Wesemüller dazu ein
wunderbares Talent hat. Die auftretenden und ja in wirklich in W.
lebenden Protagonisten_innen gehen einem ans Herz und der Rezensent
hätte Frau Wesemüller gern noch eine Stunde zugehört und länger.
Das liegt auch daran, weil ersichtlich wurde, dass sich in W. seit
zwanzig Jahren weder an der nordischen selbstbestimmten Höflichkeiten
noch an der nachgiebigen Bockigkeit etwas geändert hat. Und das
gefällt er Ewigkeit - und für die schreiben ja alle. Auch gefallen haben
dem Rezensenten Frau Wesemülles Beobachtungsgabe und ihr Händchen
für Verknappung - wann es mit dem Gesagten eben gut ist. Alles präzise und
unglaublich charmant. Das Buch bitte schnell auf den Tisch! Nun
also Boris Preckwitz, über dessen vorgestellten vier Kapitel aus
einem politischen Langgedicht (erschienen in der Münchner
Lyrikedition
2000, anwesend der Herausgeber Florian Voß), es einiges zu sagen gibt.
Erstens: das politische Gedicht fristete in Deutschland seit der
Wiedervereinigung ein Altersdasein in Antiquariaten. Warum das so
war, mag an den erst jetzt einsetzenden Wirkungen der Teilung liegen.
Die sich über die letzten zwei Dekaden erstreckenden Versuche einer
Rückeroberung des gemeinsamen deutschen Nationalgefühls auf
kultureller Ebene, verurteilten das politische Gedicht zur
Lebensunfähigkeit. Von Walter von Vogelweide bis zum moderneren
Dreigestirn Wecker-Biermann-Wader gehörten das artifizielle
politische Gedicht - und Liedgut fest zu unserer deutschen Kultur.
Als Deutschland 1990 endlich am Ziel seines Traumes eines
einheitlichen Staates angelangt war, verschwand diese Tradition im
Keller. Nun zeigen, ein Vierteljahrhundert nach der Einigung, die
vierzig Jahre Trennung plötzlich ihre Wirkung: der größte Verlust,
den Politiker wie Carlo Schmid am meisten fürchteten, tritt zutage:
der Verlust des gemeinsamen Nationalgefühls – und mehr noch: das
schwindende Interesse für den eigenen Kontinent Europa. Überhaupt
überall Interpolationen, die Boris Preckwitz, in der späten
Nachfolge von Georg Herwegh vielleicht, zum hoch-aktuellen
poetischen Appellplatz schleift. Merke: Bitten politisch verboten!
In
seinem kraftvollen Poem „Der schlimmste Feind“ schreibt Herwegh:
„[...]
Dies
Volk, das im gemeinen Kitzel
Der
Macht das neue Heil erblickt
Und
als 'Erzieher' seine Spitzel
Dem
unterjochten 'Brüdern' schickt.
[...]“
Wer
sind heute die Brüder und Schwestern in der heutigen Europäische Union und was ist
mit ihnen los? Wie greifen die Zeitschriften die Wahrheit auf? Wie
geht es hinter den geschlossen Türen der Industrie- und
Machtzentralen zu? Türen öffnen scheint die Herausforderung für
Wissenschaften und Künste zu bleiben. Boris Preckwitz hat das
gestern Abend eindrucksvoll zelebriert. Und in diesem Punkt ziehen
schließlich auch seine Mitstreiterinnen Luise Boege
und Ricoh Gerbl
mit.
Ellen Wesemüller aber bleibt dem Rezensenten die liebste. Und Jörg
Feßmann ist ein fescher, sich auf angenehme Weise nicht in den
Vordergrund drängender Moderator.
Der Abend - von moderater Kontur.
Berlin, 13. November 2013 Axel Reitel
Vielen Dank und bleiben Sie dran!
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