Samstag, 23. August 2025

Buchbespechung: Ruth Weiss, Die Löws, eine jüdische Familiensaga, Band 5: Schwere Prüfung – Ein literarisches Mahnmal von Wucht und Glanz

 

Ruth Weiss, Die Löws, eine jüdische Familiensaga, Band 5: Schwere Prüfung – Ein literarisches Mahnmal von Wucht und Glanz


Dieser Band ist tief bewegende, historisch präzise, und hochliterarische Meistererzählung. Ruth Weiss beschreibt im fünften Teil ihrer Familiensaga „Die Löws“ in Berlin – die Folgen des berüchtigten Gesetzes zur Wiedereinführung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933. Jüdische Mitmenschen durften fortan nicht mehr beschäftigt werden. Sie wurden systematisch aus dem gesellschaftlichen Leben gedrängt und später millionenfach in Konzentrationslagern  mit industrieller Effizienz ermordet.



Kalt, ohne menschliche Regung, wurden im Protokoll der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 zur „Endlösung der Judenfrage“ die elf Millionen in Europa lebenden Juden erfasst und ihre Ermordung beschlossen – unter dem Begriff „die Zurückdrängung der Juden aus dem Lebensraum des deutschen Volkes“. „Bisher“ wurde weiter im Protokoll vermerkt, seien „rund 537.000 [Juden] zur Auswanderung gebracht“ worden. Nun sei „anstelle der Auswanderung […] die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten“. Diese,  durch das Gesetz von 1933 eingeleitete menschliche Katastrophe – die Katastrophe des Menschen durch den Menschen – steht im Zentrum dieses Romans über Überleben und Widerstand der Familie Löw.

Oder ist es der Widerstand der Musik selbst? Ohne Musik ist Leben bekanntlich ein Irrtum. Und Ruth Weiss stellt ihre äußerste Bedrohung gleich an den an den Anfang ihrer Geschichte. Das Leben der jungen Melanie Löw, eine talentierte Musikerin, wird durch die politischen Umbrüche und zunehmender antisemitischer Gewalt für immer erschüttert.

Mit großer Sensibilität zeichnet Weiss das Porträt der „gemischten Liebe“ zwischen Melanie und Gottlieb Becker – eine Beziehung, die in der Kindheit beginnt und sich gegen alle Widerstände zu einer tiefen Verbindung entwickelt. Die weiteren Ereignisse werden in klarer, poetischer Sprache erzählt, durchzogen von historischen Details.

Eindrucksvoll ist die Darstellung der familiären Dynamiken: Paul und Selma Löw, Melanies Großeltern, reagieren mit stillem Mitgefühl und tiefer Sorge. Besonders die Szene im Nachtlokal „Schwebender Engel“, in dem Melanie spielt, um ihren Traum von Unabhängigkeit zu leben, wird durch einen brutalen SA-Überfall zerstört – ein Moment, der filmreif erscheint.

Die Trennung von Melanie und Gottlieb wird zum Sinnbild jener teuflischen Reality-Soap, die Deutschland zwischen 1933 und 1945 praktizierte. Die Szene am Anhalter Bahnhof, wo Melanie nach Frankreich fliehen will und Gottlieb von SA-Männern abgeführt wird, ist von erschütternder Intensität.

Paul Löws Überlegungen zur religiösen Identität seiner Enkelin, seine körperliche Schwäche angesichts der Gewalt, Melanies verzweifelte Flucht und Gottliebs brutale Misshandlung bleiben emotional präsent und tragisch.

Die Auswirkungen der Nürnberger Gesetze verflechten sich zunehmend mit den persönlichen Schicksalen der Familie Löw. Jede Figur bleibt lebendig, ihre Dialoge glaubwürdig, ihre Handlungen nachvollziehbar.

Die Geschichte von Erna Maurer, die ihre Kinder verliert und sich als Kindermädchen neu orientieren muss, sowie Paul Löws Entwicklung zur moralischen Instanz – etwa, wenn er Goebbels’ Propaganda kommentiert oder die Verstaatlichung des Berliner Philharmonischen Orchesters als kulturelle Kapitulation beschreibt – sind hallen mahnend bis in unsere Zeit.

Die persönliche Tragödie um Adolf Löw, der sich nach der Scheidung das Leben nimmt, ist ein erster erschütternder Höhepunkt. Weiss beschreibt diesen Moment mit größter Zurückhaltung und Würde – ohne Pathos, aber mit tiefem Mitgefühl. Die Szene, in der Adolf sich für seinen letzten Gang zurechtmacht, ist ein stiller Protest gegen die Entwürdigung, die vielen „gemischten Ehen“ widerfuhr.

Die politischen Entwicklungen des Jahres 1938 – von der systematischen Erfassung jüdischer Bürger über Zwangsausweisungen bis zur Reichspogromnacht – werden in kühler Dichte geschildert. Paul Löw wird zur Chronistenfigur, die das Unheil erkennt, benennt und versucht, mit den wenigen Mitteln zu helfen, die ihm bleiben.

Die Familienverflechtungen und die Auswirkungen der Nürnberger Gesetze auf die weit verzweigte Löw-Kohn-Familie sind eindrucksvoll dargestellt. Die Geschichte von Nora Funkel und ihrem Vater Tobias, die in einer Nacht deportiert werden, steht exemplarisch für die Brutalität und Willkür der Maßnahmen.

Die Inhaftierung von Paul Löw und seine Deportation nach der Reichspogromnacht, die nächtlichen Übergriffe sowie die Zerstörung der Löw-Villa unter der Aufsicht eines ehemaligen Gärtners, der nun SA-Gruppenführer ist, verdeutlichen die Pervertierung von Macht und die völlige Entmenschlichung im nationalsozialistischen Deutschland. Diese Szenen sind beklemmend realistisch und zugleich literarisch mit großem Mitgefühl gestaltet.

Die Schilderung des Konzentrationslagers ist nüchtern und ernüchternd. Die Fakten, die Perspektive des gealterten Paul Löw, seine Appelle, die Gewalt, die Kälte und der Hunger sind so eindringlich beschrieben, dass sie einen lange nicht loslassen. Besonders beeindruckend ist Pauls innerer Monolog – seine Gedanken über Organisation, Listen, Enteignung und die rücksichtslose Logik der Täter.

Dabei bleiben auch die familiären Verflechtungen präsent: Pauls Sorge um seine Kinder, seine Gedanken zur Auswanderung, die Hoffnung auf Visa und die Schwierigkeiten der Emigration. Die private Ebene ist vollständig von der politischen Willkür abhängig geworden. Die Szene, in der Paul gegen seinen Willen einen Verkaufsvertrag für sein Haus unterschreiben muss, wird zum Symbol für die vollständige Entrechtung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung.

Die Enteignung Paul Löws, seine erzwungene Unterschrift unter Verkaufsverträge und die perfide Einführung des Zwangsnamens „Israel“ sind Ausdruck einer mit erschreckenden Effizienz betriebenen Entmenschlichung.

Merkwürdig eindrucksvoll wirkt die Szene mit dem SS-Mann Scharnau, der gegenüber Paul Mitgefühl zeigt. Es ist ein Moment der Ambivalenz, der zeigt, dass selbst Täter nicht immer eindimensional sind. Ruth Weiss nutzt diese Begegnung, um die Komplexität menschlicher Beziehungen im Kontext totalitärer Gewalt zu beleuchten – ohne zu relativieren.

In der Außenwelt der Lager bleiben die Emigrationsversuche der Familie Löw geprägt von Hoffnung, Rückschlägen und weiteren tragischen Wendungen. Die Geschichte von Franz, der auf der Flucht erschossen wird und dessen Asche in einer Urne per Paket an seine Familie gelangt, ist von erschütternder Kraft. Die Szene, in der Stefanie die Urne entdeckt, gehört zu den emotional stärksten des Romans – ein Moment, der die ganze politische Barbarei in sich vereint.

Als Lichtblick erscheint der Kindertransport nach England. Die Organisation, die Beteiligung der jüdischen Gemeinde und die Hoffnung, die mit der Rettung der Kinder verbunden ist, zeigen, dass selbst in Zeiten größter Not Solidarität und Menschlichkeit möglich sind. Die Figur der Marjorie Lowe, die sich für die Kinder einsetzt, steht exemplarisch für diese Hoffnung.

Ein Licht inmitten der Dunkelheit, die auch die anderen Handlungsstränge durch Schmerz, Unsicherheit, Flucht, Gewalt, Verrat und Tod durchzieht. Ludwig Löws Rettung durch den Mönch Pater Emmanuel ist ein leiser, aber kraftvoller Kontrapunkt zur allgegenwärtigen Gewalt. Die Szene, in der Ludwig am Amsterdamer Bahnhof Abschied nimmt, ist von stiller Größe und von Hoffnung getragen.

Diese Momente wirken wie tragende Säulen in der zunehmend düsteren Realität des Jahres 1939 – dem Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg beginnt und die systematische Terrorpolitik des NS-Regimes neue Formen annimmt. Das Kapitel über die beginnende „Euthanasie“-Aktion wurde literarisch vielleicht noch nie mit solcher historischen Präzision behandelt.

Die Szene, in der der entlassene Paul Löw das Kinderheim besucht und die kleine Lettie von einer Reise „in den ewigen Schnee“ spricht, bei dem blauen Bonbon geschluckt werden sollen, ist von einer erschütternden Genauigkeit, wie man sie sonst nur bei Kleist findet. Letties ermöglichte Flucht verleiht dem Moment eine beklemmende Intensität.

Auch die Beschreibung der politischen Entwicklungen – der Krieg gegen Polen, die Lügen über den angeblichen Überfall auf den Sender Gleiwitz, die Kriegserklärungen der Alliierten – ist präzise und historisch fundiert.

Wie bei Kleist lohnt es sich, auf die kleinen Gesten zu achten: In parallelen Erzählsträngen – etwa im Warschauer Ghetto – wird Paul und Selmas Freitod nach dem Durchbruch der Wehrmachtsverbände geschildert. Paul will nicht noch einmal in ein Lager. Die Geschichten von Chajim Levi, Tobias Funkel, Nora Kohn und Gideon Levi, die Selbsthilfegruppen, Suppenküchen und improvisierten Krankenstationen zeigen die Menschlichkeit, die auch durch Hilfe von Untergrundgruppen aufrechterhalten wurde.

Die Beschreibung der Untergrundarbeit – die Verteilung von Nachrichten, die Organisation von Verstecken – verdichtet sich mit den Deportationen nach Theresienstadt und Auschwitz auf engstem Raum. Die Deportation von Zara und André nach Theresienstadt und ihr Tod dort sind erschütternd.

Besonders bewegend ist Andrés geistiger Rückzug in eine Welt des Theaters – ein Mann, der in der Realität nicht mehr leben kann und sich in seine Rollen flüchtet. Zara, die ihn bis zuletzt begleitet, wird zur stillen Heldin, die trotz allem versucht, Kindern Hoffnung zu geben – bis auch sie nach Auschwitz deportiert wird.

Parallel dazu erleben wir Melanies Rückkehr nach Berlin und ihre Rettung durch Anton von Kurtzner. Die Beziehung zwischen den beiden ist geprägt von gegenseitigem Respekt, Fürsorge und einem stillen Einverständnis. Anton, ein Mann der inneren Opposition, wird zum Retter – nicht nur für Melanie, sondern auch für den jungen Schauspieler Bobbie. Ruth Weiss zeigt eindrucksvoll, wie selbst in einem System der Unmenschlichkeit einzelne Menschen Menschlichkeit bewahren können.

Die Szene, in der Bobbie sich in einem selbst gegrabenen Versteck unter einer Gartenhütte verbirgt, ist von beklemmender Spannung. Weiss beschreibt die Angst, die Vorsicht, die Improvisation – und die ständige Bedrohung durch Entdeckung. Dass Bobbie überlebt, ist ein seltener Moment der Erleichterung in einem düsteren Kapitel, das die Vernichtung durch das nationalsozialistische Regime beschreibt.

Besonders eindrucksvoll ist auch die Darstellung von Antons innerer Zerrissenheit. Als Diplomat arbeitet er im System, um vielleicht Schlimmeres zu verhindern – und wird dabei selbst zum Mitwisser. Ruth Weiss zeichnet ihn als komplexe Figur, die zwischen Pflicht, Schuld und Menschlichkeit balanciert.

Die Deportation von Manfred Löw nach Auschwitz ist ein weiterer tragischer Höhepunkt. Weiss beschreibt mit großer Zurückhaltung, aber eindringlicher Klarheit, wie der junge Mann in die Hölle der Lager gerät – ohne Glauben, ohne Ziel, nur mit dem Willen zu überleben. Die Darstellung seiner inneren Leere, seiner Entfremdung und der Verrohung im Lager ist erschütternd und authentisch.

Parallel dazu schildert Weiss den Aufstand im Warschauer Ghetto mit großer historischer Genauigkeit. Die Figuren Gideon, Salome und Nora Kohn werden zu Symbolen des jüdischen Widerstands. Ihr Mut, ihre Entschlossenheit und ihre Opferbereitschaft stehen im Kontrast zur systematischen Vernichtungspolitik der Nazis. Der Aufstand, die Flucht durch unterirdische Gänge, die Verbindung zum polnischen Widerstand – all das zeigt, dass selbst im Angesicht des Todes Hoffnung und Kampfgeist möglich sind.

Besonders bewegend ist die Szene, in der Nora Kohn sich entscheidet, nicht zu fliehen, sondern weiterzukämpfen – bis zum Tod. Ruth Weiss verleiht dieser Entscheidung eine stille Größe, die lange nachwirkt. Auch Gideon und Salome, die sich den Partisanen anschließen, werden zu Symbolfiguren des Überlebens und der Hoffnung.

Die Beschreibung des Lagers Westerbork, in das Klara und Hester deportiert werden, ist ein weiteres Beispiel für die präzise und schonungslose Darstellung der Realität. Die Zusammenarbeit deutscher Juden mit der SS, die Organisation der Transporte, die seelische Zerstörung der Insassen – all das wird mit großer Klarheit und Empathie erzählt.

Ruth Weiss gelingt es auch in diesem Abschnitt, das Grauen des Holocaust mit der Hoffnung auf Menschlichkeit und Widerstand zu verknüpfen. Die Flucht von Klara und Lettie aus dem Deportationszug gehört zu den bewegendsten Szenen des Romans. Die Beschreibung der waghalsigen Flucht, Letties Verletzung und die Hilfe durch niederländische Bauern zeigen, dass selbst in den dunkelsten Momenten Menschlichkeit möglich ist.

Die Figur Klara wächst in dieser Passage über sich hinaus. Ihre Fürsorge für Lettie, ihre Entschlossenheit und ihre Fähigkeit zur Improvisation machen sie zur stillen Heldin. Ruth Weiss zeigt eindrucksvoll, wie Verantwortung für andere neue Kraft geben kann – und wie das Überleben oft von kleinen Zufällen und mutigen Entscheidungen abhängt.

Parallel dazu wird das Attentat vom 20. Juli 1944 gegen Hitler thematisiert. Die Figur Anton von Kurtzner, ein stiller Widerstandskämpfer im diplomatischen Dienst, wird zum Symbol für die innere Opposition. Die Szene, in der Melanie von Bruno Held gewarnt wird, ist von beklemmender Spannung. Ruth Weiss zeigt, wie das Netzwerk der Widerständler funktioniert – und wie gefährlich jede Verbindung ist.

Die Beschreibung von Melanie, die sich mit einem gefälschten Ausweis durch das zerstörte Berlin bewegt, ist ein weiteres Beispiel für die literarische Kraft des Romans. Ruth Weiss gelingt es, die Atmosphäre von Angst, Zerstörung und Hoffnung eindringlich zu schildern.

Gegen Ende dieser meisterhaften Erzählung verdichtet Ruth Weiss die zentralen Themen des Romans: Flucht, Widerstand, Verlust, Überleben – und die schwierige Rückkehr in eine Welt nach dem Grauen. Die Geschichte von Melanie, die sich nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler durch das zerstörte Berlin schlägt, ist von beklemmender Spannung und tiefer Menschlichkeit geprägt. Ihre Begegnung mit Bobbie und den anderen Versteckten auf dem Friedhof ist ein Moment der Hoffnung inmitten der Zerstörung.

Die Beschreibung des Lebens im Mausoleum, der improvisierten Gärtnerei und der Hilfe durch den Pfarrer zeigt eindrucksvoll, wie Überleben möglich war – wenn Mut, Solidarität und Zufall zusammentrafen. Ruth Weiss schildert diese Szenen mit großer Authentizität und Empathie.

Parallel dazu wird das Schicksal von Gideon und Salome erzählt, die als jüdische Partisanen im Wald überleben und nach dem Krieg ihren Sohn Abraham wiederfinden. Die Szene der Wiederbegegnung ist bewegend und zeigt, wie tief die Wunden sind, die der Krieg hinterlassen hat – auch in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern.

Besonders eindrucksvoll ist die Darstellung von Hanna Löw, die als Krankenschwester in Bergen-Belsen arbeitet und später im DP-Lager hilft, Überlebende zu versorgen. Die Begegnung mit Katja Walser ist ein stiller Moment der Wiederannäherung – ein Zeichen dafür, dass Familie, trotz allem, wieder möglich sein kann.

Die Reflexionen über die Entnazifizierung, die Frage nach Schuld und Verantwortung, die Suche nach Gottlieb – all das zeigt, wie schwer es ist, nach dem Krieg wieder Sinn zu finden. Ruth Weiss stellt diese Fragen nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit literarischer Tiefe und menschlicher Wärme.

Und so endet dieser Roman mit Schluss voller Hoffnung. Am Ende versammeln sich die Überlebenden in Israel. Sie gedenken ihrer Toten, feiern ihre Rettung, erzählen ihre Geschichten. Asaf Löw spricht das Kaddisch, legt Steine auf die Gräber der Vorfahren. Es ist ein Moment der Heilung, der Erinnerung, der Zukunft.

Ja, der fünfte Band, Schwere Prüfung, ist ein Roman der Gesichter. Jedes trägt eine Geschichte, jede Geschichte ein Echo. Ruth Weiss hat ein Werk geschaffen, das nicht nur erzählt, sondern durch die Kraft ihrer Erzählkunst bewahrt. Die Löws sind fiktiv, aber ihre Erfahrungen sind real. Ihr Überleben ist unser Erinnern und unsere Pflicht.

Ruth Weiss, Die Löws. Eine jüdische Familiensaga in Deutschland. Band 5, Schwere Prüfung, Verlag Edition AV, Taschenbuch,  ‎222 Seiten, 16 Euro. ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3868411713

Quelle: https://www.tabularasamagazin.de/axel-reitel-ruth-weiss-die-loews-eine-juedische-familiensaga-band-5-schwere-pruefung/

Buchbesprechung: Gabrielle Alioth – Die letzte Insel


Gabrielle Alioth – Die letzte Insel

Was für eine Geschichte! Und so ist „Die letzte Insel“ von Gabrielle Alioth auch kein Buch für nebenbei. Was die Autorin vorlegt, ist ein Roman zum Innehalten und lädt zum wiederholten Lesen ein. Zwei Stimmen bilden das Hautpersonal, die von den Nebenpersonen einer untergehenden Welt umgeben sind. Wissenschaft, Erinnerung, Liebe, Schuld sind verwoben in eine Sprache, die nicht laut schreit, dafür lang nachhallt.




Dafür sorgen insgesamt die gut gesetzten Charaktere Holm, ein introvertierter Wissenschaftler, der in Listen, Pflanzen, Arten und zunehmend in Isolation versinkt. Und so bleiben seine Beziehungen zu Nessa und Wilson denn auch unvollständig, voller Brüche und Verschattungen. Sein Blick auf die Welt ist hingegen präzise, doch selten verbindend. Die Ich-Erzählerin lebt zwischen ihrem Geliebten Daniel, dem Ehemann Alexander und dem Garten, der zum Sinnbild für Verwurzelung und Verwandlung wird. Ihre Stimme ist tastend, selbstkritisch, poetisch.

Der Ehemann Alexander ist ein schweigender Intellektueller, der ihr nach seinem Tod in Träumen mit Repliken und Fragen erscheint. Der Geliebte Daniel ist Mediziner, ihr intellektuell näher, zu dem ans Herz gehend mit allem, was er mit dem Verlust des Kindes erlitten hatte, zudem berührt die späte Bindung zum Sohn.

Nessa bleibt rätselhaft, forsch und freiheitsliebend. Sie begegnet Holm auf Red Island und bleibt als Stimme und Spur auch später präsent.

Der alte Ronan ist der mystische Begleiter Holms auf der Mönchsinsel, ein Hüter der Geschichten, Spiegel innerer Gewissheiten und selbst so etwas wie ein Motto.

„Vielleicht ist das Leben nur eine Abfolge von Geschichten, die wir uns erzählen.“ Dieser Satz, der fast beiläufig im letzten Kapitel fällt, könnte das geheime Motto von Gabrielle Alioths Roman Die letzte Insel sein. Denn erzählt wird hier weniger eine Geschichte als ein Gefüge aus Stimmen, Bildern, Brüchen – ein vielschichtiges Mosaik aus Erinnerung, Verlust, Pflanzenkunde und Ethik, dass sich dem linearen Erzählen entzieht und stattdessen spiralförmig in die Geschichte zieht.

Gabrielle Alioth wählt dafür ihr eine doppelsträngige Struktur: Die Perspektive wechselt zwischen Holm, einem Biologen, der versinkende Inseln kartiert, und einer Ich-Erzählerin, deren Leben zwischen Ehemann, Affären, Schuld und dem Garten am Meer oszilliert.

Ihre Stimmen begegnen sich nie direkt – und doch kreisen sie umeinander wie geologische Schichten, in denen Sedimente von Schmerz, Sehnsucht und Verdrängung abgelagert sind. Die Sprache ist präzise und zurückgenommen, zugleich sinnlich und poetisch.

Alioth notiert die Welt wie eine Botanikerin, seziert sie ihre Figuren mit liebevoller Nüchternheit.

Pflanzen, Tiere, Gesteine sind nicht bloße Kulisse, sondern gleichwertige Erzählinstanzen: Aronstab, Wellhornschnecke, Rotkehlchen – sie tragen die von den Menschen oft verschwiegenen Erinnerungen mit sich.

Folgerichtig ist Die letzte Insel weniger ein Roman der Handlung, sondern der inneren Bewegung. Und schließlich verschwindet Holm der Arten sammelt und Dünenpflanzen kartiert, selbst in Nebel und Erinnerung. Er, ein Sinnbild für den westlichen Forschergeist – präzise, aber einsam, analytisch, bleibt blind für Nähe. Die Erzählerin hingegen reflektiert – über verlorene Liebe, über die Schuld des Überlebens, über Begegnungen, die sich in die Landschaft eingeschrieben haben.

Es sind die zentralen Motive der Erinnerung, Reproduktion, Vergänglichkeit und zugleich einhergehenden Frage, was echt (oderechter) ist, das Original oder seine Fälschung? Die geliebte Person oder ihr Klon? Das Erlebnis oder die Erzählung davon?

Der Roman ist durchzogen von ethischen Dilemmata: Gen-Klone toter Kinder, ökologische Katastrophen, die militärische Entsorgung ganzer Inseln. Und doch ist das nie plakativ. Stattdessen arbeitet Alioth mit Mythen: Kalypso, Lilith, Augustinus, Jonas – sie tauchen weniger als Zitate, denn als archaische Schattenfiguren auf, mit durch unsere Zeit, die aktuell gelebte Moderne, beleuchtet wird.

Die letzte Insel endet still, fragmentarisch und offen.

Holm verschwindet in einem Fiebertraum zwischen Quallen und Fossilien.

Die Erzählerin bleibt zurück, streift mit ihrer Hündin Kalypso über den Strand, löscht Daten, bewahrt ein Schneckenhaus. Die Zukunft bleibt brüchig, klonbar, erzählbar – aber nie kontrollierbar.

Gabrielle Alioth hat mit Die letzte Insel einen der klügsten, leisesten und sprachlich schönsten Romane der letzten Jahre geschrieben. Wer Antworten sucht, wird enttäuscht. Wer Spuren lesen will – zwischen Gärten, Träumen, verwaschenen Karten und fragilen Beziehungen – wird belohnt. Dieser Roman ist wie ein Spaziergang im Nebel: langsam, vielsagend, verändernd.

Für Leser: innen von Olga Tokarczuk, Judith Schalansky und Jenny Erpenbeck. Und für alle, die wissen, dass das Gedächtnis der eigentliche Ort der Welt ist.

Gabrielle Alioth, Lenos Verlag, 229 Seiten, 26 Euro,  ISBN-10:‎3039250450.

Quelle: https://www.tabularasamagazin.de/axel-reitel-lesetipp-der-redaktion-lesetipp-der-redaktion-gabrielle-alioth-die-letzte-insel/

Buchbespechung: Ruth Weiss, Die Löws, eine jüdische Familiensaga, Band 5: Schwere Prüfung – Ein literarisches Mahnmal von Wucht und Glanz

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