Montag, 28. Juli 2025

PS: "halluzinatorisch" oder "halluzinativ". Nach Erscheinen der Rezension "Von hoher Fertigkeit und halluzinativer Kraft". Kommentar von Facebook




 Nach dem Erscheinen der Rezension über "Hubertus Giebe. Mit der Hand gezeichnet": 'Von hoher Fertigkeit und halluzinativer Kraft', begann eine Diskussion, die davon ausging, dass es im Deutschen nur das Adjektiv "halluzinatorisch" gibt und "halluzinativ" eben nicht. Ich bevorzugte die, die den deutschen Philosophen Gernot Böhme ins

Feld führten, der sich recht viel mit Ästhetik, Atmosphäre und Wahrnehmung beschäftigt hat und in seinem Werk „Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik“ schreibt:

„Die halluzinative Kraft der Bilder besteht darin, dass sie nicht nur etwas zeigen, sondern eine Welt erzeugen. Sie entführen den Betrachter aus der Realität und versetzen ihn in eine andere Sphäre der Wahrnehmung.“


Mein Name sei BIN. Über Lutz Rathenows neuen Lyrikband „Früher ist morgen“

 

Mein Name sei BIN Über Lutz Rathenows neuen Lyrikband „Früher ist morgen“


Ausschnitt vom Buchcover 




Mit seinem neuen Werk „Früher ist morgen“ legt der Bürgerrechtler, Schriftsteller und Lyriker Lutz Rathenow einen aktuell greifenden Gedichtband über das Erinnern, das Verstören, das Misstrauen vor.

Wie von ihm gewohnt verbindet Lutz Rathenow das Private mit dem Politischen und das Sprachkritische mit dem Menschlichen. Er erkennt feinnervig die rhetorischen Hohlräume der Systeme – ob Sozialismus oder neoliberaler Alltag – und füllt sie mit Literatur, die nach dem großen Weltalltag klingt. Sein Stil ist zugänglich, aber nicht simpel. Die Gedichte sind, ohne Redundanz, eher Miniaturen der Ambivalenz: tastend, lakonisch, ironisch, gelegentlich zärtlich. In jeden der fünf Kapitel spüren, man: Hier schreibt ein Mensch, der weiß, wie verletzlich Sprache ist – und wie viel Widerstand sie dennoch leisten kann.

Doch er im Verlag Ralf Liebe mit viele Liebe und Können gestaltete Band steht ganz in dieser Tradition – und geht noch einen Schritt weiter.

„Ich fordere auf, mir zu misstrauen.“ Kaum ein anderer Satz in diesem Band könnte den Ton dieser Sammlung besser einfangenEine Sammlung gegen Linearität

Die 111 Gedichte – entstanden zwischen 1971 und 2024 – sind denn auch kein Rückblick im klassischen Sinn. Sie bilden ein poetisches Langzeitprotokoll, das sich der Autobiografie ebenso entzieht wie der ästhetischen

Glättung. Rathenow stellt sich nicht aus – er geht durch sich hindurch. Die Gedichte sind „Bruchstellen, Blickwinkel, irritierende Zäsuren“, wie er selbst sie nennt.

Der Titel „Früher ist morgen“ ist dabei mehr als ein sprachliches Paradox – er ist poetologisches Programm. Erinnerung wird nicht bewahrt, sondern aktualisiert. Was einmal war, wirkt weiter – nicht als feste Figur, sondern als flüchtige Stimmung. So ist Vergangenheit im Rathenows Kosmos keine Chronologie, sondern eine Bewegungsform. Manchmal erratisch, fragmentarisch, aber unverkennbar ist die fast flüchtige Ironie als Sprachwiderstand und als Lutz Rathenows literarische Haltung

Viele der Gedichte sind kurz – manchmal nur zwei, drei Zeilen –, aber sie eröffnen Räume. „Placebogedicht“ seziert das öffentliche Vokabular der Gegenwart, „Falttag“ verwandelt den DDR-Wahlakt in einen sprachkritischen Witz, „Tattoolyrik“ tanzt zwischen Kindergedicht und 68er-Utopie, „Graitschen, bei Jena“ baut aus Abriss eine Erinnerungsinstallation an sich selbst untergegangener Schreckenszeiten.

Eindrucksvoll ist Rathenows Umgang mit Nähe: „Der Vater, Abschied“ ist eine zärtliche Bewegung durch das Glas von den Frontscheiben der Automobile seines Vaters – kein pathetisches Gedicht, sondern eine tastende Erinnerung.

Und dann kommt mit „Divers“ ein scheinbar leichtes, fast reimendes Gedicht über Identität und Bewegung daher, wirkt der letzte Vers programmatisch: „Als BIN kann ich überall hin.“

Das Hilfsverb „bin“ wird substantiviert. Identität wird transitiv. Der Titel der Rezension – Mein Name sei BIN – speist sich genau aus dieser poetischen Bewegung: Identität ist nicht fixiert, sondern unterwegs.

Sprache ist nicht Antwort, sondern Frage.

Zwischen Weltbeobachtung und Innenblick

Die fünf Kapitel des Bandes gliedern sich wie poetische Landschaften. In die „Die Welt berühren“ überwiegen Kindheitsbilder, Zugfahrten, Sprachkritik. in „Tauschen wir die Geheimnisse wie früher die kleinen Bilder“ haben wir es mit Erinnerungen, politische Miniaturen, literarische Selbstreflexion zu tun. In „Erwachsen genug, Kind zu sein?“ geht es um Reimspiele, absurde Dialoge, und sagen wir, Identitätssplitter.

„Gezwitscher Getöse Gelächter“ wirft Jena, Thüringen, die DDR und überhaupt das System auf den „Brater“. Im Schlusskapitel „Die Texte laufen in verschiedene Richtungen davon…“, gibt es eigentlich keinen Punkt,

Schlussstrich oder Schlussakkord. Es wohl Abschiedstexte, Selbstgespräche, sogar Sprachfluchten, ließe sich sagen. Und ist das letzte Gedicht „Früher ist morgen und heute scheint weg“ auch wie eine poetische Schlussfuge, blendet sich der Text nicht aus und zieht sich etwa ins Schweigen zurück. Und das ist überhaupt ein Merkmal dieses Buches, dass sich seine Sprache mitunter zurückzieht, aber nie ins Schweigen kippt. Sie flüstert weiter, bricht einen Ast, wispert, beobachtet oder knackt mit den Knochen, wie buchstäblichdas Titel verrät, wenn es zunächst behauptet: „Ich kann mit meinem Rücken knacken, er verrät Botschaften über den Zustand der Wirbelsäule.“ Schauen wir es uns zum Schluss an:

Früher ist morgen und heute scheint weg

Ich kann mit der Stille einer Wohnung spielen,

sortiere die Geheimnisse der Blätterstapel neu.

Ich kann mit meinem Rücken knacken, er verrät

Botschaften über den Zustand der Wirbelsäule.

Jenseits des Fensters ein Stummfilm, das Summen

einer Welt, die ihre Laute nicht verschleudert.

Ich kann, was ich kann: ein Geheimnis behalten,

für mich. Bis es allmählich der Körper vergiss.

Der Verlag Ralf Liebe hat mit dieser Ausgabe zudem ein bibliophiles Objekt geschaffen: Leineneinband, Holzschnitte, nummerierte Auflage – Literatur als Materialkunst. Die Holzschnitte von Katja Zwirnmann sind grafische Echokammern, die mit Lutz Rathenows Textstruktur korrespondieren.

Holzschnitt von Katja Zwirnmann 
auf Seite 75

Lutz Rathenow, früher ist morgen. Einhundertelf Gedichte, 10 Holzschnitte von Katja Zwirnmann, Weilerswist, Verlag Ralf Liebe, 2025. 25, – €

Quelle: Mein Name sei BIN Über Lutz Rathenows neuen Lyrikband „Früher ist morgen“ (28.07.2025)

Von hoher Fertigkeit und halluzinativer Kraft. Hubertus Giebes neues Buch "Mit der Hand gezeichnet“

 

Von hoher Fertigkeit und halluzinativer Kraft

„Hubertus Giebe. Mit der Hand gezeichnet“

Von Axel Reitel


Zeichnungen begeisterten den Rezensenten schon früh – als junger Betrachter von Schadow, Dürer, Leu, Menzel. Als Student der Kunstwissenschaft teilte er diese Leidenschaft weiterhin. Doch nicht nur mit kunsthistorischer Perspektive, sondern auch mit jahrzehntelanger Bewunderung blickt er auf das Werk von Hubertus Giebe, Maler und Zeichner.

Ein Katalog seiner „Geschichtsbilder“, entdeckt 1990 in der Wendezeit, beeindruckte nachhaltig. Die Stimme des erfahrenen Galerienbesuchers sagte ihm: „Das hier ist einer der bedeutendsten Künstler unserer Zeit.“ Giebes Engagement für die friedliche Revolution 1989 in Dresden vertiefte dieses Interesse.

Erstmals begegnete der Rezensent dem Künstler 1992 bei einer Ausstellungsfeier in Dresden. 1996 entstand mit „Liebe Anarchie“ ein gemeinsamer Band mit Lyrik und Grafik. 1998 folgte mit „Paris, Paris“, 15 Gedichten zu 15 Gemälden, eine reizvolle Nuance in einem Werk, das mit seiner Produktivkraft ganze Museen füllen könnte.

Jedes Bild trägt Farben und den „Sog“ unserer Epoche(n) – ihrer Ereignisse und Ideen, die uns formen.

Christoph Tannert bringt es im einleitenden Essay Zeichnen ohne Schlussstrich treffend auf den Punkt: „Bis in die unmittelbare Gegenwart verdient Giebe seine Autorität durch künstlerische Potenz und Bildwerke, die in unterschiedlichen philosophischen Traditionen begründet sind.“

Die viereinhalbseitige Einführung trifft auch stilistisch den Nerv unserer Zeit: präzise, knapp, pointiert – wie eine Liste ohne Ballast, aber mit Substanz.

Die Zeichnungen im Band zeugen von hoher Fertigkeit und halluzinativer Kraft. Eine Prägnanz wie bei Albrecht Dürer und eine expressive Kraft wie bei Max Beckmann. Doch ist alles vollkommen eigen.

Ein Ankauf durch das Metropolitan Museum in New York fände der Rezensent wünschenswert. Im Januar 2001 stellte er im MoMA, Zeichnungen von Giebe gedanklich neben Beckmanns „Argonauten“. Giebes „Bildnis von Frau Günther“ von 2000 – eines seiner herausragenden Porträts – neben „The Old Actress“ von 1926.


Bildnis von Frau Günther
Foto: Döring, Dresden

2026 will der Rezensent da MoMA wieder besuchen.

Wird man dort Giebe sehen?

Der Band Mit der Hand gezeichnet richtet sich an Freunde der Zeichenkunst, Kunststudierende und alle, die der schönen Kunst verbunden sind.

Hubertus Giebe. Mit der Hand gezeichnet Gebundene Ausgabe Zwiebook (salomo Publishing) 01. Juli 2025, 148 Seiten, 28 Euro. ISBN-13:  ‎978-3943451535


Quelle: Von hoher Fertigkeit und halluzinativer Kraft „Hubertus Giebe. Mit der Hand gezeichnet“ (28.07.2025)


Dienstag, 21. Januar 2025

13.11.2024 KAS Bremen Schulveranstaltung mit DDR-Zeugen: "Das ist ja wie in einem Film"

„Das ist ja wie in einem Film“ 

Von 

Ivo Woyzella 

Schulveranstaltung mit DDR-Zeitzeugen Axel Reitel 

Im November organisierte die Konrad-Adenauer-Stiftung (KAS) zwei Schulveranstaltungen inklusive einer KAS-Ausstellung „DDR: Mythos und Wirklichkeit“, mit dem DDR-Zeitzeugen Axel Reitel. In der Ausstellung werden Mythen über das Leben unter der SED-Diktatur aufgegriffen und Informationen über vor allem Alltag, Kultur, Wirtschaft, Umwelt, Schule und Ideologie in der DDR vermittelt. Am Mittwoch, den 13.11.2024, empfing das Schulzentrum am Rübekamp Axel Reitel sowie den KAS-Tagunsgleiter Toritseju Nanna. Zwei Wochen später besuchte Reitel gemeinsam mit der Tagungsleiterin Anna Prigge die Oberschule Roter Sand in der Butjadinger Straße.  

v.l.n.r: Herr Horn, Schulleiter des Schulungszentrums am Rübekamp, Axel Reitel, KAS-Tagunsgleiter Toritseju Nanna ©KAS Bremen 

Die Ausstellung der KAS bietet eine breite Palette von Mythen über die DDR. Themen wie das Schulsystem zu Zeiten der DDR, der Geheimdienst Staatsicherheit (Stasi) und die fehlende Legitimität des Begriffs „Demokratie“ im Namen der DDR (Deutsche Demokratische Republik) werden behandelt. Schülerinnen und Schüler des Schulzentrums am Rübekamp und der Oberschule Roter Sand in Bremen befassten sich im November 2024 mit der Ausstellung und traten in ein Gespräch mit dem Zeitzeugen Axel Reitel. 

Zu Beginn der Veranstaltung erklärte Reitel den Schülern grundlegende Aspekte der DDR. Er beschrieb deren Geschichte kurz und thematisierte anschließend einige der Mythen über die DDR. 

Dass die DDR demokratisch war, ist ein Mythos, der bis heute von vielen geglaubt wird. Doch es steht fest, dass unter der Herrschaft der SED eine Diktatur bestand. Meinungsfreiheit gab es nicht, da die SED den Anspruch einer umfassenden Überwachung erhob. Sämtliche Print- und Funkmedien wurden vom Staat zensiert, kontrolliert und monopolisiert. Freie Meinungsäußerung war bei dem geringen Angebot an Informationen schwierig genug. Es gab jedoch ein zweites Problem in der Hinsicht – die Stasi. Es gibt den Mythos, dass die Stasi „ein ganz normaler Geheimdienst war.“ Die Stasi war das Überwachungsorgan der SED. Sie überwachte Bürgerinnen und Bürger und verhaftete diejenigen, die sich gegen den Staat stellten. 

Reitel erfuhr dies am eigenen Leibe, da er mit nur 17 Jahren von der Stasi gefangen genommen und in Jugendhaft gesteckt wurde. Die Schüler waren daran interessiert und stellten Fragen zum Ablauf der Verhaftung und zu seinen Erfahrungen im Gefängnis. Reitel schilderte seine Verhaftung und verdeutlichte durch Worte und Gestik seine Strapazen und Folter im Gefängnis. Manche Schüler flüsterten sich gegenseitig zu: „Das ist ja wie in einem […] Film“, während andere die Informationen schweigend aufnahmen. 

Am Ende der Veranstaltung bedankten sich die Schüler bei Reitel. 

 

PS: "halluzinatorisch" oder "halluzinativ". Nach Erscheinen der Rezension "Von hoher Fertigkeit und halluzinativer Kraft". Kommentar von Facebook

  Nach dem Erscheinen der Rezension über "Hubertus Giebe. Mit der Hand gezeichnet": 'Von hoher Fertigkeit und halluzinativer K...