Die
gute Kritik:
Großväter rettet Enkel vor Krake und Menschenjägern
Michael Augustins beachtliche Ostsee-Storys
oder
Portrait
des Künstlers als junger Lachs
33
Prosa-Miniaturen klarsten Wassers
nebst feinsten Collagen
in
der Edition – Temmen
Michael Augustin
Radiomacher (Radio Bremen),
Zeichner und Dichter
Foto: Jenny Augustin
„Wohin
fahren wir denn?“ fragte ich.
Dylan
Thomas, Besuch beim Großvater
Es
geht an die Ostsee - und zwar mit Michael Augustins Buch „Ostsee-
Storys“ - und das für einen sensationellen Preis. „Macht unsere
Bücher billiger!“ brüllte einst Kurt Tucholsky den deutschen
Verlagshäusern zu. Die Edition - Temmen hat's gehört und drückt
den Preis des elektronischen Schmökers (e-book) unter dem eines
frisch gezapften Bieres. Für 2, 99 Euro erhält der geneigte Leser
33 Prosa-Miniaturen, und schön gekümmelt und gebommerlundert.
(„Sauft!“ munterte weiland seine Leser auf als weiser Arzt und
Autor der Dr. Francois Rabelais, seines Zeichens Erfinder der die
Welt beschreitenden Riesen Gargantua
und Pantagruel.)
Michael
Augustin selbst ist weithin bekannt als Redakteur und
Hörfundsachen-Sammler bei Radio Bremen, der Sender, der immer schon
einen Jahrhundertschritt voraus war, Stichwort: Beat-Club.Was
es mit Michael Augustins shantyesken Geschichten auf sich hat, soll
Inhalt nun der leicht schunkelnden Rezension sein. (Strauss II!-
Bittscheen den Walzer „Die Publicisten“, Op. 321!“)
Zunächst-woher
der Lachs? Bei James Joyce war es noch das 'Portrait des Künstlers
als junger Mann', bei Dylan Thomas wandelte sich das Portrait schon
zum 'jungen Dachs', und darauf reimt sich hier nicht nur der 'Lachs':
die autobiografischen Geschichten sind so voller Wasser, voller
Schiffe und voller Geschichten und Fische, dass dem Rezensenten gar
nichts anderes übrig bleibt: „Portrait des Dichters als junger
Lachs“ scheint ihm gerade richtig. Zudem ist Michael Augustins
Liebe zum Werk von Dylan Thomas der Mehrheit seiner Hörer und Leser
bekannt. Und (!) es scheint vor allem in diesen kleinen, feinen
Geschichten, wie bei Thomas so oft, und eigentlich immer, die Sonne.
Gut.
Zutage
tritt dem geneigten Leser nun, gleichwohl mit Historien aufgeladen,
ein schöner Reigen nordischer Urtypen, die laden dem Leser nichts
über, sondern teilen mit ihm ihre weltgewandten Schätze. Da staunt
man nicht, da snackt man, von lauter Snackern umgeben.
Das
fängt gleich an mit Käpt'n Kölsch. Bach. Kölschbach, jedenfalls
Käpt'n, der, zur Anprobe beim maßschneidernden Lübecker Großvater
des Autors sein blaubäreskes Seemannsgarn spinnt, in dem Imagination
und Wirklichkeit fließend wechselwirken und die
Schreiberling-Fantasie des lauschenden Kindes mit einer Fülle
enternder Meeresphantasien bevölkert.
Die
zweite Story, „Kraken“, zeigt eindrucksvoll, was im Endeffekt an
innerer Freiheit herauskommt, wenn zunächst der schreib-begabte
Junge in wirklich Menschenjägern gegenübersteht. Auf sicheren
Abstand zwar, doch werden diese grauen Schiffe der DDR-Volksmarine
deswegen Kraken genannt, weil sie von Jägern befahren werden, die
mit Ferngläsern in den Gewässern nach DDR-Flüchtlingen spähen
(jene ostdeutschen Boatpeople), um sie herauszufischen (zu
entführen!), zu verhaften, in den Knast zu stecken und später für
eine Stange Devisen vom Westen freikaufen zu lassen. (Die DDR
brauchte ja ständig Geld. Und: „Die Welt ist ein Geschäft!“
wusste schon Arthur Schopenhauer.) Doch als der nunmehr gestandene
Autor, Jahre später, unmittelbar nach dem Untergang des
Menschenhandelsstaates auf einer Taxifahrt im Osten ausgerechnet in
Gestalt seines Taxiwagenfahrers auf einen jener Menschenjäger
trifft, drückt er den Zorn im Herzen nieder und lässt den Ex-Jäger
widerspruchslos (oder auch doch noch fassungslos) erzählen. Am Ende
der Fahrt hechtet der fromm gewordene Menschenfänger zum Kofferraum
und pullt, begeistert vom Travemünder Fahrgast, ein Foto-Album mit
Schnappschüssen aus seiner Menschenjadgtrophäenzeit hervor. Der
Abschied vollzieht sich mit einem menschlich - allzumenschlichen
„Ahoi!“
Ça
ira...Michael Augustin ist Dichter und kein Richter.
Im
Prosa-Ständchen „Sand“ fällt dem Rezensenten sofort das Wort
"Muschelkalk" ins Auge: Ringelnatz nämlich hat so seine
Asta [Nielsen] auf Ostsee-Postkarten gegrüßt. In den wenigen fein-
ziselierten Zeilen der Story aber geht es nun um erste gut begründete
Zweifel. Und wer die nie hatte, taugt zum Filosofieren sowieso nie
nich' nimmer.
In
der einsichtsvollen Miniatur „Auf dem Eis“ können alle Papis
lernen, was sie ihrem Kinde, um deren Blick nicht einzutrüben,
niemals gar nie erzählen dürfen (13 Zeilen in
zwei
Absätzen, ab in jedes Schulbuch!).
Wie
ein Knabe seinen englischen Sprachschatz in einem kurzen Moment
"verjubelt" und darüber auch noch (verstehe, verstehe)
ganz glücklich, ist "Auf dem Leuchtfeld" nachzulesen.
Um
Sprachbarrieren
geht es natürlich in "Sprachbarrieren". Wir alle lieben
Großmütter! Und wir alle lieben "Sandtorte" und wir alle
lieben "Marzipantorte". Gar keine Frage.
Um
"Scholle, Dorsch und Knurrhahn" und drum, wie eine Möwe
eine Angel fängt, geht es in in "Petri Heil! Petri Dank. "
„Lebensgefahr"
beschwört Lübecks Steilküste herauf und erklärt, warum man da
oben nicht so blindlings weit an die "Kante" treten sollte:
fiel doch ein blindlings verliebtes Liebespaar einst kopfüber von da
oben herunter. Das es dennoch zum Happy End kam und wieso denn nur,
sollte gelesen werden.
In
„Der Vater von Markus“, flieht der Autor als kleiner junger
Junge am Travemünder Strand Hals über Kopf zu seinem Vater,
immerhin einem Polizisten, weil ihn sein Kumpel Markus dauernd in den
Ohren liegt, sein Vater sei der größte, der gehöre nämlich zu den
„Berufskommunisten!“ Die Zeit: "Anfang der sechziger Jahre"
und "selbst im Juli" herrschte Kalter Krieg. Anwesend, "ein
paar Meter weiter in seinem Strandkorb", der Komponist
Karl-Heinz-Stockhausen.
In
jenen Jahren hieß Absurdistan noch „Priwall“, vom Autor
beschrieben als "das wohl absurdeste Stück deutsch-deutscher
Grenze", festgehalten in "Nackedunien".
Mecklenburgische Landzunge, aber zu Lübeck zählend, Travemünde
gegenüber: Grenz- und Sperranlage der Deutschen Demokratischen
Republik, aus den Dünen kommend, quer über den feinen Sandstrand
hinein ins kühle Nass der Ostsee, wo die Linie dann durch einige
dümpelnde Bojen bis ins tiefere Wasser fortgesetzt wurde.Von den
Wachtürmen [DDR-Terminus = BT=Beobachtungsturm] nehmen Grenzsoldaten
den Nacktbadestrand West ins Visier, dessen Ausdehnung nach Westen
hin ein breites Stacheldrahthandtuch Einhalt gebieten soll. Nur
wenige Meter voneinander entfernt also: nackt badende Wessis gegen
bis zum obersten Knopf des Klassenstandpunktes zugeknöpfter
Grenzkompanie - Ossis. Alles bei guter Sicht und immer bei
"heftigster Sonnenbestrahlung".
Sei
kein Fisch! "Morgen beißen sie bestimmt!" prophezeit in
der Prosa "Lachs" der Großvater dem Enkel, denn in der
Tat: ein riesiger Lachs wird gefangen. Den heimsen am Ende zwar
andere ein, doch denkt der Autor Jahre später noch gern an das
großartige Lachen seines Großvaters zurück und wird darüber
selber zum Lachs (sic) und schluckt den süßen Köder der
Erinnerung.
So
- und woher rührt nun eigentlich der "Salzgehalt der Ostsee"?
Wer kennt noch jene verzauberte Kaffeemühle, die, weil der Besitzer
(natürlich ein Seeräuber!) den Zauberspruch vergessen hat, das Salz
unaufhörlich fließen lässt. Diesen Alzheimer-Effekt kennen wir von
Goethes Zauberlehrling, Stichwort „Besen, Besen ...“ und von
Hauffs Kalif Storch, Stichwort hier: "Mutabor", Was dieser
Mythos mit dem sehr realen, sehr berühmten 20. Juli 1966 zu tun hat,
ist nachzulesen in "Salz".
Wer
weiß übrigens was ein "Pilker" ist? "Schweißgebadet,
klitschnass, als hätte man mich gerade aus dem Meer gezogen",
schließt die Geschichte "Wasserleiche".
Und
wer hatte es am Strand nicht auch schon mal auf Fundstücke wie
"Donnerkeile" abgesehen? Diese Dinger stammen von
sogenannten Belemniten,
urzeitlichen Tintenfischen, die „vor hundert oder zweihundert
Millionen Jahren gelebt haben." Zweihundert hatte der Autor
seinerzeit zu Hause in der Schublade, das sind zweihundert gelebte
Leben. Die Tragödie dieser Geschichte aber sind "Tausende von
Toten". Das waren Passagiere der Schiffe, darunter das KZ-Schiff
Kap Arcona, die „draußen in der Bucht... im Mai 1945, als der
Krieg noch nicht ganz zu Ende war“, durch mutwillige und
irrtümliche
Bombardierungen ums Leben kamen.
Schweigeminute.
In
"Flaschenpost" wird (einmal mehr vom Großvater) der Weg
eine reiner real empfangenen Flaschenpost von Prag nach Travemünde
nachgezeichnet. Wer aber schickte die Flasche einst auf Reisen?
Ausgerechnet in den Tagebüchern Franz Kafkas findet der Autor einen
aufschlussreichen Hinweis.
Zusammengefasst
"Unter Segeln", "Wikinger", "Die Pamir",
"Der U-Boot-Pastor". Viermal geht es durchweg um Schiffe,
auch um ein Kirchschiff, und immer sind es Untergänge (oder fast!)
In einer dieser Geschichten taucht der argentinische Weltpoet Jorge
Luis Borges sein Gesicht in die Ostsee, „ in der Nähe von
Schleswig, dort, wo die Schlei sich zum Meer hin öffnet“, und
deklamiert ein Gedicht über die Wikinger.
Der
Dichter Michael Augustin versteht sich auf die überraschenden
wiewohl schönen, dichten und packenden Momente (dazu gehören
übrigens auch seine fein ziselierten kongenialen Collagen).
Hier
könnte schon Schluss sein und es wäre schon ein wunderschönes
Büchlein. Doch
legt uns der Künstler noch ein Dutzend frischer Lachse oben drauf.
In
"I Feel Fine", klar die Beatles, reitet der Autor auf dem
berühmten Intro hinauf auf die Bühne der Carnegie Hall und gesellt
sich zu den FAB-Four - warum ihn die Beatles aber schließlich nicht
mehr mitspielen lassen, muss der geneigte Leser selbst erfahren.
Eine
ähnliche Bewandtnis hat es übrigens mit den Kinks in "Dedicated
Followers", nur eine Buchseite weiter und nur "eine halbe
Stunde“ von einem beachtlichen Weltrekord entfernt.
Dann
wird es etwas unappetitlich aber es muss, es muss, es muss sein und
es ist gut so, dass er Autor festhielt, was ihm "Frau Voigt"
– „1891 in dem kleinen Badeort Misdroy zur Welt gekommen“ -
vom „turbulenten und brutale Ende des Zweiten Weltkrieges“
erzählt hat. Sie „überlebte“ wie tausende andere jüngere und
ältere Frauen die Vergewaltigungen durch Soldaten der eingerückten
Regimenter der Sowjetarmee (nicht Rote Armee, das ist falsch, denn
Stalin hat diese Armee während des Vormarsches auf Deutschland
ausdrücklich von Rote Armee in Sowjetarmee umbenannt. Er hatte dafür
seinen eigenen strategischen Grund. Gehörte der Terminus 'Rote
Armee' der Zeit des Großen Vaterländischen Krieges an, sollte der
Titel 'Sowjetarmee' (auf den sowjetischen Schulterstücken 'CA') die
neue Weltmacht präsentieren. Doch schließt Augustin die Miniatur
mit dem Wort Hoffnung ab. August 1982. Der Autor im Zug mit Alfred
Anderschs 'Sansibar
oder der Letzte Grund'.
Der Autor: "Ein Boot, in das sich Menschen ducken, sich in viel
zu großer Zahl unter der Plane verbergen, Menschen, die einen Grund
gefunden haben, einen ersten, einen zweiten und einen letzten, ihrem
bisher gelebten Leben den Rücken zu kehren und nun voller
Hoffnung..."
Die
Hoffnung nach dem Krieg hieß ein neues demokratisches Deutschland.
Doch wie wurde (wie wird!) diese Hoffnung von den Deutschen gelebt?
Dies ist zugleich der Hintergrund der kleinen, feinen Ostsee- Storys
von Michael Augustin. Five Points!
Zutage
tritt dies auch in den abschließenden zehn Minidramen „Totentanz",
"Der Blödmann aus Hamburg", "Meerjungfrauen",
"Dackel royal", "Ikke Inger", "Schweden",
"Begegnung in Riga", "Buch-Befreiung in Flensburg",
"Wie die Ostsee macht" und "Das Meer".
Krieg,
Kalter Krieg, die Sanfte Revolution (oder auch „Wende“ genannt)
und ihre Folgen sind trotz des omnipräsenten Seewindes immer
spürbar. Und mit vielen weiteren welterfahrenen Seelen blickt der
Leser immer weiter aufs Meer [der Geschichte]. Auf „Das Meer, das
Meer, das voller Wasser ist, und voller Fische.“ Ein Lachs kommt
selten allein.
Michael
Augustin, Ostsee - Storys, Edition Temmen, e-book, 102 Seiten mit 33
Prosa-Miniaturen und 22 Collagen des Autors, für 2,99 Euro.
Vielen Dank und bleiben Sie dran!