Deutsche, ihr müsst wieder Abschreckung lernen!
Europa sollte geeint handeln. Und Deutschland muss verstehen, dass Diplomatie nicht alles ist. Mit Russland nur zu reden, hilft nicht weiter. Denn es will die EU und die Nato destabilisieren. Von Anne Applebaum
Und doch bin ich mir nicht sicher, ob alle Deutschen sich erinnern – oder erinnern wollen –, wie diese Kriege, die Gewalt und der Genozid letztlich zu einem Halt kamen.Hat Deutschland die Lektionen der Geschichte des 20. Jahrhunderts gelernt? Wenn ich darüber nachdenke, merke ich: Die Frage ist absurd. Es gibt kein Land, das mehr Denkmäler baute, mehr Bücher schrieb und mehr öffentlich und privat an seiner Rolle in den Kriegen, angesichts der Gewalt und des Völkermordes des 20. Jahrhunderts litt.
Der Zweite Weltkrieg wurde nicht dank Diplomatie beendet, und Hitler hat sich auch nicht aus Polen zurückgezogen, nachdem dies die Vereinten Nationen gefordert hätten. Genauso wenig wurde der Holocaust gestoppt, weil das Nazi-Regime dann doch von der Weisheit des Internationalen Rechts überzeugt wurde.
Nein, da muss man schon klar und deutlich sein: Hitlers Herrschaft brach zusammen, weil einige mächtige ausländische Armeen in Deutschland einmarschierten und die Wehrmacht besiegten. Mit Diplomatie hatte das nichts mehr zu tun.
Ostpolitik war gut, US-Raketen waren besser
Das gleiche gilt für den Kalten Krieg. Ich bin froh darüber, dass die Deutschen immer noch die Erfinder der Ostpolitik feiern, jene Männer, die still und leise hinter den Kulissen wirkten, um das Leben der Menschen in der östlichen Hälfte Deutschlands zu erleichtern oder anderen zur Flucht zu verhelfen.
Aber es war nicht die Ostpolitik, die in diesem ein halbes Jahrhundert geteilten Deutschland die Russen aus Westdeutschland und dem Rest Westeuropas zurückhielten. Nein, auch hier sage ich klar und deutlich: Die Rote Armee wurde durch eine große Anzahl amerikanischer Soldaten, Waffen, Panzer und Nuklearwaffen abgeschreckt. Mit Diplomatie hatte das auch nichts mehr zu tun.
Seither möchten Deutsche gerne glauben, dass die Welt sich verändert hat. Wie alle Europäer ziehen deutsche Politiker die Diplomatie der nuklearen Abschreckung vor.
Und die Deutschen sind in der Tat gut in Diplomatie: In der jüngsten Ukraine-Krise schickte Bundeskanzlerin Merkel diverse Unterhändler nach Kiew, sprach mehrmals telefonisch mit Putin, versuchte alles, die Krise friedlich zu beenden und die Russen zu überzeugen, innerhalb der Grenzen des internationalen Rechtssystems zu agieren. Unglücklicherweise scheiterte sie damit, aber nur, weil niemand hätte erfolgreich sein können.
Russland hat nicht der Gewalt abgeschworen
Denn die Wahrheit ist die: Auch wenn Deutschland der Gewalt abgeschworen hat, heißt das nicht, dass Russland selbiges getan hätte. Und nur weil die Deutschen sich an das Völkerrecht halten, muss der .Russe dies nicht tun.
Russland ist nicht nur am internationalen Recht nicht interessiert, Russland will es zerstören. Warumannektierte Putin die Krim, statt den Konflikt, so wie er es im Falle Abschasiens und Südossetiens tat, in einem Schwebezustand zu belassen?
Er tat so, weil er beweisen wollte, dass alle Regeln, nach denen Europa und besonders Deutschland in den letzten 60 Jahren lebten, nicht länger gelten. Er will das Vertrauen, das die Europäer in ihre Grenzen haben, destabilisieren. Er will, dass all die Pakte, Verträge und Vereinbarungen, die Europa nach 1945 und 1989 befriedeten, von uns selbst hinterfragt werden.
Er will auch alle Institutionen, die Europa nach 1945 und 1989 aufbaute, unterminieren. Besonders die Nato. Lange vor den Unruhen in der Ukraine haben russische Militärs die Staaten der Ostsee provoziert, um deren militärische Stärke zu testen.
Schröder und Berlusconi haben Putin geholfen
Letztes Frühjahr flog die russische Luftwaffe einen Scheinangriff gegen Schweden und kam der schwedischen Luftwaffe bei den Gotland Inseln sehr nah.
Finnland wurde mehr oder weniger unverschleiert gedroht, den baltischen Staaten entzog man Industriegeschäfte und ließ verlauten, man plane oder habe bereits Langstreckenwaffen an der westlichen Grenze installiert – mit Ziel: Deutschland. Sinn dieser Spiele und Manöver ist es, den Eindruck westlicher Schwäche zu erwecken. Selbiges geschah mit der Annexion der Krim.
Ist Europa uneins, dann wird es für ihn ein leichtes Spiel. Mit Geschäftsbeziehungen und politischen Allianzen wie zu Gerhard Schröder und Silvio Berlusconi ist ihm dies in den letzten Jahren recht gut gelungen.
60 Jahre Frieden und Wohlstand für Deutschland
Diplomatie kann auf diese massiven Angriffe nicht die Antwort sein. Nur als Ganzes kann Europa eine neue Energiepolitik entwickeln, die unsere Abhängigkeit von russischem Gas mindert.
Gesamteuropa kann auch Gesetze zum freien Handel erlassen, die Putins Politik des punktuellen Boykotts verhindern. Und natürlich kann Europa Antikorruptionsgesetze auf den Weg bringen und verhindern, dass russisches Geld und problematisches Geschäftsgebaren Europas Finanzinstitutionen aushöhlen.
Aber weitaus wichtiger ist, dass Europa die Nato wiedererstarken lässt, damit diese ihre Truppen an die östlichen Grenzen stellt, um Putin davon abzuhalten, nach der Ukraine auch noch das Baltikum, Polen, Rumänien und andere Länder zu destabilisieren.
Alle europäischen Institutionen haben Deutschland in den letzten 60 Jahren Frieden und außergewöhnlichen Wohlstand gebracht. Will Deutschland dies alles verteidigen, braucht es nun doch mehr als nur Diplomatie.
Aus dem Englischen von Andrea Seibel.