Dienstag, 10. Oktober 2017

Solidarisiert euch: Türkischer Schriftsteller Ahmet Altan seit einem Jahr in Haft



Ahmet Altan: «Sie können mich einsperren – halten können sie mich nicht»

Seit mehr als einem Jahr sitzt der türkische Schriftsteller und Journalist Ahmet Altan im Gefängnis. In einem bewegenden Manifest erklärt er, warum ihn die Haft nicht brechen kann.

Unbequeme Stimme

as. · Ahmet Altan, 1950 in Ankara geboren, sitzt seit mehr als einem Jahr in der Türkei in Haft. Der Schriftsteller und Journalist hatte in einer Fernsehsendung unmittelbar vor dem Putschversuch am 15. Juli gesagt, die AKP werde ihre Macht verlieren, was ihm postwendend als «Mittäterschaft» am Staatsstreich ausgelegt wurde. Die Äußerung war ein bequemer Vorwand, eine unbequeme Stimme zum Schweigen zu bringen: Altan hatte als Journalist und später als Herausgeber der Zeitung «Taraf» immer wieder kritisch gegen die Machthaber in der Türkei Position bezogen und auch Tabuthemen wie die Diskriminierung der Kurden und den Völkermord an den Armeniern aufgegriffen. Daneben trat er als Verfasser mehrerer Romane hervor. Zusammen mit ihm wurde sein Bruder Mehmet, Professor für Volkswirtschaft und ebenfalls publizistisch tätig, verhaftet und angeklagt; die Brüder werden im selben Gefängnis festgehalten, dürfen einander aber nicht sehen. Das Manuskript des abgedruckten Beitrags konnte Altans Anwalt aus der Haftanstalt schmuggeln.


Ich schreibe diese Worte in der Gefängniszelle“

«Ich schreibe diese Worte in einer Gefängniszelle»: Mit diesen Worten beginnt der türkische Schriftsteller Ahmet Altan sein Manifest, das er über seinen Anwalt aus der Haftanstalt schmuggeln konnte. Altan sitzt seit mehr als einem Jahr in der Türkei in Haft, «in einem Hochsicherheitsgefängnis draußen im Nirgendwo». Der Schriftsteller und Journalist hatte immer wieder kritisch gegen die Machthaber in der Türkei Position bezogen und auch Tabuthemen wie die Diskriminierung der Kurden und den Völkermord an den Armeniern aufgegriffen. «Ich schreibe diese Worte in einer Gefängniszelle», schreibt er nun also, nach seiner Verhaftung. Und er fügt kraftvoll hinzu: «Aber ich bin nicht im Gefängnis. Ich bin Schriftsteller. Ich bin weder dort, wo ich bin, noch dort, wo ich nicht bin. Ihr könnt mich gefangen setzen, aber ihr könnt mich nicht gefangen halten.» Ungekürzt untenstehend sein Manifest, dessen deutsche Übersetzung die NZZ exklusiv publiziert.

Ahmet Altan: «Sie können mich einsperren – halten können sie mich nicht»

Ahmet Altan10.10.2017, 05:30 Uhr


«Ein Objekt in Bewegung ist weder dort, wo es ist, noch dort, wo es nicht ist» – so die Implikation von Zenons berühmtem Paradox. Schon früh kam ich zu dem Schluss, dass dieses Paradox zur Literatur, und erst recht zum Schriftsteller, viel besser passt als zur Physik.

Ich schreibe diese Worte in einer Gefängniszelle.
Fügen Sie den Satz «Ich schreibe diese Worte in einer Gefängniszelle» irgendeiner Erzählung bei, und sie wird dadurch eine vibrierende Innenspannung gewinnen, den Klang einer Stimme, die sich furchteinflössend aus einer dunklen, mysteriösen Welt erhebt; die von der Unbeugsamkeit des Geknechteten spricht und unüberhörbar Mitleid einfordert.
Bevor Sie die Trommeln des Erbarmens zu rühren beginnen, sollten Sie erst einmal hören, was ich Ihnen zu erzählen habe.
Es ist ein gefährlicher Satz; er kann dazu dienlich sein, die Gefühle anderer Menschen auszunutzen. Und Schriftsteller sind nicht immer gegen die Versuchung gefeit, Sprache und die Emotionen, die sie wachruft, in einer Weise zu verwenden, die ihren eigenen Interessen dient. Sogar wenn die Leser das realisieren, mögen sie immer noch geneigt sein, Erbarmen mit dem Schriftsteller zu haben.
Aber halt. Bevor Sie die Trommeln des Erbarmens zu rühren beginnen, sollten Sie erst einmal hören, was ich Ihnen zu erzählen habe.

Ja, ich werde in einem Hochsicherheitsgefängnis draussen im Nirgendwo festgehalten.
Ja, ich lebe in einer Zelle, deren Tür sich mit dem schweren Klang von Eisen öffnet und schliesst.
Ja, das Essen wird mir durch einen Schlitz in der Türe gereicht.
Ja, auch der kleine, steingeflieste Hof, wo ich auf und ab gehe, ist mit stählernen Gittern gedeckt.
Ja, ich darf niemanden sehen ausser meinem Anwalt und meinen Kindern; ich darf nicht einmal zwei Zeilen an meine Lieben schicken.
Ja, wenn ich ins Spital muss, ziehen sie ein Paar Handschellen aus einem ganzen Bündel eiserner Gerätschaften und legen sie mir an.
Ja, wann immer sie mich aus der Zelle holen, schlagen mir Befehle wie «Arme hoch, Schuhe ausziehen» ins Gesicht.
All das ist wahr, aber es ist nicht die ganze Wahrheit.
Bis heute bin ich nicht ein Mal im Gefängnis erwacht – nie.
An Sommermorgen, wenn die ersten Sonnenstrahlen durchs nackte, vergitterte Fenster dringen und sich wie leuchtende Speere in mein Kissen bohren, lausche ich dem munteren Gesang der Zugvögel, die draussen auf der Traufe genächtigt haben, und dem seltsamen, trockenen Geräusch, das entsteht, wenn die Häftlinge beim Hofgang auf eine Plasticflasche treten.
Dann glaube ich, im Gartenpavillon meines Elternhauses zu sein, oder – ich kann selbst nicht sagen, warum – in einem kleinen Hotel an einer jener belebten Pariser Strassen, die man aus «Irma la Douce» kennt.
Wenn ich aufwache und wütender Nordwind den Herbstregen gegen mein Fenster peitscht, dann beginne ich meinen Tag in einem Hotel am Ufer der Donau, vor dessen Tor jede Nacht Fackeln entzündet werden. Wenn mich das Geflüster des Schnees weckt, der sich auf dem Sims häuft, dann finde ich mich hinter dem Fenster der Datscha, in der Doktor Schiwago Zuflucht fand.
Bis heute bin ich nicht ein Mal im Gefängnis erwacht – nie.
Und das ist noch nichts im Vergleich zu meinen nächtlichen Abenteuern. Ich streife über thailändische Inseln, durch Londoner Hotels, die Strassen Amsterdams, die geheimen Labyrinthe von Paris, die Istanbuler Restaurants am Bosporusufer, die kleinen Parks, die sich zwischen den Strassen von New York verbergen, durch die schneeverwehten Strassen einer Kleinstadt in Alaska.
Ich habe Freunde auf der ganzen Welt, die mir beim Reisen helfen, auch wenn ich die meisten von ihnen nie gesehen habe.
Sie können mir am Ufer des Amazonas begegnen, an einem mexikanischen Strand, in den Savannen Afrikas. Tagein, tagaus rede ich mit Menschen, die keiner sieht oder hört, Menschen, die nicht existieren, deren Existenz erst an dem Tag beginnen wird, da ich über sie schreibe. Ich lausche, während sie sich miteinander unterhalten. Ich lebe ihre Liebe, ihre Abenteuer, ihre Hoffnungen, Kümmernisse und Freuden. Manchmal lache ich leise während des Hofgangs, weil ihre Gespräche ziemlich unterhaltsam sein können. Und weil ich sie hier im Gefängnis nicht auf Papier bannen will, schreibe ich mir all das mit der dunklen Tinte des Gedächtnisses direkt ins Hirn.
Ich weiß, dass ich ein Schizophrener bin, solange alle diese Leute in meinem Kopf wohnen bleiben. Ich weiß aber auch, dass ich ein Schriftsteller bin und dass diese Leute sich eines Tages in den Sätzen auf den Seiten eines Buches wiederfinden werden. Ich vergnüge mich damit, wie auf einer Schaukel zwischen Schizophrenie und Autorschaft hin und her zu schwingen. Ich erhebe mich in die Luft wie Rauch und verlasse das Gefängnis an der Seite der Menschen, die in meinen Gedanken leben. Sie – die anderen – mögen die Macht haben, mich ins Gefängnis zu sperren; im Gefängnis halten können sie mich nicht.
Hinter der stählernen Wehr meiner Bücher bin ich unverletzlich.
Ich bin Schriftsteller.
Ich bin weder dort, wo ich bin, noch dort, wo ich nicht bin.
Wo auch immer ihr mich einsperrt, werde ich die Welt auf den Flügeln meiner Gedanken bereisen.
Und obendrein habe ich Freunde auf der ganzen Welt, die mir beim Reisen helfen, auch wenn ich die meisten von ihnen nie gesehen habe.
Jedes Auge, das liest, was ich schreibe, jede Stimme, die meinen Namen nennt, nimmt mich bei der Hand wie eine kleine Wolke und lässt mich über die Ebenen fliegen, die Quellen, die Wälder, die Meere, die Städte und Strassen. Ohne grosse Worte gewähren sie mir Gastrecht in ihren Häusern, ihren Hallen, ihren Zimmern.
In einer Gefängniszelle bereise ich die ganze Welt.

Sie haben es wohl erraten: Ich besitze eine göttliche Arroganz – eine, die selten eingestanden wird, die aber den Schriftstellern ureigen ist und von einer Generation zur nächsten weitergereicht wird. Ich besitze ein Selbstvertrauen, das wie eine Perle in der harten Schale der Literatur wächst. Hinter der stählernen Wehr meiner Bücher bin ich unverletzlich.
Ich schreibe dies in einer Gefängniszelle.
Aber ich bin nicht im Gefängnis.
Ich bin Schriftsteller.
Ich bin weder dort, wo ich bin, noch dort, wo ich nicht bin.
Ihr könnt mich gefangen setzen, aber ihr könnt mich nicht gefangen halten.
Weil ich die Zaubermacht habe, die allen Schriftstellern eigen ist. Ich kann mühelos durch Wände gehen.
Der Text Ahmet Altans erschien in einer von Yasemin Çongar besorgten englischen Übersetzung auf der Website der Society of Authors. Aus dem Englischen von as.

Wer seine Worte liest, schenkt ihm ein Stück Freiheit: Der Schriftsteller und Journalist Ahmet Altan. (Bild: Guillem Lopez / Photoshot / Alamy)

Wer seine Worte liest, schenkt ihm ein Stück Freiheit: Der Schriftsteller und Journalist Ahmet Altan. (Bild: Guillem Lopez / Photoshot / Alamy)


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