Samstag, 22. Dezember 2018

PEN-Veranstaltungsbericht: Nach Straßburg in Berlin. Sacharow-Preis 2018



Sacharow-Preis 2018
Der Tag nach Straßburg in Berlin
Veranstaltungsbericht
von
Axel Reitel

PEN-Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland
(PEN exil)




v.r.n.l. die Moderatorin Andrea Despot, Senzows Anwalt Dimitri Dinze, 
Natalja Kaplan, Rebecca Harms, Dr. Stefan Meister

         Frank Piplat, Leiter des Verbindungsbüros 
        des Europäischen Parlaments in Deutschland

Natalja Kaplan
Fotos:AR




Am 14. Dezember 2018 fand von 10.30 Uhr bis 12. 30 Uhr im Verbindungsbüro des Europäisches Parlaments in Deutschland, Berlin, Unter den Linden, die Nach-Veranstaltung zur zwei Tage vorher stattgefundenen Straßburger Verleihung des Sacharow-Preises 2018 an den seit vier Jahren im Lager der westsibirischen Siedlung Labytnangi schmorenden Filmemachers Oleh Senzow statt.
Dabei standen im Mittelpunkt der Gesundheitszustand Oleh Senzows nach dessen 145-tägigen Hungerstreik, um auf die Freilassung der insgesamt siebzig ukrainischen Gefangenen einzuwirken, und wie die Verleihung des Preises auf das weitere Schicksal Senzows einwirkt.
Des Weiteren standen zur Debatte Fragen rund um die im vierten Jahr sich befindende Krim-Krise "Wie ist der Stand? Wie geht es weiter? Was kann die EU tun?".
In seinem Grußwort fasste Frank Piplat, Leiter des Verbindungsbüros des Europäischen Parlaments in Deutschland, die Entscheidung der Jury des Sacharow-Preises noch einmal zusammen. So sei Senzow mit seinem Einsatz zu einem Symbol des Kampfes für die Freilassung von politischen Gefangenen in Russland geworden.
Die Abgeordnete des EU-Parlaments in Straßburg haben unter dem Hashtag "#LetSensovGetSakharov" in den sozialen Medien gefordert, dass der Regisseur den Preis persönlich entgegen nehmen darf.
Dass Oleh Senzow die persönliche Entgegennahme des Preis nicht gestattet wurde, ist eine alte ideologische Tradition, die nach den Zeiten Stalins und Breschnews in Russland wieder Fuß zu fassen scheint.
Oleh Senzows Anwalt Dimitriy Dinze sagte auf dem Podium, dass der Regisseur nur wenig Hoffnung habe, freigelassen zu werden. Oleh Senzows Cousine Natalja Kaplan stellte dem zahlreichen Publikum der Veranstaltung ihren Cousin etwas näher vor. Wie er nach dem Studium der Ökonomie in Kiew sich für Filmregie und Drehbuch in Moskau einschrieb. Wie mit dem ersten Kurzfilm „A Perfect Day for Bananafish“ 2008 einen Achtungserfolg errang und bereits im darauffolgenden Jahr mit dem zweiten Kurzfilm „Das Horn von einem Stier“ von der Klasse der Filmemacher wahrgenommen wurde. Wie sein erster Spielfilm "Gamer" über einen Videospiel-Wettbewerb, mit dem er auf dem Internationalen Filmfestival in Rotterdam im Jahr 2012 debütierte, auf viel Lob stieß und die Finanzierung für seine nächste Filmproduktion „Rhino“ sicherte. Wie er diesen geplanten Spielfilm im November 2013 für sein Engagement in der Euromaidan-Protestbewegung unterbrach.
Doch wenn man hoffe, dass der Preis den Druck auf Russland erhöhe, womöglich ihn und alle ukrainischen politischen Gefangene sofort freizulassen, solle man sich Olehs Schicksal bis zum heutigen Tag noch etwas genauer vor Augen führen.
Der 42-Jährige stammt von der Krim und ist ein Gegner der russischen Annexion. Er ist ein Verfechter der Freiheit und der Demokratie. Deshalb auch engagierte er sich seit 2013 bei den proeuropäischen Protesten auf dem Maidan. Dann wurde er im August 2015 unter dem hinter verschlossenen Türen ausgedachten Vorwurf eines angeblich geplanten Terroranschlags auf die Krim-Halbinsel zu 20 Jahren sibirischer Lagerhaft verurteilt. Seither fordern EU, der Europarat, Amnesty International, die USA und viele Prominente vergeblich (!) seine Freilassung.
"Zum Zeitpunkt der Haft war Oleh alleinerziehender Vater zweier Kinder. Und nicht einmal zum Wohle seines autistischen Sohnes hat er Putin um Gnade ersucht. Oleh ist sehr prinzipientreu", erklärte weiterhin seine Cousine. Und: "Kein Preis ersetzt die Freiheit", fügte Natalja Kaplan - mit größter Sanftmut - klar und deutlich hinzu.
Zur den tieferen Fragen der Krimkrise standen der Podiumsdiskussion Rebecca Harms, Mitglied des Europäischen Parlaments und Vorsitzende der Parlamentarischen Versammlung Euronest (Europa-Nachbarschaft Ost) und Dr. Stefan Meister, Leiter des Robert Bosch-Zentrums für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien zur Verfügung.
Die Moderation hatte Andrea Despot, Direktorin der Europäischen Akademie Berlin, die geschickt und charmant durch die Veranstaltung führte.
Zum Sacharow Preis heißt es im Bericht aus Straßburg: "Der EU-Menschenrechtspreis trägt den Namen des sowjetischen Physikers und Dissidenten Andrej Sacharow. Er arbeitete lange am sowjetischen Kernwaffenprogramm, bevor er sich ab Ende der 1960er Jahre für internationale Abrüstung und eine Demokratisierung der Sowjetunion einsetzte. Für sein Engagement wurde ihm 1975 der Friedensnobelpreis verliehen. Nachdem seine Frau diesen für ihn entgegen genommen hatte, galt der Physiker als Staatsfeind.
Der nach ihm benannte Preis wird seit 1988 jedes Jahr vergeben, um Menschen und Organisationen zu ehren, die in besonderer Weise weltweit Menschenrechte und Grundfreiheiten verteidigen. Er ist mit 50.000 Euro dotiert und wird jedes Jahr in Straßburg verliehen. Vorgänger Oleg Senzows als Preisträger sind unter anderen der frühere südafrikanische ANC-Führer Nelson Mandela und die demokratische Opposition in Venezuela."
Insgesamt umgab die Veranstaltung ein freiheitliches, ein offenes, ein europäisches Flair: Wir können nicht anders, wir bleiben, mit allen Mitteln der Diplomatie, der Hoffnung auf den Fersen.

Berlin, 21.12.2018

Mittwoch, 12. Dezember 2018

Sacharow-Preis: Sacharow-Preis 2018 an Oleh Senzow

Europäisches Parlament
Verbindungsbüro in Deutschland
Europäisches Parlament
Verbindungsbüro in Deutschlan

Podiumsdiskussion in Berlin am Freitag, 14. Dezember 2018

Das Europäische Parlament hat 2018 den Sacharow-Preis für geistige Freiheit an Oleh Senzow, verliehen. Nataliya Kaplan, Cousine von Oleh Senzow, wird den Preis in seinem Namen in Straßburg entgegennehmen und dann in Berlin bei der Veranstaltung in Berlin teilnehmen.



PROGRAMM
Krim-Krise 4 Jahre+Wie ist der Stand? Wie geht es weiter? Was kann die EU tun?
Grußwort 
- Frank Piplat, Leiter des Verbindungsbüros des Europäischen Parlaments in Deutschland
Keynote
- Nataliya Kaplan, Cousine und Sprecherin von Oleh Senzow, Sacharow-Preisträger 2018
Podiumsdiskussion
- Rebecca Harms, Mitglied des Europäischen Parlaments, Vorsitzende der Parlamentarischen Versammlung Euronest (Europa-Nachbarschaft Ost)
- Dr. Stefan Meister, Leiter des Robert Bosch-Zentrums für Mittel- und Osteuropa, Russland und Zentralasien
- Nataliya Kaplan, Cousine und Sprecherin von Oleh Senzow
- Dimitriy Dinze, Anwalt von Oleh Senzow (tbc)
Moderation
- Andrea Despot, Direktorin Europäische Akademie Berlin
 .
HINTERGRUND
Das Europäische Parlament vergibt seit 1988 den Sacharow-Preis für geistige Freiheit. Mit dem Preis werden Menschen oder Organisationen ausgezeichnet, die sich für Menschenrechte und Grundfreiheiten einsetzen.
Das Europäische Parlament hat 2018 den Sacharow-Preis für geistige Freiheit an  Oleh Senzow, verliehen. Die feierliche Zeremonie findet am 12. Dezember in Straßburg statt. Nataliya Kaplan, Cousine von Oleh Senzow, wird den Preis in seinem Namen entgegennehmen.
Oleh Senzow (geboren 1976) ist ein ukrainischer Filmregisseur, der am 10. Mai 2014 in Simferopol auf der Krim verhaftet und wegen des Vorwurfs der Planung terroristischer Handlungen gegen das auf der Krim faktisch herrschende Regime Russlands zu 20 Jahren Haft verurteilt wurde.
Am 14. Juni 2018 verabschiedete das Europäische Parlament eine Entschließung zu Russland und insbesondere dem Fall des ukrainischen politischen Gefangenen Oleh Senzow, in der es forderte, dass die Staatsorgane Russlands Oleh Senzow und alle anderen unrechtmäßig in Russland und auf der Halbinsel Krim inhaftierten ukrainischen Staatsbürger sofort und bedingungslos freilassen.
Oleh Senzow wurde verurteilt, weil er sich der unrechtmäßigen Annexion eines Teils seines Landes durch dessen Nachbarn widersetzte. Seine Verurteilung steht inzwischen sinnbildlich für das Schicksal der etwa 70 Staatsbürger der Ukraine, die nach der Annexion der Halbinsel Krim von Russland unrechtmäßig verhaftet und zu langjährigen Haftstrafen verurteilt wurden.
ORGANISATORISCHE HINWEISE
- Begrenztes Platzangebot. Nach Anmeldung und Bestätigung ist diese verbindlich.
- Bitte planen Sie vor Veranstaltungsbeginn ausreichend Zeit für die Sicherheitskontrolle ein und bringen Sie ein Ausweisdokument mit.
- Es wird eine Simultan-Dolmetschung in deutscher und russischer Sprache angeboten.
- Bitte beachten Sie, dass Foto- und Videoaufnahmen während der Veranstaltung gemacht werden, die in den Medien, im Internet, in den sozialen Medien oder in Publikationen zur Berichterstattung genutzt werden können.
- Sie können diese Einladung gern an andere Interessenten weiterleiten.
- Sie erhalten diese E-Mail, weil wir Sie als Europaakteur auf unsere Veranstaltung hinweisen möchten oder Sie sich in unseren Verteiler haben eintragen lassen. Falls Sie nicht von uns kontaktiert werden wollen, schicken Sie bitte eine E-Mail an: veranstaltungen-berlin@ep.europa.eu
INFORMATIONEN ZUR VERANSTALTUNG
Freitag, 14. Dezember 2018, 10.30 – 12.00 Uhr
Europäisches Haus, Unter den Linden 78, 10117 Berlin
Konferenzsaal, 1. OG

Quelle:  http://www.europarl.europa.eu/germany/de/presse-veranstaltungen/sacharow-preis-podiumsdiskussion-2018

Montag, 10. Dezember 2018

Buchkritik: „Vorbilder für die Zukunft“ – Gabrielle Alioths neuer Roman „Gallus, der Fremde“

„Vorbilder für die Zukunft“ – Gabrielle Alioth legt mit „Gallus, der Fremde“ einen hinreißenden Zukunftsroman aus dem 7. Jahrhundert vor



Wir befinden uns im Präsens eines Jahrhunderts, das am Beginn seiner Christianisierung durch zwei Wandermönche, Columba und Gallus, steht. Ihr Ausgangspunkt ist die Abtei Bangor an der nordirischen Küste, ihr Ziel wird die heidnische Region um den Bodensee sein. Columba wählt elf Gefährten unter den Mönchen. Gallus folgt, noch minderjährig, als Diener.
Die Erzählerin, die Gallus, längst hochbetagt, eines Gespräches wegen aufsucht, wie es denn so gewesen ist, folgt ihm, kurzhaarig, mit Kladde und Stift. Auf der Reise ohne Rückkehr behält Gallus den Abt von Bangor im Ohr, Gott schicke „die Kranken, um uns zu prüfen“, und begreift, dass sein Amt vom Eintreten gegen die Hoffnungslosigkeit geprägt sein muss, damit keiner seinen Glauben verlieren muss.
Einige Gefährten sehen sich selbst bald auf der Reise verloren, wissen nicht, wohin rudern, ärgern sich über Hunger und Durst. Als das Boot unterzugehen droht, retten sie die Evangelien. Doch der früheste Bericht vom Leiden Christi, auf den die Evangelisten sich berufen, geht verloren.
In jener Zeit ist die Buße, das Fasten, das Bindeglied zur Vergebung und neuen Hoffnung. Das Abschätzige kommt aus der Moderne, von uns, die wir das Vergangene im Nachhinein besserwisserisch betrachten anstatt vor dem Zweifeln erst einmal darüber zu staunen, was es alles einmal gab. Bei Gabrielle Alioth klingt das so: „… wenn ich mir auch nicht vorstellen kann, auf welchem Weg die Reliquie ausgerechnet an diesen Ort gelangt sein sollte“, sagt die Frau mit einer abschätzigen Geste.
Zu Beginn des 7. Jahrhunderts sieht Gallus auf den Abt Columba zurück, der 590 das Kloster Luxeuil in den Vogesen gründete, wo Gallus zu seinen Schülern zählte und von wo sie um 610 mit anderen Mönchen weiterzogen nach Alemannien, die Menschen in gut und böse zu teilen. So segnet Columba die Söhne der Königin Brunhild nicht, weil sie in Sünde gezeugt seien, zugleich erschüttert ein Beben den Boden unter den Füßen, dass alle erschrecken außer der Königin, die mit dem Teufel im Bunde stehen soll.
Was nun geschieht gehört zu den vorzüglichsten Stellen dieses sehr lesbaren Romans: die Gegenwart komplettiert der Vergangenheit ihre Geschichte. Und die Vergangenheit liefert den nötigen O-Ton für den Turning Point, der Geschichte erst interessant macht. Gallus weiß nicht, was am Hof geschah, aber er erfährt es ja von seiner Interviewerin. „Ich weiß nicht, wer mit dem Teufel im Bunde stand“, antwortet darauf Gallus. „Aber ich weiß, dass unser Leben sich änderte, als Columba zurückkam.“
Das Leben als ständige Auseinandersetzung mit dem Unvorhergesehenen: Soldaten vollziehen herabwürdigende Befehle des erzürnten Königs, die Mönche dürfen fortan weder Kranke noch Pilger aufnehmen und niemand „soll“ ihnen helfen.
Die Furcht, die nun statt der Freude sich verbreitet, hallt als Methode in der Gegenwart nach. Anstatt der einstigen Zuwendungen folgen Untaten und viele schließen sich aus Abhängigkeit, Eitelkeit oder Neid an. Auch alle Äbte und Bischöfe verweigern fortan jede Korrespondenz und schweigen.
Columba aber eilt von Verhör zu Verhör zum König und kehrt mit den Zügen der „Genugtuung“ zu den seinen zurück, da er sich nicht aus Reue stellt, sondern um dem König zu „drohen“. Dabei stellen ihm die seinen schon die richtige Fragen: „Welche Sinn konnte es haben, das, was sie in Luxovinum aufgebaut hatten, wegen der Unarten eines Königs aufs Spiel zu setzen? Hatten ihre eigenen Väter nicht auch Konkubinen gehabt?“ Und schon ein anderer Heiliger wurde von der Königin „gesteinigt“, weil er sie „tadelte“. Wie aus Ungnade aber wieder Gnade wird, gehört bis heute zu den rätselhaften Dingen, die das Leben aus unerfindlichen Gründen erneut erträglich machen.
Wie die Autorin, übrigens in ausgezeichneter Erzählkunst, im weiteren Verlauf Licht in diesen helldunklen Vorgang bringt, soll hier nicht weiter ausgeführt, sondern den Lesenden ans Herz gedrückt und empfohlen, empfohlen, empfohlen werden.
Nur so viel noch: die Reise geht spannend weiter, es geschehen noch Wunder und mit dem Gallustag wird der Hauptprotagonist noch heute geehrt und verehrt. Die Autorin erklärt nichts und das macht sie stark.

Bibliographische Angaben

Gabrielle Alioth, Gallus, der Fremde, Roman, 246 Seiten, Hardcover, mit Schutzumschlag, Verlag: Lenos, 1. Auflage, Basel, September 2018, ISBN 978-3-85787-489-5, Preise: 22 EUR, 29,80 sFr, auch als E-Buch erhältlich, Oktober 2018, ISBN 978-3-85787-969-2, Preis: 15,99 EUR
Quelle: https://weltexpress.info/vorbilder-fuer-die-zukunft-gabrielle-alioth-legt-mit-gallus-der-fremde-einen-hinreissenden-zukunftsroman-aus-dem-7-jahrhundert-vor/

Mittwoch, 31. Oktober 2018

Sponge: PEN Newsletter 2018 (PEN Zentrum deutschsprachiger Autoren im Ausland)



Liebe Bloglesende,

der PEN Newsletter 2018 des PEN Zentrums deutschsprachiger Autoren im Ausland enthält neben dem Editorial und den fulminanten Texten zum diesjährigen Schwerpunkt "Lebenswege" eine reiche Auswahl an Aktivitäten, Lesungen, Neuerscheinungen, Vorträgen und Preisen unserer Autorenschaft - wie den OVID-Preis an Herta Müller - sowie viele Abbildungen, sehr schöne Foto-Impressionen und natürlich auf dem Cover das vom Maler und Grafiker Hubertus Giebe  mit freundlicher Genehmigung für den Abruck zur Verfügung gestellte Gemälde "Mondnacht im Großen Garten, Dresden" (Öl auf Leinwand, 2017. 80 x 100 cm).

https://exilpen.org/wp-content/uploads/2018/03/PEN_Newsletter_2018.pdf

oder

https://exilpen.org/newsletter/

Die PDF ist kostenfrei downloadbar.

Der PEN Newsletter 2019 mit dem neuen Schwerpunkt wird Ende Februar/Anfang März 2019 veröffentlicht.

Viel Vergnügen beim Blättern und weiterhin alles Liebe und Gute

Axel Reitel                                                                                      Berlin,  31.10.2018 07:03 Uhr /                                                                                                                             04.11.2018 11:51 Uhr 

Freitag, 10. August 2018

Kommentar: Schales Revolutionsglück. Über die Freiheit und ihre Abgründe im ehemaligen Geltungsgebiet der DDR

Die Politische Meinung
ZEITSCHRIFT FÜR POLITIK, GESELLSCHAFT, RELIGION UND KULTUR
AUSGABE 551 | 2018

Schales Revolutionsglück
Über die Freiheit und ihre Abgründe im ehemaligen Geltungsgebiet der DDR

Von AXEL REITEL 9. Aug. 2018

Dass der rote Stern über Ostberlin, Warschau, Prag, Sofia, Bukarest, Budapest, Belgrad oder Tirana, später sogar über dem großen Kreml erlosch – noch dazu durch das Votum des Volkes, meist ohne dass ein Schuss fiel –, hat die Welt als Wunder erfahren. Der hermetische Ostblock war gefallen, der Startschuss für ein wiedervereinigtes Europa, für eine Freiheit ohne Feindbild, die alle Phrasen „für abgestanden erklärt“.

Längst ist allerdings der Eindruck entstanden, diese Freiheit welke wieder dahin. Ihre erste Einengung geschah mit den von höhnischem Geschrei begleiteten Angriffen auf ein Ausländerwohnheim in Rostock-Lichtenhagen zwischen dem 22. und 26. August 1992. Die Wiederaufnahme nationalsozialistischen Gedankenmülls traf die Öffentlichkeit wie ein Schock. Die Ceska-Mordserie (oder NSU-Mordserie) der Jahre 2000 bis 2006 steigerte ihn noch.

Dabei hat nicht die sanfte Revolution diese bedrohlichen Kräfte ausgelöst. Schon in der DDR hatten sie ein Klima, in dem sie gedeihen konnten. Nur wurde alles getan, um diese Tendenzen totzuschweigen. Als Neonazis am 17. Oktober 1987 die Besucher eines Punk-Konzerts in der Ost-Berliner Zionskirche überfielen, ließ sich das Geschehen allerdings nur noch notdürftig bemänteln. So stellte das FDJ-Zentralorgan Junge Welt in seinem Kommentar vom 12./13. Dezember 1987 die Schläger mit der politischen Opposition auf eine Stufe.

Unverhandelbare Schuldfrage

Die DDR sah sich „als Nachfolgerin des antifaschistischen Widerstandes der KPD“. Uns, die wir in den 1970er-Jahren als Jugendliche aufwuchsen, hatte man zu verstehen gegeben, dass es demzufolge überhaupt keine „Schuldfrage“ geben könne. Diese eindimensionale Antwort stillte unseren Wissensdurst zwar nicht, aber wir hatten Angst, zu weit zu gehen. Der verborgene Staat, die Stasi, schlug wie ein Blitz in alle möglichen Oppositionsnester ein. Bevor wir hätten anfangen können, die „Schuldfrage“ auseinanderzunehmen, hätten wir uns mit dem Strafgesetzbuch auseinandersetzen müssen, was ich getan habe, als es notwendig wurde, die DDR zu verlassen.

Das von Grund auf mulmige Gefühl, in das man als DDR-Bürger hineingeboren wurde, entstand dadurch, dass es kein Selbstwertgefühl außerhalb der Selbstlegitimation des Staates geben sollte. Jedes Jahr hieß es an Silvester: Es muss besser werden, das kann nicht so bleiben. Bei zu viel Bowle auch gern gesungen zu Akkordeon und Gitarre.

Die Schuldfrage war unverhandelbar, die braune Zeit wurde am laufenden Band wortreich totgeschwiegen. In der Erinnerung des Zeitzeugen „Jan“ aus der rechten Szene in Berlin-Bohnsdorf (O-Ton aus dem Radiofeature „Hass auf Heimat“) gab es nur „Russen, Russen, Russen“. Jans Vater war ein hoher Stasioffizier, arbeitete als politischer Berater im Politbüro und sah tatenlos zu, wie Jan sich Zugang zur nationalsozialistischen Literatur verschaffte und beispielsweise die Tagebücher von Joseph Goebbels „verschlang“. Wie Jan gab es Tausende; über seine Schule sagte er: „… natürlich waren wir rechts, wir waren alle rechts.“

„Die Neonazis“, erklärte Bernd Wagner, Leiter des Rechtsextremen-Aussteigerprogramms „EXIT-Deutschland“, „sahen in der DDR … ’ne passable Konstruktion, die eher verwandt war mit dem Nazi-Reich, dem alten, so von der gesellschaftlichen Aufbaustruktur her. Und auch bestimmte Mentalitätsbestände fanden die also gar nicht so schlecht, aber das hätte durchgesiebt werden müssen, durchgewaschen … Dann wäre das also ’ne gute Sache gewesen. Also ’ne Art dritter Weg. Also jenseits vom westdeutschen Kapitalismus.“ (Bernd Wagner, in: Axel Reitel, Hass auf Heimat – die rechte Opposition der DDR, Radiofeature, MDR 2011. Nachzuhören: https://www.youtube.com/watch?v=0ByUAwf55nI. Dazu bitte auch das Radiointerview des Autors über das Feature „Hass auf Heimat“ DDR-Rechtsextremismus: https://www.youtube.com/watch?v=CmPqGQMLbrk)

Die Rechten waren „sauber“ gekleidet

Anders als die bärtigen Oppositionellen und später die Punks waren die Rechten „sauber“ gekleidet. In der Situation eines extremen Umbruchs boten sie bekannte Konstrukte der klaren Kante. So fanden sie auf dem Weg von 1987 bis 1992 rechts der Elbe ein Ostdeutschland, in dem sie Gesinnungsgewinne zu verzeichnen hatten. Diese Entwicklung hatte einen faden Beigeschmack. Das Drama der scheinbar „Abgehängten“ begann mit einem Getöse, das nicht variabler, sondern immer nur lauter wurde. Es steht in einem krassen Gegensatz zu den Einstellungen: Beim Durchrechnen der Gruppengröße der Rechtsextremisten zur Bevölkerung kam eine Summe von 0,3 Prozent heraus.

Das war verschwindend gering, aber die Rechten waren laut und zogen mit ihren Parolen vor laufenden Kameras über unsere Bildschirme, gestützt durch die Rechtsprechung, wie etwa durch das unteilbare Demonstrationsrecht. Die heutigen Debatten um Pegida und den „unverstandenen Osten“ sind von einer wesentlich variableren politischen Auseinandersetzung geprägt.

Spaltung und Dialog

Dabei schafft einerseits der unter dem Begriff „Osten“ firmierende untergegangene Staat fast automatisch den Eindruck eines Spuks. Dass dies nicht nur überzogen ist, sondern schlichtweg nicht der Wahrheit entspricht, erfährt jeder, der dorthin reist und Land und Leute genießt. Andererseits zeigten geschmacklose Galgen und Stricke auf zurückliegenden Pegida-Demonstrationen – gemünzt auf führende Politiker – die Wiederauferstehung des verronnen geglaubten Zeitgeistes vom „verhinderten Dialog“ (Siegfried Reiprich), der über vierzig Jahre lang diese Gebiete beherrschte. Böse Zungen behaupten, die ostdeutsche Gesellschaft kranke noch immer daran und sei seither traumatisch gespalten. Befragte Therapeuten sprechen von einem „Gefühl, dass sehr viele Emotionen im Raum sind“. Das Thema „Ausländer“ hatte längst verstrittene Lager produziert. Wie dem demokratiefördernd entgegengetreten werden kann, wurde bei einem strukturierten Dialog-Treffen zwischen Pegida-Anhängern und ihren Kritikern gezeigt.

Als sich diese im Januar 2014 in der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung trafen, riet der Politikwissenschaftler Werner Patzelt „von pauschalen Verurteilungen ab“. Mithilfe der „Fishbowl“-Methode, einer Technik aus der Sozialpädagogik, kamen die Gäste tatsächlich miteinander ins Gespräch. Ein Artikel aus den Dresdner Neuesten Nachrichten vom 9. September 2015 gibt einen Eindruck von der Stimmung dieses Abends: „‚Sind wir denn Feinde? Ich fühle mich von der Politik verlassen‘, sagte ein älterer Herr aus der 170-Seelen-Gemeinde Perba bei Meißen. 50 alleinstehende Nordafrikaner würden dem Dorf durch das Landratsamt aufgedrückt. Alle sollen in einen Plattenbau. ‚Die Anwohner haben sich bereit erklärt, drei Flüchtlingsfamilien mit jeweils fünf Personen aufzunehmen. Trotzdem werden wir als Nazis diffamiert‘, erregte sich der Mann im breiten sächsischen Dialekt.“

Die Szene unterstützt die gängige These der „fehlenden Anerkennung der Lebensleistungen der Menschen im Osten“ nicht. Einer, der Rede und Antwort steht, ist nicht von sich aus „abgehängt“. Jedenfalls ist vor schnellen Verurteilungen zu warnen. Wie leicht geschieht es im sich selbst aufhebenden Dialog, dass man Fehler beim anderen (er)findet, die man sich hinterher gegenseitig nicht mehr verzeihen kann. Abgründe der Freiheit lauern, wenn das Ziel der Debatte darin besteht, am Ende allein recht zu behalten. Dies gilt umso mehr, als sich Fragen herauskristallisiert haben, die schwer zu beantworten sind und allen Anlass bieten, sich näher und genauer umzuschauen.

Erinnerung als Ermunterung

Tatsächlich haben die in der heutigen Debatte geisternden Erinnerungen an die DDR verstrittene Lager geschaffen – nicht zuletzt zwischen den einschlägigen Institutionen. Allein die Frage nach den Bedingungen der DDR- und Osteuropa-Revolution brachte unmittelbar nach den unwiderruflichen Ereignissen mehr glühende Köpfe, mehr Lagermeinungen als nüchterne Feststellungen hervor. Und oftmals ging es um Fördertöpfe, die nicht mehr für die eigene Sache ausgeschöpft werden konnten. Dabei ist die Geschichte dieser oppositionellen Frauen- und Männerbewegungen so farbenprächtig wie das pralle Leben, ein gutes Beispiel für genutzten Spaß und selbstbestimmte Identität.

Nicht zuletzt lehrte uns die Alltagsgeschichte die Gewitztheit eines Volkes unter der Käseglocke der zweiten deutschen Diktatur. Den Aufruf zur Demo am 7. Oktober 1989 im vogtländischen Plauen, der heimlichen Hauptstadt der nicht nur Friedlichen Revolution – ein beschriftetes Wäschelaken mit Datum, Uhrzeit, Treffpunkt – befestigte ein junger Arbeiter an der Schillerbrücke (wie passend!), während die Intellektuellen in der DDR noch ohne Unterlass die Köpfe zusammensteckten. Dem Aufruf folgten Tausende, einige gehen von 20.000 Demonstranten mit freiheitlichen Forderungen aus – obwohl das Laken kaum eine halbe Stunde hängen blieb.

Die Reaktion der Rates der Stadt waren massenweise Verhaftungen und die Anwendung von „Disziplinarmaßnahmen“ – eigentlich Folter, nachzulesen in den veröffentlichten Protokollen oder durch Forschungsanträge bei den zuständigen Archiven (unter anderem beim Bundesarchiv und bei der Behörde der Stasiunterlagen). Umso mehr exemplifiziert der Mut des jungen Plauener Arbeiters die Hinwendung zur und die Lust auf Demokratie als bessere und nolens volens als beste Alternative. Die Erinnerung an diese Aspekte der Friedlichen Revolution setzt meines Erachtens in Zeiten wachsender Demokratie- und Europaskepsis substanzielle Zeichen und kann gerade junge Menschen – das Gros der Beteiligten war im Durchschnitt jünger als dreißig Jahre – erreichen.

Wegweiser zum lebendigen Widerspruch

Am Ende des erwähnten Dialogtreffens in Dresden wurde Oliver Reinhard von der Sächsischen Zeitung als Vertreter der „Lügenpresse“ in die Mitte gebeten. Die Dresdner Neuesten Nachrichten führten dazu aus: „‚Es gibt unterschiedliche Journalisten mit unterschiedlichen Ansichten‘, stellte er Oliver Reinhard klar und fügte hinzu: ‚Wir sitzen sicher nicht am Montag zusammen und überlegen uns, wie wir gegen Pegida hetzen.‘“ Lakonisches Fazit der Landeszentrale: Es seien noch viele Fragen offen, praktisch lädt sie jeden ersten Dienstag im Monat erneut zum Dialog. Sich nicht nur symbolisch die Hände zu reichen, setzt ein gutes Zeichen, was in besonderer Weise die Demokratieförderung veranschaulicht; es ist das Lösen von allen künstlichen wie von allen tradierten Ressentiments gegen Ausländer.

Die offiziellen DDR-Feiern waren für uns junge Leute langweilig. Die Partys der Tramperszene, die in den 1970er-Jahren so phantasievolle Ausmaße wie die der Swinging Sixties annahmen, zogen uns in den Bann. Diese Szene umfasste viele Nationalitäten, Arbeiter und Studenten der (leider sehr unparitätisch bezeichneten) befreundeten Bruderstaaten der damaligen „sozialistischen“ Wertegemeinschaft.

Und die besten Demokratieförderprogramme, die Witz hatten, ungeheuer produktiv waren und zum Ende der europäischen Diktaturen führten, hießen kurz gefasst „Prager Frühling“, Alexander Solschenizyn, Wolf Biermann, Bettina Wegner, „Solidarność“ und natürlich andere. Das sind in meinen Augen Wegweiser, weil sie die Räume öffnen in einen lebendigen Widerspruch, prallvoll mit inspirierenden Menschen.

Erinnerungen setzen die tollste, schönste Neugierde eines unverratenen Menschen voraus – und was gibt es Schöneres, als den Blick in einen Thriller geschehener Geschichte, auch „lebendig erzählter Unrechtsgeschichte“ (Udo Scheer), zu werfen?

Die Welt von Jan, die Jan-Welt, denkt dagegen verkürzt und lebt verkürzend und abkürzend und will alle Wahrheit sofort portionsgerecht auf der Hand haben. Zumindest das teilt die Jan-Welt mit der Welt der DDR-Funktionäre.

Axel Reitel, geboren 1961 in Plauen (Vogtland), Journalist und Schriftsteller, DDR-Oppositioneller, wurde 1982 von der Bundesrepublik Deutschland freigekauft.



Quelle: http://www.kas.de/wf/de/33.53101/ (Stand 10.08.2018)

Donnerstag, 19. Juli 2018

Rede vor der Russischen Botschaft in Berlin: #FreeOlehSenzow2018!

Protestdemonstration am 26. Juni 2018, Unter den Linden, vor der Russischen Botschaft: #FreeOlehSenzow2018! " Auf der Veranstaltung hielt ich auch eine kurze Rede, von der der abschließende Teil aufgenommen wurde. Axel Reitel, Berlin, am Samstag, dem 21.Juli 2018

Dienstag, 2. Januar 2018

Spruch des Tages: Aus Richard von Weizsäckers Erinnerungen "Vier Zeiten"

"Laut Luther neigen wir Deutschen in der Politik dazu, wie ein betrunkener Bauer entweder rechts oder links vom Pferd herunterzurutschen."

In diesem Sinne ein sinnenfrohes neues Jahr!

2018 now!

Offener Brief: An den Geschäftsführer Lars Kleba, Die Linke Sachsen, und Protestschreiben des P.E.N. Zentrums deutschsprachiger Autoren gegen die Willkürmaßnahme des Oberbürgermeisters von Reichenbach (Vogtland), Henry Ruß

Die Linke Sachsen Lars Kleba Cottaer Str. 6c 01159 Dresden Tel.: 0351 85327-0 Fax: 0351 85327-20 kontakt@dielinke-sachsen.de Sehr geehrter H...