Sacha
oder Die Bibel
-
die härteste Schachnovelle der Welt -
von
Axel
Reitel
Das Sterben ist
nur eine Folge
[...]
Das Telefon klingelte.
Der
Genosse[geschwärzt]
nahm den
Hörer ab und sagte:
"Ja,
hier Kindervernichtungslager H****!"
Thüringen
zwischen Werra, Unstrut und Saale. Zwischen Unstrut und Saale liegt
das Thüringer Becken. Zwischen Unstrut und Werra der Thüringer
Wald. Westlich des Thüringer Beckens, zwischen Bad Langensalza und
Erfurt, gelegen an der Hauptstraße 249, liegt Gräfentonna. Durch
den Thüringer Wald führt die Fernverkehrsstraße Nummer 4 von
Eisfeld nach Nordhausen. Zwischen Arnstadt und Erfurt, auf dieser
Strecke, kommt Ichtershausen auf halbem Weg. Ichtershausen und
Gräfentonna, zwei Kleinstädte in Urlauberlandschaft. Oberhof.
Schwarzatal. Tambach-Dietharz. Großer Buchenberg. Schlösser und
Museen gehören zum Repertoire im Ausflugsangebot der Urlauberheime
und Kinder- und Jugenderholungszentren.
Nun
sehe ich sie, die Kinder, wie sie fröhlich die Treppen zum Altertum
steigen. Hinter den Kindern kommend die Leiterin des Ferienlagers,
wie die Zentren in der Sprache hier heißen. Die beiden
Jugendgefängnisse Thüringens befinden sich in unseren beiden
Kleinstädten, in Ichtershausen und in Gräfentonna. Nach
Ichtershausen bin ich nicht gekommen. Die Ankunft dort kann ich nicht
beschreiben.
Wenn
du in Gräfentonna ankommst, steigst du zum Gefängnis eine schmale
Gasse hinauf. Die schmale Gasse heißt Braugasse. Am oberen Ende der
schmalen Braugasse befindet sich, hinter einem Schiebetor, der
Schleuse, das Gefängnis. Das Gefängnis war einst eine Burg. In der
Geschichte überliefert als Kettenburg. Und noch immer verschwindet
in der Kettenburg jeder Fortschritt zurück in die Geschichte. Das
Gefängnis in der Braugasse teilt sich auf in Kinder und Männer.
Kinder, rufen die volljährigen Gefangenen die minderjährigen
Gefangenen. Männer, rufen die minderjährigen Gefangenen die
volljährigen Gefangenen. Am Tag unterscheiden sich die Kinder von
den Männern einem entfernt stehenden Beobachter nicht. Gemeinsam
arbeiten sie am Neubau des alten Hauses. Sie schlagen sich um die
Brotration oder um ein gestohlenes Frauenbild. Sie heben sich über
die Gefängnismauer, einmal am Tag das Bestehen der freien Welt zu
prüfen. Im Winter gefriert dem Heizer die Kohle. Im Sommer stinken
die Männer und die Kinder nach Dreck und Schweiß. Gemeinsam tragen
sie die einheitlich blaue grobe Tuchkleidung. Wachtmeister haben
wenig zu tun. Streit gibt es genug. Denn es geht allen gleich.
Der
Prinzenhof der Kettenburg in Gräfentonna*
Auf
dem Hof, in der Betriebszeit der Burg der Prinzenhof, stehen die
jugendlichen Gefangenen wie die erwachsenen Gefangenen in Reih und
Glied und reagieren zackig auf jeden Befehl. Bauarbeiten an der
Innenmauer der Burg, dort wird eine Garage gebaut; Außenkommandos fahren in das Schreibmaschinenwerk VEB Optima nach Erfurt; es gibt
eine Schule für die jugendlichen Gefangenen; viele sind ab der
allgemeinen Strafmündigkeit, im 14. Lebensjahr, auch gleich
straffällig geworden; blieben vorher öfter in der Schule
sitzen und schlagen sich nun mit Wiederholungen der Schulklassen 6
bis 10 herum. Dann die Summiarbeiten, die unterste Stufe. Auf der
befanden sich in der Jugendhaus-Hierarchie die sogenannten
Primitivstrukturierten, so wurden sie von den Wärtern genannt. Vor
den Fenstern dieser Werkräume waren immer Sichtblenden. Nie drang
ein Laut aus den Werkräumen heraus - als würden sich diese
Jugendgefangenen während ihres Arbeitstages nicht einmal getrauen zu
atmen. Wir hörten nur, dass manche in Waisenhäusern aufgewachsen seien, einige seien adoptiert wurden, doch hätten sich ihre neuen Eltern nie fürsorglich um sie gekümmert. Wie belastet mussten diese Kinder in Geist und Seele sein. Ich habe in den 49 Tagen, die ich an diesem Ort des ideologischen Drills und der dunklen Nischen gelebt habe, nie einen von ihnen zu Gesicht bekommen und ich habe ihre Anwesenheit, weil ich mich nicht noch mehr Belastungen aussetzen wollte, täglich verdrängt. O, ihr ins Dunkel gestoßenen Prinzen von Thüringen, wie viele schwarze Stunden
hattet ihr zu erdulden!iii
Einmal,
hörte ich, aber vielleicht geschah das auch in Ichterhausen, in Dessau, in Halle, in Raßnitz, eben in einem anderen Jugendhaus, dass
bei geringen Vergehen Jugendliche von den Genossen Wärter mit
Schlagstöcken geschlagen werden. Einmal, als einige beim Rauchen im
Schlafraum erwischt wurden, wurde jeder einzeln im Nachthemd in einem
dunklen Raum geholt. Dort mussten sie sich bücken und bekamen
Schläge mit dem Schlagstock auf das „Hinterteil“. Wie widerlich kann der Mensch sein! Ein Genosse Wärter hat Jugendliche auf sein
Dienstzimmer geholt. Dort hatten sie Liegestütze mit den Kinn über
der Fußspitze des Genossen Wärter auszuführen. Ein anderer
Jugendlicher wurde im Erzieherzimmer von drei Genossen Wärter mit
Schlagstöcken, Koppel und blanken Fäusten geschlagen und nachher
in Absonderung gesteckt, bis die Verletzungen ausgeheilt waren.
Einmal hätte sich ein Jugendlicher empört: „Wir agitieren immer,
es wäre eine Schande, im Kapitalismus Kinder einzusperren und wir
machen doch das gleiche. Man braucht doch nur herum zu gucken, wer
alles im Jugendhaus sitzt.“ "Das war im Jahr 1975 gewesen",
erzählte der Altarbeiter, dessen Baubrigade ich zugeordnete war. "Dieser Jugendliche, das war ich. „Ich fand das alles empörend und
später dreht ich durch. Das tat mir innerlich
gut. Der Genosse Wärter besuchte einige Wochen das Krankenhaus. Jetzt habe ich noch zwei Jahre vor mir.“ Die älteren
Strafgefangenen, Altstrafer oder Altarbeiter, die Männer, nahmen die
Jugendlichen gegen die Genossen Wärter in Schutz. Die Genossen
Wärter zeigten vor den Altarbeitern Respekt. Die Altarbeitern
hatten viele Berufe. Fast jeder Genossen wollte von den Altarbeitern
eine Sonderleistung: der Ausbau der privaten Garage, der Bau der
Datsche, die Antenne fürs Fernsehen. Den Jugendlichen, die den
Brigaden der Männer zugeordnet waren, ging es gut. Die Abende sahen
anders aus.
Abends
werden die Kinder von den Männern getrennt. Die Männer haben ihren
Block Die Kinder haben ihren Block. Der Abend heißt Waschen und
Zählung. Die Zählung passiert wie im Sportunterricht, l, 2, 3, 4
... 11 durch. Der Block der Kinder ist vier Stockwerke hoch. Jedes
Stockwerk heißt Erziehungsbereich. Im Sprachgebrauch EB. Jeder EB
hat seinen Erzieher. Unser Erzieher heißt Handschuh. Oberleutnant
Handschuh. Das ist kein Spitzname. Oberleutnant Handschuh hält die
Zählung ab. Neben Handschuh stehen immer zwei Wachtmeister.
Erziehungsbereich mit Flur und
abgehenden Zellen**
Ein
Wachtmeister zur Linken von Handschuh, ein Wachtmeister zur Rechten
von Handschuh. Die Wachtmeister sind nicht immer die gleichen. Manche
Wachtmeister sind nervös. Sie klimpern mit den Schlüsseln, ratschen
mit Eisenstangen in den Gitterstäben entlang, und manche dreschen
hart mit Schlüsseln oder Stangen gegen die Zellentüren, als
Wecksignal. Ein Wachtmeister hat sich eine Trillerpfeife gekauft, die
Aufmerksamkeit der Kinder zu erregen, ein anderer Wachtmeister eignet
sich die Kunst der Grimasse an. Wieder ein anderer Wachtmeister die
Kunst der Chamäleons. Darum bekommen die Wachtmeister Spitznamen.
Sie sind nicht immer die gleichen. Handschuh ist immer der gleiche.
Trotzdem gibt es Witze über Handschuh.
Ein
Stammwitz ist zum Beispiel dieser: Auf einem Parteiball verbeugt sich
Handschuh vor der Frau eines Genossen und sagt: „Frau Schmidt, du
siehst heute wunderschön aus." - "Es
tut mir Leid", antwortet Frau Schmidt, "aber dieses Kompliment,
Genösse, kann ich dir nicht machen." - "Dann mach's wie ich", sagt
darauf Handschuh, "Lüge, Genossin.“
Witze
werden im Gefängnis gehandelt wie Wein, gehütet wie Brot. Nach der
Zählung geht Handschuh mit den Wachtmeistern fort. Die Wachtmeister
gehen ins „Casino". Handschuh geht nach Hause. Das „Casino"
ist ein kleiner Aufenthaltsraum, in dem die Wachtmeister ihre
„Bereitschaft" totschlagen, mit Kartenspielen und Würfeln. Das Lieblingsspiel der Genossen
Wachtmeister ist Doppelkopf. Sie spielen um Geld. Geld gibt es für
die Jugendlichen nicht. Für einen Monat Arbeit erhält jeder
Gefangenen Gutscheine. Gefangene spielen um Zigaretten oder
Sonstiges. Viele der Genossen Wärter wohnen nicht weit vom
Jugendhaus entfernt.
Handschuh wohnt in Bad Langensalza.Das
ist zehn Kilometer von unseren Zellen entfernt. Wenn man den Klang
ihrer Schlüssel nicht mehr hört, ist Handschuh in seinem
Ledermantel unterwegs, die Wachtmeister haben mit dem Spiel begonnen.
Dann sind wir Kinder allein wie Schatten. Dann heißt der Abend
Tabakstaub und Zeitungspapier zur Hand nehmen. Rauchen. Geschichten
erzählen. Schach spielen. In unseren langen weißen Nachthemden auf
dem Korridor spazieren. Besuche halten. Kein Kind ist allein. Ein
Kamerad heißt hier Spanner. Von Gespann. Spanner teilen alles. Jedes
Kind sucht sich seinen Kameraden. Nur einmal erlebte ich, daß ein
Kind allein blieb: Sascha. Sascha war fünfzehn. Ein dünnes,
kränkelndes Kind mit hellen Augen. Martin kümmerte sich einmal um
Sascha. Aber Martin war Fritz sein Spanner. Deshalb wurde Fritz sehr
wütend.
Fritz
ist unser Erziehungsbereichsältester, ist siebzehn, brutal, er kennt
die Welt der Gefängnisse. Der Aufenthalt in Gräfentonna ist sein
vierter Gefängnisaufenthalt nach Dessau, Ichtershausen und Torgau.
In
Ichtershausen, erzählt Fritz, gibt es Tunten, die andere Gefangene,
die sich nicht eingliedern können, zwangsvergewaltigen. Wer als Kind
in den Gefängnissen zu Hause ist, ohne zu Haus sein zu können,
lernt, die Welt unter den Augen des Bizeps zu sehen. Was Tunten sind,
erzählte mir Peter. Peter ist mein Spanner. Männliche Nutten, sagt
Peter, die beißen dir für Geld den Schwanz ab.
Die
Aufgabe des Erziehungsbereichsältesten ist, für Ruhe, Ordnung und
Sauberkeit zu sorgen. Wenn er diese Aufgabe erfüllt, erhält er die
einzige Freiheit, die die Gefängnisdirektionen ihren Gefangenen
bieten, die Freiheit des Privilegs, das sich der Gefangene durch
Loyalität gegenüber dem Gefängnispersonal verdienen muss.
Ein
Erziehungsbereichsältester ist, wenn er seiner Aufgabe mit
Konsequenz nachgeht, König in seinem Reich. Er kann sich jeden
Freund wählen. Seine Wahl ist eine Auszeichnung. Martin ist ein
faules Kind. Aber er hat keine Angst, daß ihm, wenn er aus Faulheit
die Arbeitsnorm nicht erreicht, Ordnungsübungen drohen: Toiletten
reinigen mit Zahnbürste, Gefängnishof kehren.
Mannschaftsschuhputzen. Denn Martin dient Fritz mit seinem Körper.
Über Fritz kommt niemand an Martin heran. Aber als Sascha auf
unseren EB kam, nahm Martin seinen Waschplatz neben Sascha ein, stand
während der Zählung neben ihm, schaffte seine Arbeitsnorm über die
hundert Prozent und gab Sascha vom Überschuss ab.
Während
wir aßen, aß Martin nichts, Martin schob seinen Teller Suppe Sascha
hin, der ihn gierig nahm. All das führte dazu, daß die nächste
Exekution eine beschlossen Sache war.
„Schau
nur den Mond an, noch ein paar Tage und er ist voll, kann ja was
werden, so wie Fritz kocht", sagte Peter, als wir uns beim
Schachspielen über Martin und Sascha unterhielten.
Der
Mond hat seine Besonderheiten in der Braugasse. „Zum Viertelmond",
sagt Peter, der alle Vorkommnisse aus Kreisläufen kommend sieht,
„sind Kinder wie Fritz noch Kameraden. Wenn du nur deine
Arbeitsnorm schaffst, kommst du immer davon. Zum Halbmond sind sie
Banditen, aber gutmütig. Sie klauen den Wachtmeistern Zigaretten und
Schokolade, manches davon geben sie ab. Zum Vollmond aber werden sie,
was sie sind: Verbrecher. Alle Dummheiten müssen sie umsetzen.
„Ich
habe bald ein ganzes Jahr die Abstände ihrer Wandlungen beobachtet,
alles stimmt." Dieses Spiel, das nun nach dem Turnus des Mondes
ausgerichtet ist, gibt unserem Gefängnis etwas von der Bedeutung
einer Festlichkeit des Mittelalters. Im Mittelalter, lernte ich aus
den Büchern, berauschten sich die Völker an Hinrichtungen und
öffentlicher Folter, die Damen ließen sich beim Zuschauen begatten.
Wenn die Wachtmeister in den Casinos würfeln, wenn die Erzieher mit
ihren Frauen schlafen, ist Fritz der oberste Herr. Er wählt sich
Adjutanten, die seine Sklaven sind. Dann heißen
die Abende Blut.
Drei
Sätze kenne ich über den Mond. Der erste Satz heißt: Der Mond ist
eine platte Wunschbüchse. Der zunehmende und der Viertelmond, der
Halb- und der Dreiviertelmond sind platte Wunschbüchsen. Einige
werden ausgewählt, ihre Geschichte, weshalb sie ins Gefängnis
gekommen sind, zu erzählen. Nach diesen Geschichten hält Franz mit
seinen Adjutanten Zwiesprache. Vorbereitet wird ein Gerichtsverhandlung. Es ist die gleiche Verhandlung, die der Gefangene schon einmal, bevor er hier ankam, über sich ergehen lassen musste und dass er, als er in einen Erziehungsbereich eingegliedert wurde, den anderen Gefangen peinlich genau erzählen musste. Nun würde sich also alles wiederholen. Die Verhandlung.
Das Urteil. Aber der Erzähler wird noch einmal davonkommen.
Vielleicht muss er Wasser saufen, bis er sich erbricht. Vielleicht
wird ihm sein Körper mit Schuhcreme verziert. Vielleicht bekommt er
Brusthufe: pro Monat der Verurteilung einen kräftigen Faustschlag
gegen den Brustkorb. Wer nicht kräftig draufschlägt, erhält das
gleiche Urteil, ohne Verhandlungsspiel.
Anderer
Art sind die Exekutionen. Ihnen gehört der zweite Satz: Der Mond ist
ein Teller blutiger Suppe. Wenn es Fritz aus Langeweile unerträglich
wird, denkt er sich besondere Spiele aus. Als Fritz Martin mit Sascha
sah, als er sah, daß Martin Sascha seine Schokolade brachte, ihn
streichelte und auf den Mund küsste, war die nächste Exekution
beschlossen.
Der
dritte Satz über den Mond kommt von Oberleutnant Handschuh. Klaus
und Mark haben über die Möglichkeit gestritten, ob der Mond nun
eben doch nichts weiter ist als eben der Mond.
„Eben",
sagte Handschuh im Vorübergehen, „der Mond ist eben der Mond. Im
Traum sehen wir manches Besondere, auch den Mond, aber das Besondere
bringt nur das Besondere hervor. Unser Direktor träumt bestimmt auch
nicht schlecht. Alter der Mond, nun, der Mond bleibt eben doch nur
der Mond. Guten Tag."iv
Deshalb
konnte Handschuh nicht sehen, daß der Mond an diesem Abend als
Teller blutiger Suppe kam. Die Exekution bereitete Fritz über eine
Woche vor. Jeden Abend kam er in Saschas Zelle.
Jeden
Abend malte er einen dünnen schwarzen Strich an die Wand. Jeden
Abend sah er Sascha nicht an, ging wortlos. Es ist die ungeheure
Langsamkeit, mit der er sich in Bewegung setzt, die alles noch
dunkler und voller Gefahr werden lässt. Martin schlug er die
Schneidezähne aus, zwei Blutergüsse auf die Stirn. Martin hat
Sascha erzählt, dass die nächste Exekution ihm gilt. Obwohl Sascha
noch ein Kind war, lernte er schnell und gründlich die Gesetze der
Gefängniswelt. Zu einem Wachtmeister oder zum Erzieher zu gehen, war
ohne Gewinn. In den Jugendhäusern galt die Systematik der
Selbsterziehung. Die Erziehung des Gefangenen durch sich selbst. Diese
Systematik ist kompliziert und überfordert die ungeduldigen oder die
nervösen Existenzen der Erzieher und Wachtmeister. Die Gefangenen
üben die Erziehung hierarchisch aus. Ein Fritz löst den anderen
ab.Wenige Erzieher haben Handschuhs Qualität. Aber jede Meldung ist
ein Anschiss. Meldung aus Selbstschutz ist Anschiss aus Egozentrik.
Der Anscheißer ist ein Denunziant. Dem Denunzianten gehört nichts
als in die Fresse. Der Denunziant muß geprügelt werden, bis er die
Sprache verliert.
Die
Exekution nach Fritz ist einmalig brutal. Die Exekution durch die
Belegschaft dauert eine kaum zu überstehende lange Zeit.
Sascha
besaß einen Schatz, den er, unglaublich für uns, in unser Gefängnis
gebracht hat. Sascha besaß eine Bibel. In diesem Buch laß Sascha
jeden Abend. Die Bibel war Saschas Spanner. Diesem Buch vertraute er
wohl alles an. Sascha versteckte die Bibel hinter einem losen Ziegel,
unter seinem Bett.
„Wie
ist das mit Gott", fragte ich Sascha am siebenten Abend, „Fritz
wird dir sehr weh tun." „Vielleicht kann er mir weh tun",
antwortete Sascha, „aber Gott kann er nicht einmal kratzen."
„Warum mußt du's auch mit Jungen treiben", sagte Peter, der
alle Neuen mit Zigaretten versorgt, bis sie sich Tabak kaufen
können.“ „Ich weiß nicht, ich will das alles nicht, das mit
Martin nicht, wer ist schon Martin, ein armer Homo, vielleicht können
sie mir weh tun, aber Gott nicht, Gott nicht." Dann sah Sascha
mit wasserblauen Augen zum siebenten Strich an die Wand und weinte.
Draußen fingen die Geräusche an. Es gab nichts mehr für uns zu
tun. Wir gingen unsere Schachpartie beenden. Wir spielten die spanische
Partie. „Immer deine Pferde", sage ich, als die Geräusche auf
dem Korridor lauter werden. „Sie kommen", sagt Mark. Mark und
Klaus stehen vor der Schlafzelle und rauchen. „So ein Dummkopf",
sagen sie noch und meinen Sascha. „Paß doch auf, ich geb 'deinem
Läufer eins drüber", sagt Peter. Aber ich kenne ihn. Immer
gibt er zu früh an.
„Mein
Pferd", sage ich, „mein Pferd und Schach." An manchen
Abenden ist der Korridor durch ein Gitter in zwei Hälften geteilt.
Hinter dem Gitter steht Fritz mit einer Blechschüssel. In der Mitte
der Kinder, ganz in die Stäbe gequetscht, hockt Martin. Er hält
sein Nachthemd übern Bauch. Die Adjutanten drehen Sascha die Arme
auf den Rücken. Silvo, der auf jeden Pfiff wie auf sein verabredetes
Zeichen hört, rührt in eine, Teller Wasserfarbe rot. ,,Dein Pferd,
blöder Gaul, du passt nicht auf, ich brenn' ihm eins drüber."
„Brenn'
ihm eins drüber, ich hab den Faden verloren." ,,Was ist das für
ein Spiel. Will ich dir mal was sagen. Hauptbahnhof Leipzig also. Um
mich herum eine Schlägerei. Polen und Deutsche.Keine Polizei. Noch
lange nicht. Hab ich gegen einen Rumänen gespielt. Königsindisch.
Siebzehn Stunden. Von zu Hause ausgerückt, Ich brauchte das Geld. Um
hundert Mark also. Er: weiß."
Solche
Geschichten kennt man. Die Welt unter den Augen des Bizeps. Gleich
wird er dem Rumänen seine Uhr abnehmen. Dann die Brille vom Kopf
schlagen. Davon leben wir. Peter, der Geschichten erfindet, um
sich durch Originalität zu schützen. Martin, der sich aus Mädchen
nichts macht, der seinen Wert in den täglichen Einnahmen und
Vergünstigungen sieht. Fritz, der jetzt in die Blechschüssel pisst.
Sascha, den Silvo von der anderen Seite aus an die Gitterstäbe quetscht, daß
sich die Körperchen Saschas und Martins berühren, und dann Sascha die rote
Farbsuppe und nachher den Urin aus der Schüssel saufen lässt.
Die
Stimmen auf dem Korridor haben den Klang zertretener Trompeten. Unser
Schachspiel wird oft unterbrochen, von den Anweisungen, die Fritz
seinen Adjutanten gibt.
Dann
der Mond. Die Gesichter des Mondes sind nicht an Orte gebunden. In
unserer Zelle steht der Mond rotgelb. Einmal habe ich ein Ei
aufgeschlagen. Darin war Dotter mit totem Küken gemischt. Rotgelb.
Ein Ei. Untersuchungshaft Kassberg. Das ist ein Gefängnis in
Sachsen. Oder es war ein Frühstück bei Madelaine. Ralf, Madelaine
und ich. Wir saßen immer zusammen, wenn ich nach Rudolstadt gekommen
war, um sie auf der Bühne die Tragödien der Liebe spielen zu sehen.
Ralf
ist mein Bruder. Früher lebten wir in Chrieschwitz, einem kleinen
Vorort im Vogtland, in einem hellen Haus mit Schlangentapeten. Diese
Tapeten waren ein Mythos, und ich litt unter Schlafstörungen und
Halluzinationen. Aber eines Tages tauschte Ralf seine
Drittes-Reich-Briefmarkensammlung gegen einen Wolfshund ein. Ein
stolz schreitendes Tier. Darum nannte Ralf den Hund Prinz.
Nach
Chrieschwitz zogen meine Eltern, weil ich ein lungenkrankes Kind war.
Hier erholte sich meine Lunge, als ich mit Prinz und Ralf durch den
Schnee eines langen Winters die angrenzenden Hügel, hinter denen die
Wälder in den Horizont wuchsen, erstürmte und für Stunden täglich
die Anweisungen meiner Mutter vergaß, die verharrschten Wege nicht
zu verlassen. Aber der Frühling kam und Prinz verschwand. Die
Schlangentapeten, die ich nicht mehr beachtet habe, verdrehten meine
Träume erneut in dumme Hexereien. Als Prinz zurückkam, kam er mit
der Tollwut in den Augen und ums schäumige Maul. Als er mich nicht
mehr erkannte, Ralf nicht und nicht die anderen Geschwister,
als sein Fell nicht mehr aufhören wollte sich zu sträuben, warf
mein Vater einen Strick um Prinz, und der Abdecker erschoß den
Spielgefährten eines schönen Winters für eine Mark. Das war der
Anfang vieler Abschiede. In den Tragödien sehe ich die alten Freunde
lebend, und das Glück klopft in mir an.
Ja,
es war ein Frühstück bei Madelaine. Unterm Hain, ein schmaler Weg,
Treppen steigen vom Marktplatz zur Heidecksburg hinauf, von der Burg
führt der Weg zum Maus 12 durch Buchen, Eichen und Tannen. Der Stadtlärm auch Rauch der Industrieschornsteine liegt unter uns, hinter dem Rauch eine
weite Sicht. Ralf spielte Gitarre. Madelaine Violine ungarisch. Und
meine Stimme erhob sich klar über der Stadt in unserer grünen
Schwemme.
Jetzt
wird mir leicht
Das
Dunkel weicht
aus
unsrer warmen Scheune
Der
Regen geht
Der
Wind verweht
die
schwarzen Regenträumeiiv
Die
Schallplatte „Vogtländische Volksmusik" brachte Ralf
Madelaine als Geschenk mit. Denn immer wollte Madelaine wissen wie
die Mundart unserer Heimat ist. Dann pellte ich das Ei auf, und im
Hintergrund lief dazu, gesprochen von Stefanie Hertel:
„A
Bauer kam auf Plaue rei, sei großer Gung woar aa dorbei - und weil
se beide hungrig sei, da kehrn se in a Wirtshaus ei. Bestelln sich
Butterbrot und Eier und muffeln wie de Widerkeier. Auf amol dud der
Gung ne Aldn, e durchgeschnittnes Ei hiehaldn. - Guck, Vader, do ho
iech entdeckt, deß in de Ei a Hienl steckt. - Im Himmelswilln,
schreis ned so laud, deß ewwa goar dr Wird herschaud Friß ner fix
nei, e es jemand sieht, sonst zahln mers Hienle aa noch miet“.vi
Wir
haben schön gelacht. Ralf, Madelaine und ich. Madelaine, unsere
Freundin, bei der wir auch manche Nacht so lagen, eine Kollegin
meines Bruders am Stadttheater Rudolstadt. Dort ist mein Bruder als
Schauspieler angestellt. Und dort spielt Madelaine die Ophelia und
bringt das Publikum zum Weinen, wenn sie die Blumen aus der Luft
zupft und mit dem Sterben beginnt. Ralf spielt nicht den Hamlet. Als
er an einem politischen Liederabend des Ensembles Brechts „Vom
Mitmensch" rezitierte:
Schon
als ein Mann, die Monde zählend
Ihn
herauszog wie an einem Stiel
Schrie
er laut auf, als er, rot, elend
Und
klein aus einem Weibe fiel.vii
brauchte
er zwei Nächte dazu, die Politische Polizei davon zu überzeugen,
daß er nicht selbst der Verfasser des Gedichtes ist. Aus
Sicherheitsgründen aber, oder, wie es in deren Sprache heißt, auf
Bewährung, wurden meinem Bruder Hauptrollen auf unbestimmte Zeit
nicht mehr gegeben. So kam Ralf zur Rolle des Geistes von Hamlets
Vater und darf die Worte nicht sprechen:
Es
ist nicht, und es wird auch nimmer gut
Doch
brich, mein Herz, mein Mund muß schweigen.vviii
„Und
du bist der Einzige, der nun weiß, worüber die Ophelia jammert wie
ne Katze", sagte Peter, als ich ihm die Geschichte erzählte.
„Und
du hättest sehen sollen, wie Madelaine ins Textbuch gebissen hat,
als das Küken aus der Pelle schielte", sagte ich. Und wir sahen
aus einer Zelle des Aufnahmetrakts in den Gefängnishof und dachten noch, daß der Knast schon nicht so hart sein wird. Die Wachtmeister
gehen mütterlich mit den Neuen um. Ihre Neugier ist groß. Denn jede
Neuigkeit unterbricht für eine kurze Zeit die Langeweile der
Unterhaltung mit den Würfeln oder den Karten - und manch ein Genosse Wärter verzockt auf die Wiese nicht seinen Lohn.
Die
Wachtmeister langweilen sic in den „Casinos". Handschuh
schläft mit seiner Frau. Bad Langensalza. Das ist zehntausend Meter weit weg
vor unseren Zellen. Unsere Zellen sind nachts offen.
Manchmal
ist der Korridor durch ein Gitter getrennt. Durch die Gitterstäbe
binden sie Saschas Arme
mit den anderen Armen fest. Fritz schlägt Martin in den Rücken und
lacht. Martin tritt Sascha in die Hoden. Sascha gleitet konvulsivisch
um Steinboden hinab. Er muss Silvos Glied in den Mund nehmen. Dann
von Christlob. Dann von Carlos. Dann von Martin. Dann erbricht Sascha
einen dicken Strahl. An seiner roten glänzenden Haut gleiten
Erbrochenes, Urin und Samenreste.
Die
rote Wasserfarbe glänzt. Die rote Farbe um das Wasserblau seiner
weinenden Augen. Dieser
Abend heißt Blut.
„Schach matt", ruft Peter, „meine Dame
gedeckt durch Läufer. Macht zehn Zigaretten." In Ordnung",
sagte ich, „jetzt spielen wir um 20 Zigaretten." Und während
ich meine Figuren neu ordne, haben sich die Geräusche auf dem
Korridor zerstreut. Sascha fällt Mit einem dumpfen Aufschlag in
seine Zelle. Lange noch werden wir sein sich in Krämpfen entladendes
Weinen hören.
„Der
wird keine Ruhe haben", sagt Mark. „Wie lange dauert
Vollmond", fragt Klaus. „Alles Mist mit dem Mond", sagt
Mark noch. „Sag so was nicht", antwortet Peter und verteilt
seine gewonnenen Zigaretten, „der Mond hat seine Bedeutung."
„Aber
ich scheiß auf den Mond, was sind denn das für Gefängnisse, hat
dein Bruder gerufen, als er davon erfuhr, daß du jetzt im Gefängnis
bist, darum kam die Politische Polizei ein zweites Mal und nahm ihn
wieder fest. Er mußte eine Erklärung unterschreiben, daß er nicht
beabsichtigt, unser Land verlassen zu wollen. Dann haben sie ihm den
Ausweis weggenommen und ein Ersatzpapier gegeben, womit er aber keine
Grenze passieren kann. Dann erst durfte er gehen", erzählte
Madelaine, als sie mich besuchen kam. Wir spielten die Revanche und
ich verlor auch die zwanzig Zigaretten an Peter. Dann ging das Licht
aus und wir legten uns schlafen. In dieser Nacht hörte keiner,
wie Sascha sein Schlafkleid zerriß. Am Morgen aber sahen alle den
rotverkrümmten Körper in Zelle 17, den Sascha in dieser Nacht
verlassen hatte.
Die Bibel fand niemand mehr.
(Frühsommer
1988)
Nachbemerkung:
„[Das war] genau wie bei den Nazis“, sagte mein Vater nach der Lektüre
im Herbst 1989, in der neuen elterlichen Wohnung in Berlin-West
(Reinickendorf), Frauenfelder Weg 28.
(10.8.2013)
Zuerst
gedruckt in: „Das Glück in Mäusebach. Erzählungen“. Berlin,
September 1989.
Neu
durchgesehen, 10.8.2013.
Endnoten
i
Die Verwirrung des Zöglings Törleß. Motto eingefügt am 10.8.
2013. Die Erzählung enthielt ursprünglich kein Zitat. Die
Törleß-Lektüre lag ungefähr in der Zeit des ersten Fassung der
Bibel-Erzählung.
ii Motto Nachgetragen 18.2013. IM-Michael - Spitzelbericht vom [Datum folgt]. IM „Michael“ war ein Erzieher im DDR-Jugendknast in Halle, der zum als inoffizieller Mitarbeiter
(IM) für den Staatssicherheitsdienst der DDR (Ministerium für
Staatssichherheit - MfS), der Bezirksverwaltung (BV) Halle, von 1964
bis 1989 tätig war. In Folge der langen Zeitspanne, schrieb er hunderte
lakonische, teils atmosphärisch dichte, teils inhaltlich-elende Spitzelberichte wie diesen. Der Vorgang "Michael" liegt dem Autor ausführlich vor.
iii
Dieser Absatz der Erzählung wurde geschrieben und neu hinzugefügt
am 10.8. 2013.
iv
Die Belesenheit dieses Erziehers im DDR-Jugendstrafvollzug ging über
weit das Gros des DDR-Strafvollzugspersonals hinaus. Vgl. Johannes
Borowski, Mäusenest, in: Boehlendorff und Mäusenest, Union Verlag,
2. Auflage 1966, S.101.
v
Wolf Biermann, Die grüne Schwemme, LP/CD „Liebeslieder“, 1.
Lied, ©1975/1996 Wolf Biermann
vi
Vogtländische Anekdote, Titel und Publikationsjahr der
Eterna-Schallplatte sind mir entfallen.
vii
Bertolt Brecht, Hauspostille, Zweite Lektion: Exerzitien, 1. Gedicht,
Vom Mitmensch, in: Die Gedichte Bertolt Brecht in einem Band, FFM, S.
190.
viii
W. Shakespeare, Hamlet, 1. Aufzug, 2. Szene (Zitat-Übersetzung: AR).