Über
Appeasement und Desinformation
Ist
„Peace of our time“ unsere Zivilisationsformel?
Anmerkungen
zu Greta Kuckhoff und der „Roten Kapelle“
Ein
Rückblick auf 1938 und die Folgen
von
Axel
Reitel
für
Ule und Maria Mägdefrau
„Revived
bitterness
is
unnecessary unless
one
is ignorant“.
Aus
dem Gedicht „The past is the present“
von
Marianne Moore (1887–1972)
„Können
wir unseren Mitmenschen vertrauen?“ Teilnehmer einer seit 1981
bislang sechsmal durchgeführten internationalen Studie geben mit der
Beantwortung dieser Frage, die Stadt und Land, Regierung und Straße
einschließt, einerseits ein alarmierendes und andererseits ein
hoffnungsvolles Zeichen. Demnach hat, abgesehen von erfreulichen
Ausnahmen, in den meisten Ländern das Vertrauen in die Mitmenschen
abgenommen. Ich lese diesen Artikel, erschienen Anfang Oktober 2018
in der „Neuen Zürcher Zeitung“, am selben Tag, an dem ich diese
Anmerkungen zur „Roten Kapelle“ abschließe.
Als
ich im Februar 1979 im Windschatten meines Jugendfreundes Ule dessen
Oma am Leninplatz in Ost-Berlin besuche, hatte ich ihr als
„Lebensbericht“ untertiteltes Buch „Vom Rosenkranz zur Roten
Kapelle“ bereits gelesen. Die 1902 geborene, weißhaarige
freundliche Dame war die hervorstechende Persönlichkeit der
Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“. Greta Kuckhoff war elegant
gekleidet in mausgrauer Nadelcordhose, seidener Blümchenbluse und
türkiser Wollstrickjacke. Wir tranken Tee im Wintergarten. Vor dem
Fenster erhob sich das tonnenschwere Lenin-Denkmal, dessen Kopf
zweieinhalb Jahrzehnte später als Epiphanie im Film „Good Bye,
Lenin!“ erstaunt.
„Ohne
Vertrauen hätten wir es nie zu diesem Zusammenhalt geschafft.“
„Ohne Vertrauen ist das ganze Leben nichts wert.“ Wurden diese
Sätze in unserem kurzen Gespräch vor bald vierzig Jahren wirklich
ausgesprochen? Als ich vor kurzem, auf Ules Anraten, den Nachlass
seiner Großmutter im Bundesarchiv in Berlin-Lichterfelde sichtete,
kommt es mir immer wieder so vor, als seien diese beiden Kernsätze
tatsächlich gefallen. Umso mehr, als ich nach und nach verstehe, wie
deutlich sich im Jahr 1938 eine der größten Katastrophen des 20.
Jahrhunderts abzeichnete, deren vorbereitete Verhinderung aber dennoch
kurz bevorstand.
Das
Jahr 1938 als Wegscheide
Mit
der Unterzeichnung des Münchner Abkommens in der Nacht vom 29. auf
den 30. September 1938 besiegelten Deutschland, Italien, Frankreich
und Großbritannien nicht nur das Ende der ersten
Tschechoslowakischen Republik. Die Unterzeichner Adolf Hitler,
Benito Mussolini, Édouard Daladier und Neville Chamberlain legten
dort ebenfalls fest, dass die Tschechoslowakei binnen einer Frist von
zehn Tagen das Sudetenland zu räumen und an das Deutsche Reich
abzutreten habe.
An
der Konferenz teilnehmen durften weder die Tschechoslowakei selbst
noch die mit ihr verbündete Sowjetunion. Die reichsdeutsche
Außenpolitik wusste das Mittel einer fragwürdigen „pax
germanica“, bei gleichzeitiger Kriegsandrohung im Falle der
Nichtunterzeichnung, erfolgreich einzusetzen. Dem italienischen
Diktator Mussolini, Moderator des Abkommens, waren die Absichten zur
Zerstörung der Tschechoslowakei bereits vor dem 29. September 1938
bekannt. Hitlers Pläne sahen bis zum Treffen in München vor, die
Tschechoslowakei in einem gemeinsamen Feldzug gegen Ungarn und Polen
zu überfallen.
Den
notwendigen Freiraum sollte eine Stärkung der revisionistischen
Kräfte in diesen Staaten und eine Ablenkungstaktik gegenüber den
Garantiemächten eröffnen. Dass Hitler dabei mit verdeckten Karten
spielte, demonstrierte sein Verhalten während eines Gesprächs am
15. September 1938 auf dem Obersalzberg: Hitler verweigerte dem
britischen Premierminister die Übergabe des Protokolls. Stattdessen
erhielt Chamberlain eine gekürzte Fassung, aus der alle
kompromittierenden und bewussten
Falsch Darstellungen heraus retuschiert wurden.
Die
bei den Verhandlungen eintreffende Nachricht von der Mobilmachung der
tschechoslowakischen Truppen war inszenierter Theaterdonner, der
dennoch einen Wendepunkt markierte. Den fehlenden
„Zwischenkieferknochen“ in der Geschichte Hitlerdeutschlands
liefert General Dr. Hans Emil Speidel in seinem 1949 erschienenen
Buch "Invasion 1944". Es ist die durch gewichtige Indizien
gestützte These, dass die NS-Diktatur nach fünf Jahren hätte
beendet werden können und Hitler in jenen Tagen zu stoppen gewesen
wäre. Dem gegenüber stand zunächst einmal der Nebel eines Wahns,
der auf weitem Feld bloße Phantasiebilder als objektive Tatbestände
erscheinen ließ. „Der düsteren politischen Lage entsprach die
militärische […] Hitler und Goebbels nutzten massenpsychologische
Momente geschickt aus und erstrebten den ‚revolutionären
Militarismus‘. Das Ergebnis, daß ein Teil der Offiziere, berauscht
von napoleonischen Wunschträumen, ‚Funktionäre‘ wurden [...]“,
schreibt Speidel in der Invasion 1944.
Dabei
räumt er ein, dass sämtlich alle militärischen Führer und
Persönlichkeiten „Kinder ihrer Zeit“ waren, die „nicht alles
sahen, was sie erkennen mußten“. Das ist wahr und ging doch auch
anders, wie wir am Beispiel von Greta Kuckhoff und ihren Mitstreitern
sehen können. Andererseits beschreibt Speidel in seinem Buch eine
Bewegung innerhalb der Wehrmacht unter Generaloberst Ludwig Beck, die
besonders im Jahr 1938 erfolglos versuchte, dem „zum äußersten
entschlossenen Staatsoberhaupt Einhalt zu gebieten“. Die
Armeestruktur unter Beck wollte den Führer nach seiner Rückkehr
aus München verhaften. Doch eben dazu sollte es nicht kommen. Im
Fazit von Speidel heißt es: „Der außenpolitische Erfolg Hitlers
in München, zu dem ihm die Alliierten verholfen hatten, schlug Beck
und seinem Nachfolger Halder die Waffen aus der Hand.“
Appeasement
und Desinformation
Die
als Sprachlehrerin und Übersetzerin tätige Greta Kuckhoff reiste im
Sommer 1938, beauftragt von der Gruppe Harnack-Boysen, nach London.
Sie sollte gegen das Münchner Abkommen agitieren und mächtige
Verbündete finden. Auch dieser Versuch scheiterte. Die
Beschwichtigungspolitik (Appeasement) dominierte auf der Insel und
verhinderte eine ausreichende Bereitschaft zum Widerspruch gegen das
nationalsozialistische Deutschland. Die massenwirksame Erklärung des
Premierministers Chamberlain, die er am 30. September 1938, dem Tag
der Unterzeichnung, vom Balkon des Buckingham Palastes an die
britische Nation richtete, enthielt das berühmte Credo „Peace for
our Time“, das sich nur ein Jahr später als schlimmer Irrtum
herausstellte.
Wie
weitreichend und erfolgreich Hitlers Desinformatoren die Welt in Atem
hielten, belegt das brachiale Scheitern des sowjetischen
Volkskommissars für Staatssicherheit, Wsewolod Nikolajewitsch
Merkulow. Als Merkulow Stalin am 17. Juni 1941 „einen alarmierenden
Vermerk“ vorlegt „über Vorbereitungen Deutschlands für einen
Krieg gegen die Sowjetunion“, erhält er eine Abfuhr. Stalin hält
den echten Informanten für einen Desinformator. Fünf Tage später
erfährt er die Tragik seines Fehlschlusses. Am 22. Juni 1941 griffen
deutsche Truppen die Sowjetunion an.
Der
von Stalin geschmähte Informant war Harro Schulze-Boysen, ein
Offizier im Reichsluftfahrtministerium. Er wusste wie wenige andere
von dem bevorstehenden Einmarsch und beschloss, gemeinsam mit anderen
deutschen Widerständlern, die sowjetische Seite zu warnen. Kuckhoffs
knappe Bemerkung in ihrer memorierenden Erzählung „‚Ules Welt‘“,
während des kurzen Besuches in London habe ihr Walt Disneys
„Schneewittchen“ „ein funkelnagelneues Kinderherz neben das
versorgte und grämende in die Brust gezaubert“, ist dabei von
einiger Bedeutung (BArch N 2506/198 Bl. 145). Bei ihrer Rückkehr
wird sie von Arvid Harnack, einem Kopf der Gruppe, gerügt, denn sie
hätte mit ihrem Kinobesuch nur wichtige Zeit für die Agitation
verschwendet.
Harnack war
ein an der US-amerikanischen Universität Wisconsin in Madison
ausgebildeter Nationalökonom und Vetter des Berliner Pfarrers
Dietrich Bonhoeffer. Seine Ehefrau, Mildred Fish, war gebürtige
US-Amerikanerin und studierte Literaturwissenschaftlerin. Greta
Kuckhoff besuchte, noch unter ihrem Geburtsnamen Margaretha Lorke,
ebenfalls die Universität in Madison, wo sie ihr 1924 an der
Berliner Humboldt-Universität begonnenes und in Würzburg
fortgesetztes Studium der Philosophie, Soziologie und Ökonomie im
Jahr 1929 abschloss. Mildred und Arvid Harnack lernte sie im freitags
tagenden „Friday Niters Club“ kennen.
Die
Jahre 1930 bis 1932 lebte Kuckhoff in Zürich und arbeitete sowohl
für einen Rechtsanwalt als auch als freischaffende Sprachtrainerin
und Übersetzerin im Bereich Wirtschaftsrecht. Zurück in
Deutschland wurde sie Sekretärin des Soziologen Karl Mannheim am
Institut für Sozialforschung in Frankfurt am Main. Danach studierte
sie kurzzeitig an der London School of Economics. Hauptsächlich aber
bereitete sie die Flucht Mannheims vor, dessen Institut von den Nazis
bereits im März 1933 geschlossen wurde. Im selben Jahr lernte sie
den Schriftsteller Adam Kuckhoff kennen, sie heiraten am 28. August
1933. Ihr Sohn Ule wurde am 8. Januar 1938 geboren. Auch sein Sohn,
mein späterer Jugendfreund, wird einmal Ule heißen.
Foto:
Greta Lorke in Zürich, 1932. Im
Jahr 1937 heiratete sie den Schriftsteller Adam
Kuckhoff (1887– 1943). Quelle:
Gedenkstätte Deutscher Widerstand, Berlin.
„Mein
Kampf“ zur Aufklärung übersetzen
In
ihrem Memoiren-Roman „Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle“ schildert
Gretas Mann Adam in einer Passage, was entgegen der Rüge Harnacks
steht und warum er „Dichter geworden“ ist. Der nämlich irrt
sich, „der denkt, wenn wir erst den Kommunismus haben, kommt das
Gefühl für ewige Werte, für Schönheit nicht nur in der Natur, vor
allem in den menschlichen Beziehungen, von selbst. Nichts kommt von
selbst.“
Die
„Rote Kapelle“ setzte sich aus ganz verschiedenen beruflichen
Gruppen zusammen. Am Glauben an Literatur und Kunst halten Greta und
Adam Kuckhoff auch in ihren Gefängnisbriefen, kurz vor den sicheren
Todesurteilen, fest. In jenem „elitären Zirkel aus Kunst,
Wissenschaft und Verwaltung“, der das Dritte Reich stürzen und
Opfern der Verfolgung helfen will, gerät sie ohne Zweifel durch
ihren Ehemann Adam. Aus Sicht des NS-Terrorregimes ist der Kreis
lediglich ein Spionagering, den Leopold Trepper, ein polnischer Jude
und Kommunist, Widerstandskämpfer und Publizist, im Auftrag des
sowjetischen militärischen Nachrichtendienstes (GRU) aufgebaut hat.
Es ist folglich auch die Geheime Staatspolizei (Gestapo), die der
Widerstandsgruppe den Namen „Rote Kapelle“ verpasst. Rot für die
Farbe des Kommunismus. Kapelle als interne Bezeichnung für eine
Gruppe von Funkern.
Zu
diesem Ring gehören neben den Harnacks der Publizist Harro Schulze-
Boysen und seine extravagante Frau Libertas sowie Sophie und John
Sieg, ein in Detroit geborener Sohn deutscher Einwanderer, der sich
in den 1920er Jahren in Deutschland niederließ und
schriftstellerisch aktiv war. Im Jahr 1933 wurde er als KPD-Mitglied
für mehrere Monate von der Sturmabteilung (SA) gequält und
festgehalten. Sie alle trafen in Berlin immer wieder zusammen: das
intellektuelle Paar, das Paar der feinen Gesellschaft, das Pärchen
des Proletariats, das Paar der Häuslichkeit. Herausragend ist an der
Gruppe, dass Männer und Frauen gleichstark in die Sache des
Widerstandes einbezogen sind. Zu ihren Unterstützern gehört der
Schriftsteller und Widerständler Günter Weisenborn. Als die Gruppe
während des Krieges auffliegt, geschieht das nicht durch Verrat oder
Wagemut, sondern aufgrund der Unbedachtheit und Inkompetenz der
Geheimdienstler in Moskau, die Namen und Adressen einiger Berliner
Mitglieder in einem Funkspruch erwähnen.
Äußerlich
war die Vernetzung des Zirkels mit auswärtigen und inländischen
Widerstandsgruppen durch einwandfreie Anstellungen in diversen
Reichsministerien getarnt. So erhielt Greta Kuckhoff über
Schulze-Boysen eine freiberufliche Stelle im Reichsministerium für
öffentliche Aufklärung und Propaganda. Ihre Aufträge beinhalten
das Übersetzen von Kongressreden, aber auch von Artikeln über die
Rassenpolitik der NSDAP.
Das
Jahr 1939 beginnt sie in der Hoffnung, die britische Öffentlichkeit
über die wahren Absichten Hitlers mit einer selbstständigen
Übersetzung von "Mein Kampf" aufzuklären. Erschrocken ist
sie vor allem durch die inszenierte Täuschung von Hitlers
Desinformationsbüros in Großbritannien. Als ihr eine andere
englische Übersetzung im März 1939 zuvorkommt, führt dies in
London zu einer denkwürdigen Auseinandersetzung über den Charakter
des Nationalsozialismus zwischen dem sowjetischen Botschafter Iwan
Michailowitsch Maiski und dem Mitglied des britischen Unterhauses und
früheren Premierministers David Lloyd George. In der Debatte mit
Maiski verteidigt Lloyd George zunächst den deutschen Reichskanzler
vehement.
Die
vom Londoner Verlag Hurst & Blackett herausgegebene Übersetzung,
für die Hitler selbst das Vorwort schrieb, enthielt allerdings nur
ein Siebtel der Originalfassung und wies nirgends auf die Art der
Auslassungen hin. Maiski, der das Original kannte, betonte im
Streitgespräch die innewohnende Aggressivität des Buches als eine
„Bibel des Nazismus“. Hitlers erklärtes Ziel sei die
Zerschlagung und Unterwerfung Frankreichs und die Eroberung von
sogenanntem Lebensraum im Osten: in Polen, im Baltikum, in der UdSSR
und vor allem in der Ukraine.
Foto:
Das 1972 publizierte Erinnerungsbuch von
Greta Kuckhoff (1902–1981) erlebte in der
DDR mehrere Auflagen, erschienen im Verlag
Neues Leben. Quelle: GWS-Archiv
Lloyd
George hielt die Kritik für ungerechtfertigt und „hitlerfeindliche
Propaganda“. Maiski schickte Lloyd George nach der Unterredung eine
neu angefertigte Übersetzung der vorenthaltenen Buchteile. Dieser
zeigte sich aber weniger von den Auslassungen erschüttert als
vielmehr von der Tatsache, dass dem englischen Leser viele Kapitel
unterschlagen wurden, wie im Kuckhoff-Nachlass nachzulesen ist.
(BArch N 2506/132 Bl. 45 f.) Nach Greta Kuckhoffs eigenen Bekundungen
arbeitete sie wochenlang gemeinsam mit dem englischen Übersetzer
James Murphy an einer vollständigen Edition von Mein Kampf. Als Ende
1939 in den USA eine „unbereingte“ Ausgabe erschien, erfährt sie
nicht, wie sie in der „Kapelle“ schreibt, ob ihre Arbeit
ebenfalls „eingeflossen“ ist. Am 12. September 1942 wurde sie in
Berlin durch die Gestapo verhaftet. Was wäre gewesen, wenn ...
Wir
können uns dem Jahr 1938 nur kontrafaktisch, entgegen der
historischen Tatsachen, annähern. Mit der Einlassung General
Speidels, dem verhängnisvollen Treiben Hitlers nach dessen Rückkehr
von der Münchner Konferenz durch Verhaftung ein Ende zu machen, wird
das Verhängnis der diplomatisch beschlossenen Beschwichtigung
gegenüber dem aggressiven Diktator überdeutlich. Die
Widerstandsgruppe „Rote Kapelle“ war eine umsichtige und sich
solidarisch mit anderen Gruppen verhaltende antitotalitäre
Organisation. Das in der DDR verzerrte Bild einer rein
kommunistischen Spionagegruppe färbte sich auf die Rezeption in der
Bundesrepublik ab.
Die
vielfältigen Berichte über die letzten Stunden der zum Tode
Verurteilten stellen die anfangs aufgeworfenen Vertrauensfragen neu.
Adam und Greta Kuckhoff werden vom Volksgerichtshof zum Tode
verurteilt. Adam wird, wie viele Mitglieder der „Roten Kapelle“,
im Gefängnis Berlin-Plötzensee hingerichtet, Gretas Todesurteil in
eine zehnjährige Zuchthausstrafe umgewandelt. Der Briefwechsel der
Eheleute wird bis zum Tod Adams zur Brücke über dem Abgrund, den
die Machthaber aufgerissen haben.
Greta
Kuckhoff notiert in ihren nachgelassenen Erinnerungen: „Am 23.
August 1943 teilte mir Pfarrer Ohm mit, daß Adam und 11 unserer
Frauen am 5. August in Plötzensee hingerichtet worden seien. Ich
erwartete nun, daß ich, die einzig Überlebende der mir bekannten
Mitglieder der „Roten Kapelle“, den Weg nach Plötzensee in den
nächsten Tagen würde antreten müssen. Das gleiche dachten sowohl
meine zu Freiheitsstrafen verurteilten Kameradinnen wie der
Geistliche und das Gefängnispersonal einschließlich der Leiterin.
Ich
erhielt die Genehmigung, in einer Einzelzelle während des Tages
meine grundsätzlichen Gedanken, die Erziehung Ules betreffend,
niederzuschreiben. Es tat mir wohl, allein sein zu dürfen. Die
Niederschrift selbst wurde jedoch nicht vollendet, da die Entwicklung
in jenen Wochen so unsicher war, daß sie keine feste Grundlage für
meine Erziehungsgedanken bot.“ (BArch N 2506/198 Bl. 102) Im Winter
1943 geht Greta Kuckhoff auf „Transport“ in das Frauenzuchthaus
Cottbus. Sie bleibt dort bis zum Herbst 1944 und kommt danach in das
Zuchthaus Waldheim, wo sie im Mai 1945 von der Sowjetarmee befreit
wird.
Intrige,
Wandlitz, Stolperstein
Nach
Kriegsende wirkte Kuckhoff in verschiedenen Funktionen und Gremien.
Im Oktober 1947 sprach sie auf dem 1. Deutschen
Schriftstellerkongress in Berlin. Von 1954 bis 1958 war sie
Abgeordnete der Volkskammer, von 1950 bis 1958 Präsidentin der
Deutschen Notenbank (DNB). Hier wurde sie offensichtlich Opfer einer
Intrige. Als die Bürger der DDR am Sonntag, dem 13. Oktober 1957,
via Radiosender vom Ministerpräsident der DDR, Otto Grotewohl,
aufgefordert wurden, dass sie noch am selben Tag, zwischen 12 und 22
Uhr, die alten Banknoten der Deutschen Mark bei den Umtauschstellen
der Deutschen Notenbank abzugeben hätten und neue Banknoten erhalten
würden, wird Kuckhoff als Präsidentin der Notenbank davon
überrascht. Sie war in den Währungsumtausch nicht einbezogen,
dennoch muss sie den „Währungscoup“ vor der Presse inhaltlich
vertreten. Politisch überlebte sie den Vorgang nicht. Im April 1958
trat sie als Präsidentin der DNB zurück. Im Nachlass findet sich
ihr persönlicher Blick auf Hintergründe: „Der Deutschen Notenbank
wird der Vorwurf gemacht, daß sie sich über die Regierung stellt
oder zumindest möglichst unabhängig von ihr – und damit auch von
den Parteibeschlüssen – gestellt sein möchte. Die alten
kapitalistischen Reichsbankallüren versucht man aufrecht zu
erhalten.
Ich
habe Gründe anzunehmen, daß die Hauptargumente zu dieser Meinung
von den Genossen des Ministeriums der Finanzen stammen.“ (BArch, N
2506/267, Bl. 281) Nach der politisch motivierten Entbindung aus
dieser Position engagierte sie sich im von der SED gesteuerten
Friedensrat der DDR – ab 1964 als dessen Vizepräsidentin und
zugleich als Mitglied im Weltfriedensrat.
Greta
Kuckhoff heiratet nicht wieder. Ab 1946 lebt sie in eheähnlicher
Beziehung mit Margarete „Grete“ Wittkowski. Diese bestritt
mehrere hohe Staatsämter, unter anderem als stellvertretende
Vorsitzende des Ministerrats, zuständig für den Bereich Handel,
Versorgung und Konsumgüterproduktion sowie als Stellvertreterin des
Vorsitzenden Otto Grotewohl. 1968 folgte Wittkowski ihrer
Lebensgefährtin auf den Stuhl als Präsidentin der Notenbank. Im
Jahr 1972 erschien "Vom Rosenkranz zur Roten Kapelle",
nicht ohne Eingriffe der Zensur. Ein geplantes zweites
Erinnerungsbuch, das Kuckhoffs Leben nach 1945 behandeln sollte, kam
nicht zustande. Auch eine Residenz in der abgeschotteten Waldsiedlung
Wandlitz erhielt Greta Kuckhoff nicht, sondern eine Wohnung am
abgelegenen Rande vor dem "Wandlitzer Ghetto" (Wolf Biermann).
2009
erschien mit "Red Orchestra. The Story of the Berlin Underground
and the Circle of Friends Who Resisted Hitler" ein neues
Standardwerk der US-amerikanischen Journalistin Anne Nelson über die
„Rote Kapelle“, 2010 auch in deutscher Übersetzung. Die
britische Kulturwissenschaftlerin Joanne Sayner widmete Kuckhoff eine
erste umfangreiche Einzelstudie mit dem 2013 publizierten Buch
"Reframing Antifascism. Memory, Genre and the Life Writings of
Greta Kuckhoff". Im Mai 2012 verlegte der Künstler Gunter
Demnig einen Stolperstein im Gedenken an Greta Kuckhoff in ihrer
Geburtsstadt Frankfurt (Oder).
Foto:
Premiere des DEFA-Films „KLK an PTX – Die Rote Kapelle“ im
Ostberliner Filmtheater „Kosmos“, 25. März 1971. Greta Kuckhoff
(M.) bei dem Besuch einer kleinen Ausstellung mit persönlichen
Gegenständen von antifaschistischen Widerstandskämpfern im Foyer
des Kinos. Neben ihr die Schauspielerin Barbara Adolph (li.), die sie
im Film verkörpert, und der Minister für Staatssicherheit Erich
Mielke (re.), dessen Ministerium für den Film „Produktionshilfe“
leistete.
Quelle:
Gerbergasse 18 / Ausgabe 4 / 2018: 32-35.