Samstag, 23. August 2025

Buchbespechung: Ruth Weiss, Die Löws, eine jüdische Familiensaga, Band 5: Schwere Prüfung – Ein literarisches Mahnmal von Wucht und Glanz

 

Ruth Weiss, Die Löws, eine jüdische Familiensaga, Band 5: Schwere Prüfung – Ein literarisches Mahnmal von Wucht und Glanz


Dieser Band ist tief bewegende, historisch präzise, und hochliterarische Meistererzählung. Ruth Weiss beschreibt im fünften Teil ihrer Familiensaga „Die Löws“ in Berlin – die Folgen des berüchtigten Gesetzes zur Wiedereinführung des Berufsbeamtentums vom 7. April 1933. Jüdische Mitmenschen durften fortan nicht mehr beschäftigt werden. Sie wurden systematisch aus dem gesellschaftlichen Leben gedrängt und später millionenfach in Konzentrationslagern  mit industrieller Effizienz ermordet.



Kalt, ohne menschliche Regung, wurden im Protokoll der Wannseekonferenz vom 20. Januar 1942 zur „Endlösung der Judenfrage“ die elf Millionen in Europa lebenden Juden erfasst und ihre Ermordung beschlossen – unter dem Begriff „die Zurückdrängung der Juden aus dem Lebensraum des deutschen Volkes“. „Bisher“ wurde weiter im Protokoll vermerkt, seien „rund 537.000 [Juden] zur Auswanderung gebracht“ worden. Nun sei „anstelle der Auswanderung […] die Evakuierung der Juden nach dem Osten getreten“. Diese,  durch das Gesetz von 1933 eingeleitete menschliche Katastrophe – die Katastrophe des Menschen durch den Menschen – steht im Zentrum dieses Romans über Überleben und Widerstand der Familie Löw.

Oder ist es der Widerstand der Musik selbst? Ohne Musik ist Leben bekanntlich ein Irrtum. Und Ruth Weiss stellt ihre äußerste Bedrohung gleich an den an den Anfang ihrer Geschichte. Das Leben der jungen Melanie Löw, eine talentierte Musikerin, wird durch die politischen Umbrüche und zunehmender antisemitischer Gewalt für immer erschüttert.

Mit großer Sensibilität zeichnet Weiss das Porträt der „gemischten Liebe“ zwischen Melanie und Gottlieb Becker – eine Beziehung, die in der Kindheit beginnt und sich gegen alle Widerstände zu einer tiefen Verbindung entwickelt. Die weiteren Ereignisse werden in klarer, poetischer Sprache erzählt, durchzogen von historischen Details.

Eindrucksvoll ist die Darstellung der familiären Dynamiken: Paul und Selma Löw, Melanies Großeltern, reagieren mit stillem Mitgefühl und tiefer Sorge. Besonders die Szene im Nachtlokal „Schwebender Engel“, in dem Melanie spielt, um ihren Traum von Unabhängigkeit zu leben, wird durch einen brutalen SA-Überfall zerstört – ein Moment, der filmreif erscheint.

Die Trennung von Melanie und Gottlieb wird zum Sinnbild jener teuflischen Reality-Soap, die Deutschland zwischen 1933 und 1945 praktizierte. Die Szene am Anhalter Bahnhof, wo Melanie nach Frankreich fliehen will und Gottlieb von SA-Männern abgeführt wird, ist von erschütternder Intensität.

Paul Löws Überlegungen zur religiösen Identität seiner Enkelin, seine körperliche Schwäche angesichts der Gewalt, Melanies verzweifelte Flucht und Gottliebs brutale Misshandlung bleiben emotional präsent und tragisch.

Die Auswirkungen der Nürnberger Gesetze verflechten sich zunehmend mit den persönlichen Schicksalen der Familie Löw. Jede Figur bleibt lebendig, ihre Dialoge glaubwürdig, ihre Handlungen nachvollziehbar.

Die Geschichte von Erna Maurer, die ihre Kinder verliert und sich als Kindermädchen neu orientieren muss, sowie Paul Löws Entwicklung zur moralischen Instanz – etwa, wenn er Goebbels’ Propaganda kommentiert oder die Verstaatlichung des Berliner Philharmonischen Orchesters als kulturelle Kapitulation beschreibt – sind hallen mahnend bis in unsere Zeit.

Die persönliche Tragödie um Adolf Löw, der sich nach der Scheidung das Leben nimmt, ist ein erster erschütternder Höhepunkt. Weiss beschreibt diesen Moment mit größter Zurückhaltung und Würde – ohne Pathos, aber mit tiefem Mitgefühl. Die Szene, in der Adolf sich für seinen letzten Gang zurechtmacht, ist ein stiller Protest gegen die Entwürdigung, die vielen „gemischten Ehen“ widerfuhr.

Die politischen Entwicklungen des Jahres 1938 – von der systematischen Erfassung jüdischer Bürger über Zwangsausweisungen bis zur Reichspogromnacht – werden in kühler Dichte geschildert. Paul Löw wird zur Chronistenfigur, die das Unheil erkennt, benennt und versucht, mit den wenigen Mitteln zu helfen, die ihm bleiben.

Die Familienverflechtungen und die Auswirkungen der Nürnberger Gesetze auf die weit verzweigte Löw-Kohn-Familie sind eindrucksvoll dargestellt. Die Geschichte von Nora Funkel und ihrem Vater Tobias, die in einer Nacht deportiert werden, steht exemplarisch für die Brutalität und Willkür der Maßnahmen.

Die Inhaftierung von Paul Löw und seine Deportation nach der Reichspogromnacht, die nächtlichen Übergriffe sowie die Zerstörung der Löw-Villa unter der Aufsicht eines ehemaligen Gärtners, der nun SA-Gruppenführer ist, verdeutlichen die Pervertierung von Macht und die völlige Entmenschlichung im nationalsozialistischen Deutschland. Diese Szenen sind beklemmend realistisch und zugleich literarisch mit großem Mitgefühl gestaltet.

Die Schilderung des Konzentrationslagers ist nüchtern und ernüchternd. Die Fakten, die Perspektive des gealterten Paul Löw, seine Appelle, die Gewalt, die Kälte und der Hunger sind so eindringlich beschrieben, dass sie einen lange nicht loslassen. Besonders beeindruckend ist Pauls innerer Monolog – seine Gedanken über Organisation, Listen, Enteignung und die rücksichtslose Logik der Täter.

Dabei bleiben auch die familiären Verflechtungen präsent: Pauls Sorge um seine Kinder, seine Gedanken zur Auswanderung, die Hoffnung auf Visa und die Schwierigkeiten der Emigration. Die private Ebene ist vollständig von der politischen Willkür abhängig geworden. Die Szene, in der Paul gegen seinen Willen einen Verkaufsvertrag für sein Haus unterschreiben muss, wird zum Symbol für die vollständige Entrechtung und Enteignung der jüdischen Bevölkerung.

Die Enteignung Paul Löws, seine erzwungene Unterschrift unter Verkaufsverträge und die perfide Einführung des Zwangsnamens „Israel“ sind Ausdruck einer mit erschreckenden Effizienz betriebenen Entmenschlichung.

Merkwürdig eindrucksvoll wirkt die Szene mit dem SS-Mann Scharnau, der gegenüber Paul Mitgefühl zeigt. Es ist ein Moment der Ambivalenz, der zeigt, dass selbst Täter nicht immer eindimensional sind. Ruth Weiss nutzt diese Begegnung, um die Komplexität menschlicher Beziehungen im Kontext totalitärer Gewalt zu beleuchten – ohne zu relativieren.

In der Außenwelt der Lager bleiben die Emigrationsversuche der Familie Löw geprägt von Hoffnung, Rückschlägen und weiteren tragischen Wendungen. Die Geschichte von Franz, der auf der Flucht erschossen wird und dessen Asche in einer Urne per Paket an seine Familie gelangt, ist von erschütternder Kraft. Die Szene, in der Stefanie die Urne entdeckt, gehört zu den emotional stärksten des Romans – ein Moment, der die ganze politische Barbarei in sich vereint.

Als Lichtblick erscheint der Kindertransport nach England. Die Organisation, die Beteiligung der jüdischen Gemeinde und die Hoffnung, die mit der Rettung der Kinder verbunden ist, zeigen, dass selbst in Zeiten größter Not Solidarität und Menschlichkeit möglich sind. Die Figur der Marjorie Lowe, die sich für die Kinder einsetzt, steht exemplarisch für diese Hoffnung.

Ein Licht inmitten der Dunkelheit, die auch die anderen Handlungsstränge durch Schmerz, Unsicherheit, Flucht, Gewalt, Verrat und Tod durchzieht. Ludwig Löws Rettung durch den Mönch Pater Emmanuel ist ein leiser, aber kraftvoller Kontrapunkt zur allgegenwärtigen Gewalt. Die Szene, in der Ludwig am Amsterdamer Bahnhof Abschied nimmt, ist von stiller Größe und von Hoffnung getragen.

Diese Momente wirken wie tragende Säulen in der zunehmend düsteren Realität des Jahres 1939 – dem Jahr, in dem der Zweite Weltkrieg beginnt und die systematische Terrorpolitik des NS-Regimes neue Formen annimmt. Das Kapitel über die beginnende „Euthanasie“-Aktion wurde literarisch vielleicht noch nie mit solcher historischen Präzision behandelt.

Die Szene, in der der entlassene Paul Löw das Kinderheim besucht und die kleine Lettie von einer Reise „in den ewigen Schnee“ spricht, bei dem blauen Bonbon geschluckt werden sollen, ist von einer erschütternden Genauigkeit, wie man sie sonst nur bei Kleist findet. Letties ermöglichte Flucht verleiht dem Moment eine beklemmende Intensität.

Auch die Beschreibung der politischen Entwicklungen – der Krieg gegen Polen, die Lügen über den angeblichen Überfall auf den Sender Gleiwitz, die Kriegserklärungen der Alliierten – ist präzise und historisch fundiert.

Wie bei Kleist lohnt es sich, auf die kleinen Gesten zu achten: In parallelen Erzählsträngen – etwa im Warschauer Ghetto – wird Paul und Selmas Freitod nach dem Durchbruch der Wehrmachtsverbände geschildert. Paul will nicht noch einmal in ein Lager. Die Geschichten von Chajim Levi, Tobias Funkel, Nora Kohn und Gideon Levi, die Selbsthilfegruppen, Suppenküchen und improvisierten Krankenstationen zeigen die Menschlichkeit, die auch durch Hilfe von Untergrundgruppen aufrechterhalten wurde.

Die Beschreibung der Untergrundarbeit – die Verteilung von Nachrichten, die Organisation von Verstecken – verdichtet sich mit den Deportationen nach Theresienstadt und Auschwitz auf engstem Raum. Die Deportation von Zara und André nach Theresienstadt und ihr Tod dort sind erschütternd.

Besonders bewegend ist Andrés geistiger Rückzug in eine Welt des Theaters – ein Mann, der in der Realität nicht mehr leben kann und sich in seine Rollen flüchtet. Zara, die ihn bis zuletzt begleitet, wird zur stillen Heldin, die trotz allem versucht, Kindern Hoffnung zu geben – bis auch sie nach Auschwitz deportiert wird.

Parallel dazu erleben wir Melanies Rückkehr nach Berlin und ihre Rettung durch Anton von Kurtzner. Die Beziehung zwischen den beiden ist geprägt von gegenseitigem Respekt, Fürsorge und einem stillen Einverständnis. Anton, ein Mann der inneren Opposition, wird zum Retter – nicht nur für Melanie, sondern auch für den jungen Schauspieler Bobbie. Ruth Weiss zeigt eindrucksvoll, wie selbst in einem System der Unmenschlichkeit einzelne Menschen Menschlichkeit bewahren können.

Die Szene, in der Bobbie sich in einem selbst gegrabenen Versteck unter einer Gartenhütte verbirgt, ist von beklemmender Spannung. Weiss beschreibt die Angst, die Vorsicht, die Improvisation – und die ständige Bedrohung durch Entdeckung. Dass Bobbie überlebt, ist ein seltener Moment der Erleichterung in einem düsteren Kapitel, das die Vernichtung durch das nationalsozialistische Regime beschreibt.

Besonders eindrucksvoll ist auch die Darstellung von Antons innerer Zerrissenheit. Als Diplomat arbeitet er im System, um vielleicht Schlimmeres zu verhindern – und wird dabei selbst zum Mitwisser. Ruth Weiss zeichnet ihn als komplexe Figur, die zwischen Pflicht, Schuld und Menschlichkeit balanciert.

Die Deportation von Manfred Löw nach Auschwitz ist ein weiterer tragischer Höhepunkt. Weiss beschreibt mit großer Zurückhaltung, aber eindringlicher Klarheit, wie der junge Mann in die Hölle der Lager gerät – ohne Glauben, ohne Ziel, nur mit dem Willen zu überleben. Die Darstellung seiner inneren Leere, seiner Entfremdung und der Verrohung im Lager ist erschütternd und authentisch.

Parallel dazu schildert Weiss den Aufstand im Warschauer Ghetto mit großer historischer Genauigkeit. Die Figuren Gideon, Salome und Nora Kohn werden zu Symbolen des jüdischen Widerstands. Ihr Mut, ihre Entschlossenheit und ihre Opferbereitschaft stehen im Kontrast zur systematischen Vernichtungspolitik der Nazis. Der Aufstand, die Flucht durch unterirdische Gänge, die Verbindung zum polnischen Widerstand – all das zeigt, dass selbst im Angesicht des Todes Hoffnung und Kampfgeist möglich sind.

Besonders bewegend ist die Szene, in der Nora Kohn sich entscheidet, nicht zu fliehen, sondern weiterzukämpfen – bis zum Tod. Ruth Weiss verleiht dieser Entscheidung eine stille Größe, die lange nachwirkt. Auch Gideon und Salome, die sich den Partisanen anschließen, werden zu Symbolfiguren des Überlebens und der Hoffnung.

Die Beschreibung des Lagers Westerbork, in das Klara und Hester deportiert werden, ist ein weiteres Beispiel für die präzise und schonungslose Darstellung der Realität. Die Zusammenarbeit deutscher Juden mit der SS, die Organisation der Transporte, die seelische Zerstörung der Insassen – all das wird mit großer Klarheit und Empathie erzählt.

Ruth Weiss gelingt es auch in diesem Abschnitt, das Grauen des Holocaust mit der Hoffnung auf Menschlichkeit und Widerstand zu verknüpfen. Die Flucht von Klara und Lettie aus dem Deportationszug gehört zu den bewegendsten Szenen des Romans. Die Beschreibung der waghalsigen Flucht, Letties Verletzung und die Hilfe durch niederländische Bauern zeigen, dass selbst in den dunkelsten Momenten Menschlichkeit möglich ist.

Die Figur Klara wächst in dieser Passage über sich hinaus. Ihre Fürsorge für Lettie, ihre Entschlossenheit und ihre Fähigkeit zur Improvisation machen sie zur stillen Heldin. Ruth Weiss zeigt eindrucksvoll, wie Verantwortung für andere neue Kraft geben kann – und wie das Überleben oft von kleinen Zufällen und mutigen Entscheidungen abhängt.

Parallel dazu wird das Attentat vom 20. Juli 1944 gegen Hitler thematisiert. Die Figur Anton von Kurtzner, ein stiller Widerstandskämpfer im diplomatischen Dienst, wird zum Symbol für die innere Opposition. Die Szene, in der Melanie von Bruno Held gewarnt wird, ist von beklemmender Spannung. Ruth Weiss zeigt, wie das Netzwerk der Widerständler funktioniert – und wie gefährlich jede Verbindung ist.

Die Beschreibung von Melanie, die sich mit einem gefälschten Ausweis durch das zerstörte Berlin bewegt, ist ein weiteres Beispiel für die literarische Kraft des Romans. Ruth Weiss gelingt es, die Atmosphäre von Angst, Zerstörung und Hoffnung eindringlich zu schildern.

Gegen Ende dieser meisterhaften Erzählung verdichtet Ruth Weiss die zentralen Themen des Romans: Flucht, Widerstand, Verlust, Überleben – und die schwierige Rückkehr in eine Welt nach dem Grauen. Die Geschichte von Melanie, die sich nach dem gescheiterten Attentat auf Hitler durch das zerstörte Berlin schlägt, ist von beklemmender Spannung und tiefer Menschlichkeit geprägt. Ihre Begegnung mit Bobbie und den anderen Versteckten auf dem Friedhof ist ein Moment der Hoffnung inmitten der Zerstörung.

Die Beschreibung des Lebens im Mausoleum, der improvisierten Gärtnerei und der Hilfe durch den Pfarrer zeigt eindrucksvoll, wie Überleben möglich war – wenn Mut, Solidarität und Zufall zusammentrafen. Ruth Weiss schildert diese Szenen mit großer Authentizität und Empathie.

Parallel dazu wird das Schicksal von Gideon und Salome erzählt, die als jüdische Partisanen im Wald überleben und nach dem Krieg ihren Sohn Abraham wiederfinden. Die Szene der Wiederbegegnung ist bewegend und zeigt, wie tief die Wunden sind, die der Krieg hinterlassen hat – auch in den Beziehungen zwischen Eltern und Kindern.

Besonders eindrucksvoll ist die Darstellung von Hanna Löw, die als Krankenschwester in Bergen-Belsen arbeitet und später im DP-Lager hilft, Überlebende zu versorgen. Die Begegnung mit Katja Walser ist ein stiller Moment der Wiederannäherung – ein Zeichen dafür, dass Familie, trotz allem, wieder möglich sein kann.

Die Reflexionen über die Entnazifizierung, die Frage nach Schuld und Verantwortung, die Suche nach Gottlieb – all das zeigt, wie schwer es ist, nach dem Krieg wieder Sinn zu finden. Ruth Weiss stellt diese Fragen nicht mit erhobenem Zeigefinger, sondern mit literarischer Tiefe und menschlicher Wärme.

Und so endet dieser Roman mit Schluss voller Hoffnung. Am Ende versammeln sich die Überlebenden in Israel. Sie gedenken ihrer Toten, feiern ihre Rettung, erzählen ihre Geschichten. Asaf Löw spricht das Kaddisch, legt Steine auf die Gräber der Vorfahren. Es ist ein Moment der Heilung, der Erinnerung, der Zukunft.

Ja, der fünfte Band, Schwere Prüfung, ist ein Roman der Gesichter. Jedes trägt eine Geschichte, jede Geschichte ein Echo. Ruth Weiss hat ein Werk geschaffen, das nicht nur erzählt, sondern durch die Kraft ihrer Erzählkunst bewahrt. Die Löws sind fiktiv, aber ihre Erfahrungen sind real. Ihr Überleben ist unser Erinnern und unsere Pflicht.

Ruth Weiss, Die Löws. Eine jüdische Familiensaga in Deutschland. Band 5, Schwere Prüfung, Verlag Edition AV, Taschenbuch,  ‎222 Seiten, 16 Euro. ISBN-13 ‏ : ‎ 978-3868411713

Quelle: https://www.tabularasamagazin.de/axel-reitel-ruth-weiss-die-loews-eine-juedische-familiensaga-band-5-schwere-pruefung/

Buchbesprechung: Gabrielle Alioth – Die letzte Insel


Gabrielle Alioth – Die letzte Insel

Was für eine Geschichte! Und so ist „Die letzte Insel“ von Gabrielle Alioth auch kein Buch für nebenbei. Was die Autorin vorlegt, ist ein Roman zum Innehalten und lädt zum wiederholten Lesen ein. Zwei Stimmen bilden das Hautpersonal, die von den Nebenpersonen einer untergehenden Welt umgeben sind. Wissenschaft, Erinnerung, Liebe, Schuld sind verwoben in eine Sprache, die nicht laut schreit, dafür lang nachhallt.




Dafür sorgen insgesamt die gut gesetzten Charaktere Holm, ein introvertierter Wissenschaftler, der in Listen, Pflanzen, Arten und zunehmend in Isolation versinkt. Und so bleiben seine Beziehungen zu Nessa und Wilson denn auch unvollständig, voller Brüche und Verschattungen. Sein Blick auf die Welt ist hingegen präzise, doch selten verbindend. Die Ich-Erzählerin lebt zwischen ihrem Geliebten Daniel, dem Ehemann Alexander und dem Garten, der zum Sinnbild für Verwurzelung und Verwandlung wird. Ihre Stimme ist tastend, selbstkritisch, poetisch.

Der Ehemann Alexander ist ein schweigender Intellektueller, der ihr nach seinem Tod in Träumen mit Repliken und Fragen erscheint. Der Geliebte Daniel ist Mediziner, ihr intellektuell näher, zu dem ans Herz gehend mit allem, was er mit dem Verlust des Kindes erlitten hatte, zudem berührt die späte Bindung zum Sohn.

Nessa bleibt rätselhaft, forsch und freiheitsliebend. Sie begegnet Holm auf Red Island und bleibt als Stimme und Spur auch später präsent.

Der alte Ronan ist der mystische Begleiter Holms auf der Mönchsinsel, ein Hüter der Geschichten, Spiegel innerer Gewissheiten und selbst so etwas wie ein Motto.

„Vielleicht ist das Leben nur eine Abfolge von Geschichten, die wir uns erzählen.“ Dieser Satz, der fast beiläufig im letzten Kapitel fällt, könnte das geheime Motto von Gabrielle Alioths Roman Die letzte Insel sein. Denn erzählt wird hier weniger eine Geschichte als ein Gefüge aus Stimmen, Bildern, Brüchen – ein vielschichtiges Mosaik aus Erinnerung, Verlust, Pflanzenkunde und Ethik, dass sich dem linearen Erzählen entzieht und stattdessen spiralförmig in die Geschichte zieht.

Gabrielle Alioth wählt dafür ihr eine doppelsträngige Struktur: Die Perspektive wechselt zwischen Holm, einem Biologen, der versinkende Inseln kartiert, und einer Ich-Erzählerin, deren Leben zwischen Ehemann, Affären, Schuld und dem Garten am Meer oszilliert.

Ihre Stimmen begegnen sich nie direkt – und doch kreisen sie umeinander wie geologische Schichten, in denen Sedimente von Schmerz, Sehnsucht und Verdrängung abgelagert sind. Die Sprache ist präzise und zurückgenommen, zugleich sinnlich und poetisch.

Alioth notiert die Welt wie eine Botanikerin, seziert sie ihre Figuren mit liebevoller Nüchternheit.

Pflanzen, Tiere, Gesteine sind nicht bloße Kulisse, sondern gleichwertige Erzählinstanzen: Aronstab, Wellhornschnecke, Rotkehlchen – sie tragen die von den Menschen oft verschwiegenen Erinnerungen mit sich.

Folgerichtig ist Die letzte Insel weniger ein Roman der Handlung, sondern der inneren Bewegung. Und schließlich verschwindet Holm der Arten sammelt und Dünenpflanzen kartiert, selbst in Nebel und Erinnerung. Er, ein Sinnbild für den westlichen Forschergeist – präzise, aber einsam, analytisch, bleibt blind für Nähe. Die Erzählerin hingegen reflektiert – über verlorene Liebe, über die Schuld des Überlebens, über Begegnungen, die sich in die Landschaft eingeschrieben haben.

Es sind die zentralen Motive der Erinnerung, Reproduktion, Vergänglichkeit und zugleich einhergehenden Frage, was echt (oderechter) ist, das Original oder seine Fälschung? Die geliebte Person oder ihr Klon? Das Erlebnis oder die Erzählung davon?

Der Roman ist durchzogen von ethischen Dilemmata: Gen-Klone toter Kinder, ökologische Katastrophen, die militärische Entsorgung ganzer Inseln. Und doch ist das nie plakativ. Stattdessen arbeitet Alioth mit Mythen: Kalypso, Lilith, Augustinus, Jonas – sie tauchen weniger als Zitate, denn als archaische Schattenfiguren auf, mit durch unsere Zeit, die aktuell gelebte Moderne, beleuchtet wird.

Die letzte Insel endet still, fragmentarisch und offen.

Holm verschwindet in einem Fiebertraum zwischen Quallen und Fossilien.

Die Erzählerin bleibt zurück, streift mit ihrer Hündin Kalypso über den Strand, löscht Daten, bewahrt ein Schneckenhaus. Die Zukunft bleibt brüchig, klonbar, erzählbar – aber nie kontrollierbar.

Gabrielle Alioth hat mit Die letzte Insel einen der klügsten, leisesten und sprachlich schönsten Romane der letzten Jahre geschrieben. Wer Antworten sucht, wird enttäuscht. Wer Spuren lesen will – zwischen Gärten, Träumen, verwaschenen Karten und fragilen Beziehungen – wird belohnt. Dieser Roman ist wie ein Spaziergang im Nebel: langsam, vielsagend, verändernd.

Für Leser: innen von Olga Tokarczuk, Judith Schalansky und Jenny Erpenbeck. Und für alle, die wissen, dass das Gedächtnis der eigentliche Ort der Welt ist.

Gabrielle Alioth, Lenos Verlag, 229 Seiten, 26 Euro,  ISBN-10:‎3039250450.

Quelle: https://www.tabularasamagazin.de/axel-reitel-lesetipp-der-redaktion-lesetipp-der-redaktion-gabrielle-alioth-die-letzte-insel/

Montag, 28. Juli 2025

PS: "halluzinatorisch" oder "halluzinativ". Nach Erscheinen der Rezension "Von hoher Fertigkeit und halluzinativer Kraft". Kommentar von Facebook




 Nach dem Erscheinen der Rezension über "Hubertus Giebe. Mit der Hand gezeichnet": 'Von hoher Fertigkeit und halluzinativer Kraft', begann eine Diskussion, die davon ausging, dass es im Deutschen nur das Adjektiv "halluzinatorisch" gibt und "halluzinativ" eben nicht. Ich bevorzugte die, die den deutschen Philosophen Gernot Böhme ins

Feld führten, der sich recht viel mit Ästhetik, Atmosphäre und Wahrnehmung beschäftigt hat und in seinem Werk „Atmosphäre: Essays zur neuen Ästhetik“ schreibt:

„Die halluzinative Kraft der Bilder besteht darin, dass sie nicht nur etwas zeigen, sondern eine Welt erzeugen. Sie entführen den Betrachter aus der Realität und versetzen ihn in eine andere Sphäre der Wahrnehmung.“


Buchbesprechung: Mein Name sei BIN. Über Lutz Rathenows neuen Lyrikband „Früher ist morgen“

 

Mein Name sei BIN Über Lutz Rathenows neuen Lyrikband „Früher ist morgen“


Ausschnitt vom Buchcover 




Mit seinem neuen Werk „Früher ist morgen“ legt der Bürgerrechtler, Schriftsteller und Lyriker Lutz Rathenow einen aktuell greifenden Gedichtband über das Erinnern, das Verstören, das Misstrauen vor.

Wie von ihm gewohnt verbindet Lutz Rathenow das Private mit dem Politischen und das Sprachkritische mit dem Menschlichen. Er erkennt feinnervig die rhetorischen Hohlräume der Systeme – ob Sozialismus oder neoliberaler Alltag – und füllt sie mit Literatur, die nach dem großen Weltalltag klingt. Sein Stil ist zugänglich, aber nicht simpel. Die Gedichte sind, ohne Redundanz, eher Miniaturen der Ambivalenz: tastend, lakonisch, ironisch, gelegentlich zärtlich. In jeden der fünf Kapitel spüren, man: Hier schreibt ein Mensch, der weiß, wie verletzlich Sprache ist – und wie viel Widerstand sie dennoch leisten kann.

Doch er im Verlag Ralf Liebe mit viele Liebe und Können gestaltete Band steht ganz in dieser Tradition – und geht noch einen Schritt weiter.

„Ich fordere auf, mir zu misstrauen.“ Kaum ein anderer Satz in diesem Band könnte den Ton dieser Sammlung besser einfangenEine Sammlung gegen Linearität

Die 111 Gedichte – entstanden zwischen 1971 und 2024 – sind denn auch kein Rückblick im klassischen Sinn. Sie bilden ein poetisches Langzeitprotokoll, das sich der Autobiografie ebenso entzieht wie der ästhetischen

Glättung. Rathenow stellt sich nicht aus – er geht durch sich hindurch. Die Gedichte sind „Bruchstellen, Blickwinkel, irritierende Zäsuren“, wie er selbst sie nennt.

Der Titel „Früher ist morgen“ ist dabei mehr als ein sprachliches Paradox – er ist poetologisches Programm. Erinnerung wird nicht bewahrt, sondern aktualisiert. Was einmal war, wirkt weiter – nicht als feste Figur, sondern als flüchtige Stimmung. So ist Vergangenheit im Rathenows Kosmos keine Chronologie, sondern eine Bewegungsform. Manchmal erratisch, fragmentarisch, aber unverkennbar ist die fast flüchtige Ironie als Sprachwiderstand und als Lutz Rathenows literarische Haltung

Viele der Gedichte sind kurz – manchmal nur zwei, drei Zeilen –, aber sie eröffnen Räume. „Placebogedicht“ seziert das öffentliche Vokabular der Gegenwart, „Falttag“ verwandelt den DDR-Wahlakt in einen sprachkritischen Witz, „Tattoolyrik“ tanzt zwischen Kindergedicht und 68er-Utopie, „Graitschen, bei Jena“ baut aus Abriss eine Erinnerungsinstallation an sich selbst untergegangener Schreckenszeiten.

Eindrucksvoll ist Rathenows Umgang mit Nähe: „Der Vater, Abschied“ ist eine zärtliche Bewegung durch das Glas von den Frontscheiben der Automobile seines Vaters – kein pathetisches Gedicht, sondern eine tastende Erinnerung.

Und dann kommt mit „Divers“ ein scheinbar leichtes, fast reimendes Gedicht über Identität und Bewegung daher, wirkt der letzte Vers programmatisch: „Als BIN kann ich überall hin.“

Das Hilfsverb „bin“ wird substantiviert. Identität wird transitiv. Der Titel der Rezension – Mein Name sei BIN – speist sich genau aus dieser poetischen Bewegung: Identität ist nicht fixiert, sondern unterwegs.

Sprache ist nicht Antwort, sondern Frage.

Zwischen Weltbeobachtung und Innenblick

Die fünf Kapitel des Bandes gliedern sich wie poetische Landschaften. In die „Die Welt berühren“ überwiegen Kindheitsbilder, Zugfahrten, Sprachkritik. in „Tauschen wir die Geheimnisse wie früher die kleinen Bilder“ haben wir es mit Erinnerungen, politische Miniaturen, literarische Selbstreflexion zu tun. In „Erwachsen genug, Kind zu sein?“ geht es um Reimspiele, absurde Dialoge, und sagen wir, Identitätssplitter.

„Gezwitscher Getöse Gelächter“ wirft Jena, Thüringen, die DDR und überhaupt das System auf den „Brater“. Im Schlusskapitel „Die Texte laufen in verschiedene Richtungen davon…“, gibt es eigentlich keinen Punkt,

Schlussstrich oder Schlussakkord. Es wohl Abschiedstexte, Selbstgespräche, sogar Sprachfluchten, ließe sich sagen. Und ist das letzte Gedicht „Früher ist morgen und heute scheint weg“ auch wie eine poetische Schlussfuge, blendet sich der Text nicht aus und zieht sich etwa ins Schweigen zurück. Und das ist überhaupt ein Merkmal dieses Buches, dass sich seine Sprache mitunter zurückzieht, aber nie ins Schweigen kippt. Sie flüstert weiter, bricht einen Ast, wispert, beobachtet oder knackt mit den Knochen, wie buchstäblichdas Titel verrät, wenn es zunächst behauptet: „Ich kann mit meinem Rücken knacken, er verrät Botschaften über den Zustand der Wirbelsäule.“ Schauen wir es uns zum Schluss an:

Früher ist morgen und heute scheint weg

Ich kann mit der Stille einer Wohnung spielen,

sortiere die Geheimnisse der Blätterstapel neu.

Ich kann mit meinem Rücken knacken, er verrät

Botschaften über den Zustand der Wirbelsäule.

Jenseits des Fensters ein Stummfilm, das Summen

einer Welt, die ihre Laute nicht verschleudert.

Ich kann, was ich kann: ein Geheimnis behalten,

für mich. Bis es allmählich der Körper vergiss.

Der Verlag Ralf Liebe hat mit dieser Ausgabe zudem ein bibliophiles Objekt geschaffen: Leineneinband, Holzschnitte, nummerierte Auflage – Literatur als Materialkunst. Die Holzschnitte von Katja Zwirnmann sind grafische Echokammern, die mit Lutz Rathenows Textstruktur korrespondieren.

Holzschnitt von Katja Zwirnmann 
auf Seite 75

Lutz Rathenow, früher ist morgen. Einhundertelf Gedichte, 10 Holzschnitte von Katja Zwirnmann, Weilerswist, Verlag Ralf Liebe, 2025. 25, – €

Quelle: Mein Name sei BIN Über Lutz Rathenows neuen Lyrikband „Früher ist morgen“ (28.07.2025)

Buchbesprechung: Von hoher Fertigkeit und halluzinativer Kraft. Hubertus Giebes neues Buch "Mit der Hand gezeichnet“

 

Von hoher Fertigkeit und halluzinativer Kraft

„Hubertus Giebe. Mit der Hand gezeichnet“

Von Axel Reitel


Zeichnungen begeisterten den Rezensenten schon früh – als junger Betrachter von Schadow, Dürer, Leu, Menzel. Als Student der Kunstwissenschaft teilte er diese Leidenschaft weiterhin. Doch nicht nur mit kunsthistorischer Perspektive, sondern auch mit jahrzehntelanger Bewunderung blickt er auf das Werk von Hubertus Giebe, Maler und Zeichner.

Ein Katalog seiner „Geschichtsbilder“, entdeckt 1990 in der Wendezeit, beeindruckte nachhaltig. Die Stimme des erfahrenen Galerienbesuchers sagte ihm: „Das hier ist einer der bedeutendsten Künstler unserer Zeit.“ Giebes Engagement für die friedliche Revolution 1989 in Dresden vertiefte dieses Interesse.

Erstmals begegnete der Rezensent dem Künstler 1992 bei einer Ausstellungsfeier in Dresden. 1996 entstand mit „Liebe Anarchie“ ein gemeinsamer Band mit Lyrik und Grafik. 1998 folgte mit „Paris, Paris“, 15 Gedichten zu 15 Gemälden, eine reizvolle Nuance in einem Werk, das mit seiner Produktivkraft ganze Museen füllen könnte.

Jedes Bild trägt Farben und den „Sog“ unserer Epoche(n) – ihrer Ereignisse und Ideen, die uns formen.

Christoph Tannert bringt es im einleitenden Essay Zeichnen ohne Schlussstrich treffend auf den Punkt: „Bis in die unmittelbare Gegenwart verdient Giebe seine Autorität durch künstlerische Potenz und Bildwerke, die in unterschiedlichen philosophischen Traditionen begründet sind.“

Die viereinhalbseitige Einführung trifft auch stilistisch den Nerv unserer Zeit: präzise, knapp, pointiert – wie eine Liste ohne Ballast, aber mit Substanz.

Die Zeichnungen im Band zeugen von hoher Fertigkeit und halluzinativer Kraft. Eine Prägnanz wie bei Albrecht Dürer und eine expressive Kraft wie bei Max Beckmann. Doch ist alles vollkommen eigen.

Ein Ankauf durch das Metropolitan Museum in New York fände der Rezensent wünschenswert. Im Januar 2001 stellte er im MoMA, Zeichnungen von Giebe gedanklich neben Beckmanns „Argonauten“. Giebes „Bildnis von Frau Günther“ von 2000 – eines seiner herausragenden Porträts – neben „The Old Actress“ von 1926.


Bildnis von Frau Günther
Foto: Döring, Dresden

2026 will der Rezensent da MoMA wieder besuchen.

Wird man dort Giebe sehen?

Der Band Mit der Hand gezeichnet richtet sich an Freunde der Zeichenkunst, Kunststudierende und alle, die der schönen Kunst verbunden sind.

Hubertus Giebe. Mit der Hand gezeichnet Gebundene Ausgabe Zwiebook (salomo Publishing) 01. Juli 2025, 148 Seiten, 28 Euro. ISBN-13:  ‎978-3943451535


Quelle: Von hoher Fertigkeit und halluzinativer Kraft „Hubertus Giebe. Mit der Hand gezeichnet“ (28.07.2025)


Buchbespechung: Ruth Weiss, Die Löws, eine jüdische Familiensaga, Band 5: Schwere Prüfung – Ein literarisches Mahnmal von Wucht und Glanz

  Ruth Weiss, Die Löws, eine jüdische Familiensaga, Band 5: Schwere Prüfung – Ein literarisches Mahnmal von Wucht und Glanz Dieser Band ist ...