„328“. Ein neues Glanzstück über ein verstörendes Thema vom Dokumentartheater Berlin unter der Leitung der preisgekrönten Regisseurin Marina Schubarth
Aus Solidarität mit den ungebrochen um ihre Freiheit kämpfenden Menschen in Belarus nachgereicht am 18. Oktober 2020
„Alles ist von ihm abhängig. Lukaschenko ist jemand, der von sich die Vorstellung eines Königs oder Fürsten des europäischen Mittelalters hat. Seine Macht soll sich auf Leben und Tod der Untergebenen erstrecken“, heißt es am 16.8.2019 im „Deutschlandfunk“.
Zum schwebenden Todesurteil kommen wir noch. Frederick Douglas aber antwortete in einer 1869 (sic!) von Publikum in den ganzen Vereinigten Staaten gefeierten Rede zum Thema Menschenrechte auf die Frage nach den mit der Staatsbürgerschaft verbundenen Rechten, „…wenn es einen mutmaßlichen Konflikt zwischen Menschenrechten und nationalem Recht gibt, ist man auf der sicheren Seite, wenn man sich an die Menschlichkeit hält.“
Es ist allenthalben dieser Punkt, der die Dolmetscherin und Aktivistin Silvie (Kathi Thiemer) umtreibt und in krachende Moralgefechte verwickelt mit dem ihr viel zu nüchtern vorgehenden Anwalt Heinz (Heinz Josef Sehr) des abwesenden Hauptprotagonisten. Der schmorte am 19. Juli, dem Tag der Premiere im Berliner Künstlerhof Alt-Lietzow, seit 146 Tagen in Abschiebehaft in Berlin-Moabit. Genauso lange wurde er auf weißrussische Initiative mit internationalem Haftbefehl gesucht. Obwohl er in Belarus verhaftet wurde. Machen wir langsam.
Volles Haus mit Abstand und Mundschutz. Vernunftbegabt in Zeiten von Corona. Die Quasi-Liveschaltung macht sich zusätzlich als exemplarisches Gefühl breit, einem Unrecht beizuwohnen. Recht schadet keinem Menschen, heißt es weiter in Douglass‘ Rede. Wie grundsätzlich verschieden diese Prämisse aber gelebt oder ausgelebt werden kann, wie pragmatisch, wie durchtrieben, wie hilflos, wie egoistisch oder sogar ehrlich, legt die weitere Handlung wie in einer griechischen Tragödie offen.
Was den Anwalt Heinz die Rolle eines nüchternen Boxers aufzwingt ist die Tragweite von Artikel 328 des weißrussischen Strafgesetzbuches. Selbst bei geringfügigsten Drogenvergehen drohen „unverhältnismäßig hohe“ Strafen. Den erläuternden Chor im griechischen Drama übernimmt im Stück die Erzählerin (Katharina Goebel).
Oleg Wasjug also wurde erwischt bei einer Verkehrskontrolle mit etwas Marihuana und noch weniger Amphetamin. Nicht mal ein Gramm. Aber ist das überhaupt der Sinn einer Verkehrskontrolle? Jedenfalls kam Oleg Wasjug auf Kaution wieder frei und fuhr nach Berlin. Out of reach. Das war diversen Kräften der belarussischen Rechtsprechung zu viel des Guten. Zwölf Jahre und vielleicht noch mehr wollen sie ihn hinter wenig menschlichen Gittern durchgebraten wissen. Wozu?
Szenenwechsel. Erste Lektion. Auftritt belarussisches Gericht und Untersuchungskommission (Rosa Selle, Christian Guethner, Esin Yildiz, Susanna Quandt), die nichts untersucht, sondern präsidiale Entscheidungen durchsetzt. Aber so ist das. Erstarrte Humanität sucht den Kitzel darin, den Willen der Macht, welcher auch immer, durchzusetzen, und überhaupt keinen Gedanken erst daran zu verschwenden. Nötig ist harscher Eifer. Zack, zack. Der kam durch sie sich entäußernde Richterin (Rosa Selle) deutlich zum Ausdruck.
Lektion zwei. Diktaturhafte Anweisung an die Zuschauer, ihre Stühle zur Seitenbühne zu rücken. Von Belarus nach Berlin sozusagen. Dort verheißt ein Kammergerichtsaal das Durchdrücken demokratischen Rechtsempfindens. Leider wird Richter Simon (Simon Sommer) von kafkaesken Privatsorgen geplagt. Der Verlust der aufgeflogenen Geliebten macht ihn Tag für Tag abhängig vom durchtriebenen Verzeihungsgrad der Ehefrau. Seine Ohren sind wahrlich verstopft wie die des Richters in Kafkas Prozess. Man hört nur das eigene Blut rauschen und bald schon rauscht er, dass es einen ratlos macht, auch ab. Zurück lässt er die aufrichtige aber mit dem Holzhammer demoralisierte Gerichtsassistentin Ezela (Esin Yildiz). Erfolglos in ihrem aufrichtig rechtsempfindsamen Drängen, der Richter möge doch im Fall Wasjug die neuesten Eingaben des „doch so netten“ Anwalts Heinz wahrnehmen – und der Richter so: Aber das macht doch Arbeit! – führt einem diese doch tatsächliche Szene die dunkle Seite unsere Demokratie vor Augen. Und wer sie erschuf.
Rrring-Rrring! Lektion drei. Die verstört und hilflos aber mit Willen und Mut kämpfende Ehefrau Dariya Wasjug (Laila Dörr) kontaktiert von Belarus aus die in Berlin lebende Dolmetscherin. Wir wissen es, Silvie braucht Daten. Die bekommt sie und legt los. Wunderbar. Leider heißt Engagement noch lange nicht Wissen.
Vierte Lektion. Belarus. Währenddessen beschnuppern sich der politische Generalmajor des Gerichts Konjuk (Christian Guethner) und der Staatsanwalt Stus (Martin Klefeld) ob der Glaubwürdigkeit des anderen Niedertracht. Und sie singen fast im Duett. Der Tisch muss stets gedeckt sein. Da ist noch Platz für Orden an der Jacke. Solche Stimmen laufen über Menschenköpfe.
Wieder die Vorleserin Katharina Goebel. Fünfte Lektion. Gegen die Blauäugigen. Haftbedingungen in Belarus. Zwei Waschbecken, eine Toilette für eine Kohorte in winziger Zelle. Fäulendes Essen. Prügel und Akkordarbeit. Kreischen. Knurren und Drohen. Wer will in Belarus davon hören? Wer will im Westen davon hören? Klar ist, man muss sich nicht an schlimme Dinge gewöhnen. Einmal artikelte Die ZEIT: Hier die schlechte Nachricht. Es geht uns gut. Immerhin 301 Suchergebnisse für »Lukaschenko«, aber nicht für Lukaschenko.
Rrring-Rrring! Sechste Lektion. Frau Wasjug fragt wieder nach. Es bewegt sich nichts. Ob sie denn nicht wissen, wie es in weißrussischen Gefängnissen zugeht? Wie kann eine so starke Demokratie gegen ein Binnenland mit Binnenwährung und Planwirtschaft nichts ausrichten? Silvie kämpft gegen ihre Verzweiflung. Heinz ist um ihre Fassung bemüht. Ab sofort soll sie ihn auf dem notwendigen Weg durch die Instanzen begleiten. Die Dolmetscherin traut sich‘s nicht zu, die Aktivistin nimmt das Angebot an.
Siebente Lektion. Bei vollständiger Kontrolle. Achtung! Zellenstock 54. Der Ewigkeitszug der Gewalt. Auftritt mit rüdem Befehlston die Aufseherin (Dr. Daniela Dilling). Ihr ausgeliefert: drei Häftlinge in einer Zelle. Der entrechtete Richter, der über das Internet angelockte Blogger Atjom, ein Jugendlicher, und der in Belarus lebende Engländer Simon. Es beginnt ein brutales Spiel verbaler Erniedrigung, die nach dem „Essenfassen“ in einer weiterhin verstärkten Essenseinnahme auf Befehl ihre klimatosende Herabsetzung erfährt. Solche Aufseherinnen gab es ebenso in einer anderen Diktatur. Da hießen sie Wachteln. Zuständig für einen Zellenflur. Da lärmt‘s wo. Bald Anmarsch einer internationale Kommission. Also ab. Zeit für die drei Häftlinge. Atjom‘s Überlebensstrategie, nichts ist Ernst, alles ist Lustig, dass es das nicht ist, kommentiert er dazu. Simon wurde mit genau der geringen Menge zum Wegbeamen erwischt, die von gewissen viralen Plattformen als lukrativer Kurierdienst angeboten wird. Einige sind wohl wirklich illegal, andere bekommen Prämien vom Staat. Tausende Jugendliche gingen bereits in die Falle und sichern oft sogar zweistellige Jahre, diese Strafmaße werden von den Richtern verlangt, der Volksproduktion von Belarus das Überleben. Einen Moment sprang dem entrechteten Richter aber eine Nadel ins Herz. Und jetzt sitzt er, wegen des zu milden Urteils, mit dem um Jahre Verschonten selbst ein, drängt sich auf.
Achte Lektion. Die Verbalnote. Und schon wieder liegt Silvie mit Heinz quer. Krachende Gegensätze sind ein Bild für die Götter. Hier zeigen sie, was unter Umständen einem – ohne Garantie – allein weiterhilft. Silvie könnte schreien. Das Antlitz der Empörung, wenn sie die Seiten der Gerichtsakten umschlägt und Heinz immer schriller daraus Passagen an den Kopf wirft, um so stoischer er versucht, ihr das bizarre Ping-Pong-Spiel zwischen Minsk und Berlin um Oleg Wasjugs Kopf sowie die einzige mögliche Hilfe juristisch zu erklären. Genauigkeit noch drei, vier Stellen nach dem Komma. 0,734 statt 0,724 Gramm Amphetamin. Auch die lauernden zwölf Jahre Haft werden von der Tatsache in den Schatten gestellt, dass Belarus als einziges Land in Europa nach der Geschichtswende 1989 die Todesstrafe noch vollzieht. Zwar kann die Todesstrafe nur verhängt werden, wenn Straftaten gegen den Staat oder Personen verübt wurden, aber wer weiß? Der Verdacht auf Willkürurteile wurde nicht nur vom Deutschlandfunk geäußert. Und jetzt kommt, ohne Garantie, die Verbalnote ins Spiel, bei der Höflichkeit und Korrektheit angesagt ist. Wobei inhaltlich natürlich weniger Nettes ausgetauscht wird, beispielsweise unterrichten sich Regierungen darüber, wie die eine über die andere denkt. Sowas. Kann man dabei einiges zusammen verharksen, lenkt der andere meistens ein. Willst du selbst anerkannt sein, darfst du dem anderen die Anerkennung nicht versagen. So schlimm der andere ist.
Neunte Lektion. Anwalt Heinz. Plädoyer über das zähe Ringen zwischen Anachronismus und Moderne. Und ein Appell an uns. Ans jederzeit Sein- oder Nichtsein-Publikum gewandt. Obs edler im Gemüt, die Pfeil und Schleudern des wütenden Geschicks ertragen und so. Oleg Wasjug ist hat vielleicht von seiner Moabiter Zelle aus herübergeschaut, wie sein Geschick versemmelt wird. Oder, mal weiter zitiert, sich wappnend gegen eine See von Plagen, durch Widerstand sie enden. Will sagen, Menschenrechte durchsetzen, durch Tausende wie Silvie – und einen wie Heinz.
Zehnte Lektion. Vereinte Nationen, NGOs, Rotes Kreuz (Susanna Quadt, Mia Keitel, Esin Yildiz, Maria Wesemann). Traten dazwischen auch auf und sorgten für Rummel. Sind Diplomaten Meinungsbildner, sind NGOs Stimmungslenker. Und wo die Mehrheit der moralischen Menschen ist, nicht der moralinsauren, geht’s in die Richtung. Aber nochmal Vorsicht. Auch eine internationale Kommission zur Sicherungsüberprüfung der Menschenrechte (Hygiene, medizinische Versorgung, Ernährung zuvorderst) besteht aus Menschen eben auch nur, die Blendwerk für die innere Bequemlichkeit durchaus akzeptable finden. Dem große Fressen, was in 54 vorgeführt wird, folgt nach Abzug der lästigen Überprüfung wieder der wutzitternde Wachtelschrei.
Großes Kino!
Quelle: https://www.tabularasamagazin.de/tag/dokumentatheater-berlin/ (Sichtung 21.10.2020)