Briefe ohne Unterschrift. Susanne Schädlich legt ein beeindruckendes Buch über eine BBC-Sendung vor, die die DDR herausforderte
„Lieber Londoner Rundfunk, ich bin schon seit langer Zeit ein ständiger Hörer Deiner Sendungen, am meisten gefallen mir die Sendungen ‚Im Spiegel der Sowjetzone‘, oder ‚Hinter der Fassade des Kommunismus‘ und vor allem freitags ‚Briefe ohne Unterschrift‘“.
Von 1949 bis 1975 werden in dieser BBC-Sendung anonyme Zuschriften von DDR-Bürgern gelesen. Das Lesen der Briefe wird – nach Vermutung, wer der Absender ist – von männlichen und weiblichen Sprechern übernommen. Den Kommentar übernimmt der Leiter der Sendung, Austin René Harrison. Die Reihe wird jeden Freitag ab „20. 15 Uhr deutscher Zeit“ im „Abendprogramm in deutscher Sprache“ gesendet und kann sich über ein mangelndes Echo nicht beklagen. Die Sendereihe genießt im Gegenteil schnell den Ruf einer moralischen Instanz. Harrisons Stimme wird zum Markenzeichen der Sendung. Viele Briefe richten sich direkt an ihn.
In einem Artikel der WELT vom 05. September 1979 [über die Erweiterung des Verbreitungsgebietes der Deutschen Welle] gibt der frühere Mitarbeiter Richard 0‘ Rorke für einen derartigen erfolgreichen Fremdsprachendienst die Regel aus: „Man muss Hörern bieten, was sie sonst nicht erhalten können.“ Dazu erzählte er, „dass die Hörer in der ‚DDR‘ zunehmend die BBC hörten, als London die ‚Briefe ohne Unterschrift‘ aus der ‚DDR‘ mit meist politischer Kritik verlas“. Vier Jahre zuvor wurde die Sendung überraschend eingestellt. Die Gründe dafür ergeben ein weltpolitisches Lehrstück.
Im Kern spiegeln die Briefe die Folgen der beiden Hauptstrukturen der Weltpolitik in der DDR der Nachkriegszeit.
Das sind von 1949 bis 1963 die Folgen der Zeit der Bipolarität als entscheidendes Strukturelement der Weltpolitik, als die Hegemonialmächte USA und Sowjetunion im Kampf der Systeme allen ihren Partnern weit überlegen sind. Von 1963 bis 1975 sind es dann die Folgen der Begrenzten Multipolarität, als die friedliche Beilegung der Cuba-Krise neue Tendenzen in den internationalen Beziehungen eingeleitet. Hinzu kommen neue Einsichten durch die Herstellung eines militärischen Gleichgewichts.
Dabei führt die in diese neuen Einsichten einfließende Entspannungspolitik womöglich auch zum Ende der Sendung. Sie wird im Juli 1974 „ohne Angaben von Gründen aus dem Programm [der BBC] genommen.“
Warum eigentlich? Geben doch die Briefe ohne Unterschrift die unterschiedlichsten Ansichten und Richtungswechsel wider. Vor allem aber machen sie die Fülle des Wahrgenommen unterhalb der Sphäre der Weltpolitik überschaubar. Dabei nutzt das Gros den Brief als die Freiheit, nichts verheimlichen zu müssen und zwar da, wo man sonst „Wahrheit und Lüge nicht mehr unterscheiden[kann].“
Andere operieren ziemlich forsch mit groben Verteidigungsreden der DDR. „Die Butter ist hier nicht knapp“, heißt es einmal, “sonst würde man nicht mehr Butter bekommen als einem zusteht. Ich komme aus und wenn ich keine mehr habe, kaufe ich mir neue, aber keine Margarine, so wie die Westler es tun, die sich keine Butter leisten können, weil sie alles in die Miete stecken müssen, sonst fliegen sie raus. Also, sehen Sie, mein Herr, es ist nicht alles Gold, was glänzt. Ich hoffe, dass sie eine Ausnahme machen und diesen Brief auch veröffentlichen.“
Auch in diesem Fall ist der Angesprochene Austin Harrison – und Harrison kommentiert auf seine eigene britische Art: „Warum nicht? […] Wenn wir Ihnen die Möglichkeit geben zu sagen, wie zufrieden sie sind, so dürfen wir vielleicht auch Verständnis für die Meinung anderer erwarten, die sich aufregen.“
Für die Mehrheit der Briefeschreiber gestaltet sich aber „die Meinung anderer“ gerade dort schwierig, wo es pausenlos heißt, “alle westlichen Rundfunk-und Fernsehstationen sind Hetzzentren, und deshalb darf sie kein Bürger der DDR empfangen“. Bereits jüngere DDR-Briefeschreiber schreiben dazu klipp und klar: „Wir bekommen in der Schule lauter Quatsch über Politik zu hören. Darum höre ich Ihre Sendung sehr gerne.“ Öfter wird auch das Gefühl ausgesprochen, nur dank der BBC-Sendung „nicht auf verlorenen Posten zu stehen.“
Für das der - ohne Aussicht auf Veränderung - allein regierenden Partei verpflichtete Ministerium für Staatssicherheitsdienst, die Stasi, sind derlei Mitteilungen nicht gerecht. Sie steuert mit allen Mitteln des Kalten Krieges dagegen und beginnt die Briefeschreiber gnadenlos zu verfolgen. Doch auch die Stasi macht Fehler. Eine Niederlage erleidet sie mit der Behauptung, „die Briefe seien alle gefälscht. Von Agenten. Von uns.“ Denn im „Funkhaus“ liegen die „Originalbriefe“ vor. Doch sie konditioniert ihre Abwehr- und Einflussmöglichkeiten. Sowohl umfassende Liquidierungspläne als auch ein hoch-aktives Netzwerk überwiegend akademisch gebildeter Inoffizieller Mitarbeiter, kurz IM, übt nun einen permanenten Druck aus.
Zum Stamm der eingesetzten IM gehört auch der Onkel Susanne Schädlichs, der seit 1969 „für seine Dissertation Kontakt zu den Leuten von der BBC“ hat. Auch er nimmt an den „Zersetzungsplänen“ der Stasi gegen die eruierten BBC-Mitarbeiter der Sendung teil, erhält eine Legende und einen anonymisierenden Decknamen. Doch die BBC ahnt solche Strukturen und lässt die Briefe nicht offen herumliegen, sondern bewahrt sie in einem Safe.
Mit der drastischen Verengung des Lebens nach dem 13. August 1961 manifestiert sich in den Briefen vor allem die Forderung nach der Wiedervereinigung. Damit ist für die Stasi freilich die letzte rote Linie überschritten. Wer sich nicht über die Mauer freut, ist zumindest der Hetze verdächtig. Die Stasi ermittelt auf Hochtouren und fängt etliche Briefe ab. So mancher Briefschreibende wird „Im Namen des Volkes!“ für Jahre eingebuchtet.
Mit dem Fallbeispiel des siebzehnjährigen Oberschülers Karl-Heinz Borchardt ist der Autorin nun ein ganz besonders plastisches Stück Literatur gelungen. Die Stasi kam ihm über einen abgefangenen Brief und Schriftgutachtern auf die Spur. Ohne den wahren Anlass zu kennen, müssen Borchardt und seine Abiturklasse einen Aufsatz schreiben. Natürlich hat das Thema mit dem Anlass nichts zu tun. Die Ergebnisse landen sämtlich bei der Stasi. Borchardt, der um seinen Lieblingssender nie einen Hehl machte, schreibt also nichtsahnend weiter an „Mister Harrison“ seine „ehrliche Meinung“.
Dabei steckt er voller jugendlicher Widersprüchlichkeit. Einmal tadelt er „Willy Brandts Ostpolitik“, die der „Londoner Rundfunk“ auch noch „feiern“ würde. Ganz im Gegenteil sieht er seinerseits nur „Gewalt“ als einzige Lösung, um die kommunistische Gewaltherrschaft zu beenden. Ein anderes Mal träumt er davon, später einmal „Aufträge [zu] erhalten, wie die Planung und Leitung unserer Wirtschaft weiter verbessert werden können.“
Die Verfolgungsgeschichte des Schülers B., der am Ende zwei Jahre Freiheitsentzug kassiert, scheint dem Rezensenten gerade für den heutigen Schulunterricht bestens geeignet. Der Status des heute an der Universität Greifswald lehrenden Dr. Karl-Heinz Borchardt wirkt hierbei abrundend als ein wunderbarer Beweis später Gerechtigkeit.
Als sich Austin Harrison am 31. Januar 1975 ein letztes Mal an die Hörergemeinschaft der Briefe ohne Unterschrift wendet, äußerte er am Ende seiner Radioansprache die Hoffnung, dass „die BBC [vielleicht] eines Tages Auszüge aus den Briefen in Buchform veröffentlichen [wird]“.
Das Schreiben dieses Buch fiel vier Dekaden später der Schriftstellerin Susanne Schädlich zu. Sie gibt mit diesem Buch Menschen und Schicksalen, die vergessen und damit ohne jegliche Resonanz geblieben wären, die endlich verdiente Öffentlichkeit. Nicht zuletzt erwähnenswert ist dabei das Wiederfinden der Sendemanuskripte, die verloren geglaubt waren. Ein kostbarer Vorgang für ein wirklich sehr lesenswertes Buch. Damit der Hunger auf das, was war, nicht erlahmt.
Susanne Schädlich. Briefe ohne Unterschrift. Wie eine BBC-Sendung die DDR herausforderte. 285 Seiten. Abbildung von Originalbriefen. Albrecht Knaus Verlag 2017.
Quelle: http://www.tabularasamagazin.de/briefe-ohne-unterschrift-susanne-schaedlichs-legt-ein-beeindruckendes-buch-ueber-eine-bbc-sendung-vor-die-die-ddr-herausforderte/ (Stand 06.06.2017)