Samstag, 23. August 2025

Buchbesprechung: Gabrielle Alioth – Die letzte Insel


Gabrielle Alioth – Die letzte Insel

Was für eine Geschichte! Und so ist „Die letzte Insel“ von Gabrielle Alioth auch kein Buch für nebenbei. Was die Autorin vorlegt, ist ein Roman zum Innehalten und lädt zum wiederholten Lesen ein. Zwei Stimmen bilden das Hautpersonal, die von den Nebenpersonen einer untergehenden Welt umgeben sind. Wissenschaft, Erinnerung, Liebe, Schuld sind verwoben in eine Sprache, die nicht laut schreit, dafür lang nachhallt.




Dafür sorgen insgesamt die gut gesetzten Charaktere Holm, ein introvertierter Wissenschaftler, der in Listen, Pflanzen, Arten und zunehmend in Isolation versinkt. Und so bleiben seine Beziehungen zu Nessa und Wilson denn auch unvollständig, voller Brüche und Verschattungen. Sein Blick auf die Welt ist hingegen präzise, doch selten verbindend. Die Ich-Erzählerin lebt zwischen ihrem Geliebten Daniel, dem Ehemann Alexander und dem Garten, der zum Sinnbild für Verwurzelung und Verwandlung wird. Ihre Stimme ist tastend, selbstkritisch, poetisch.

Der Ehemann Alexander ist ein schweigender Intellektueller, der ihr nach seinem Tod in Träumen mit Repliken und Fragen erscheint. Der Geliebte Daniel ist Mediziner, ihr intellektuell näher, zu dem ans Herz gehend mit allem, was er mit dem Verlust des Kindes erlitten hatte, zudem berührt die späte Bindung zum Sohn.

Nessa bleibt rätselhaft, forsch und freiheitsliebend. Sie begegnet Holm auf Red Island und bleibt als Stimme und Spur auch später präsent.

Der alte Ronan ist der mystische Begleiter Holms auf der Mönchsinsel, ein Hüter der Geschichten, Spiegel innerer Gewissheiten und selbst so etwas wie ein Motto.

„Vielleicht ist das Leben nur eine Abfolge von Geschichten, die wir uns erzählen.“ Dieser Satz, der fast beiläufig im letzten Kapitel fällt, könnte das geheime Motto von Gabrielle Alioths Roman Die letzte Insel sein. Denn erzählt wird hier weniger eine Geschichte als ein Gefüge aus Stimmen, Bildern, Brüchen – ein vielschichtiges Mosaik aus Erinnerung, Verlust, Pflanzenkunde und Ethik, dass sich dem linearen Erzählen entzieht und stattdessen spiralförmig in die Geschichte zieht.

Gabrielle Alioth wählt dafür ihr eine doppelsträngige Struktur: Die Perspektive wechselt zwischen Holm, einem Biologen, der versinkende Inseln kartiert, und einer Ich-Erzählerin, deren Leben zwischen Ehemann, Affären, Schuld und dem Garten am Meer oszilliert.

Ihre Stimmen begegnen sich nie direkt – und doch kreisen sie umeinander wie geologische Schichten, in denen Sedimente von Schmerz, Sehnsucht und Verdrängung abgelagert sind. Die Sprache ist präzise und zurückgenommen, zugleich sinnlich und poetisch.

Alioth notiert die Welt wie eine Botanikerin, seziert sie ihre Figuren mit liebevoller Nüchternheit.

Pflanzen, Tiere, Gesteine sind nicht bloße Kulisse, sondern gleichwertige Erzählinstanzen: Aronstab, Wellhornschnecke, Rotkehlchen – sie tragen die von den Menschen oft verschwiegenen Erinnerungen mit sich.

Folgerichtig ist Die letzte Insel weniger ein Roman der Handlung, sondern der inneren Bewegung. Und schließlich verschwindet Holm der Arten sammelt und Dünenpflanzen kartiert, selbst in Nebel und Erinnerung. Er, ein Sinnbild für den westlichen Forschergeist – präzise, aber einsam, analytisch, bleibt blind für Nähe. Die Erzählerin hingegen reflektiert – über verlorene Liebe, über die Schuld des Überlebens, über Begegnungen, die sich in die Landschaft eingeschrieben haben.

Es sind die zentralen Motive der Erinnerung, Reproduktion, Vergänglichkeit und zugleich einhergehenden Frage, was echt (oderechter) ist, das Original oder seine Fälschung? Die geliebte Person oder ihr Klon? Das Erlebnis oder die Erzählung davon?

Der Roman ist durchzogen von ethischen Dilemmata: Gen-Klone toter Kinder, ökologische Katastrophen, die militärische Entsorgung ganzer Inseln. Und doch ist das nie plakativ. Stattdessen arbeitet Alioth mit Mythen: Kalypso, Lilith, Augustinus, Jonas – sie tauchen weniger als Zitate, denn als archaische Schattenfiguren auf, mit durch unsere Zeit, die aktuell gelebte Moderne, beleuchtet wird.

Die letzte Insel endet still, fragmentarisch und offen.

Holm verschwindet in einem Fiebertraum zwischen Quallen und Fossilien.

Die Erzählerin bleibt zurück, streift mit ihrer Hündin Kalypso über den Strand, löscht Daten, bewahrt ein Schneckenhaus. Die Zukunft bleibt brüchig, klonbar, erzählbar – aber nie kontrollierbar.

Gabrielle Alioth hat mit Die letzte Insel einen der klügsten, leisesten und sprachlich schönsten Romane der letzten Jahre geschrieben. Wer Antworten sucht, wird enttäuscht. Wer Spuren lesen will – zwischen Gärten, Träumen, verwaschenen Karten und fragilen Beziehungen – wird belohnt. Dieser Roman ist wie ein Spaziergang im Nebel: langsam, vielsagend, verändernd.

Für Leser: innen von Olga Tokarczuk, Judith Schalansky und Jenny Erpenbeck. Und für alle, die wissen, dass das Gedächtnis der eigentliche Ort der Welt ist.

Gabrielle Alioth, Lenos Verlag, 229 Seiten, 26 Euro,  ISBN-10:‎3039250450.

Quelle: https://www.tabularasamagazin.de/axel-reitel-lesetipp-der-redaktion-lesetipp-der-redaktion-gabrielle-alioth-die-letzte-insel/

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