von Axel Reitel
Als der Schriftsteller Milan Kundera im Jahre 1981 vom Journalisten Jürgen Serke auf dem Slawisten-Kongress in Philadelphia einen Gedichtband von Ivan Blatný (21. Dezember 1919 in Brünn - 5. August 1990 in Colchester) in die Hand gedrückt bekam, begann er zu schwärmen: „Den musst du besuchen. Wenn du wissen willst, wie phantastisch tschechische Lyrik in den vierziger Jahren war, dann wirst du es bei ihm erfahren. Einer der großen. Und Momente dieser Größe findest Du in diesem Band.“[1]
Zu dieser Zeit lebte Ivan Blatný bereits seit drei Jahrzehnten zurückgezogen in einerpsychiatrischen Anstalt, dem „Warren House“ im St. Clemen's Hospital, bei Ipswitchtown, in England. Im Jahre 1948 hatte sich Blatný in London von einer tschechoslowakischen Delegation abgesetzt, um den geahnten stalinistischen Säuberungen in der Heimat zu entgehen.
Und Ivan Blatný sollte Recht behalten. Beispiel liefernd in Erinnerungen zu bringen wäre an dieser Stelle der Historiker Záviš Kalandra, dem in Prag ein Schauprozess gemacht wurde, bei dem von vornherein feststand, dass man am Ende den „Angeklagten“ aufhängen würde.
Ein weiteres Vernichtungsmittel gegen ihre vermeintlichen politischen Gegner, war für die an die Macht gelangten kommunistischen Putsch- Spezialisten schließlich deren Entführung aus dem Ausland. Ein Gutteil dieser Entführten wurde im Auftrag von Partei und Geheimdienst nach der „Rückführung“ dann auch tatsächlich umgebracht.
Dass Ivan Blatný auch seine eigene Entführung zu Recht befürchtete, legen die Akten der tschechischen Staatssicherheit nahe. Aber wo konnte er sich jetzt sicher vor dem Zugriff verbergen? Als Ivan Blatný als Zufluchtsort schließlich eine „Klapsmühle“ wählte, ging sein Plan zumindest soweit auf, dass tatsächlich die halbe Welt von einmal glaubte, er sei „verrückt“ geworden. Zu seinem Leidwesen ging aber auch das Anstaltspersonal im „Warren House“ davon aus.
Was Ivan Blatný fortan hinter den Anstaltsmauern schrieb, wurde ihm von den Wärtern im Warren-House Personal weggenommen, um es als das Geschreibsel eines Nicht-Zurechnungsfähigen wegzuschmeißen. Dies änderte sich – welch wundersame Fügung – mit einem Schlag im Jahre 1976.
Zu dieser Zeit war Ms. Frances Meacham als Krankenschwester tätig. Durch einen Angestellten kam ihr die Liste der Insassen des „Waren House“ in die Hände. Dabei machte sie der Name Ivan Blatný aus einem höchst erklärlichen wie schicksalhaften Grund hellhörig.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte Frances Meacham eine Liebesbeziehung mit einem tschechischen Piloten, der in der englischen Luftwaffe gegen Nazideutschland kämpfte.
Diese Beziehung zerbrach zwar nach dem Krieg, doch besuchte Ms. Meacham die CSSR immer wieder. Dieser Ivan Blatný, sagte sie sich, muss ein Tscheche sein.
Sie besuchte Ivan Blatný im „Warren House“ und bekam von ihm am Ende ihres Besuchs einen Packen Zettel mit der Bemerkung in die Hand gedrückt, die würden sonst doch nur „vom Wärter“ weggeworfen.“[2] Sie erkannte sofort, dass sie kein Geschreibsel eines Geisteskranken sondern hohe Dichtkunst las.
In der Folge sorgte Ms. Meacham mit Erfolg dafür, dass Ivan Blatný ab sofort einen „Tisch in der Ecke einer Anstaltswerkstätte“ bekam, wo er in Ruhe schreiben konnte: die Wärter warfen hinfort nichts mehr weg und Blatný bekam sogar eine Schreibmaschine. Derweil nahm sie, wieder mit Erfolg, Kontakt auf mit dem in Kanada ansässigen tschechischen Exil-Verlag „Sixty-Eight-Publishers“ auf.
Es war der vom Verlag veröffentlichte Band „Ivan Blatný Pomocná škola Bixley“ (1979), der Milan Kundera auf dem Slawisten-Kongress in Philadelphia schwärmen ließ. Weitere Gedichtbände Ivan Blatnýs folgten 1987 und posthum 2011.
In den Jahren 2013 und 2014 legte der Schriftsteller und Dichter Frank Wolf Matthies „Bixley“ in deutscher Übersetzung komplett in zwei Bänden vor, jedoch „ausschließlich für den privaten Gebrauch und als Geschenk gedacht“, was der Rezensent mehr als bedauerlich findet, denn Milan Kunderas Schwärmen lässt sich bei der Lektüre im Jahr 2015 immer noch nachvollziehen. Mit seinen Übertragungen ist wirklich Frank Wolf Matthies etwas Wunderbares gelungen.
Bereits der Titel „Hilfsschule Bixley“ verweist auf ein zu erwartendes singuläres Ereignis und ist eines schon selbst. Man kann lange auf dem aktuellen „Lyrik-Markt“ nach einem Vergleich suchen: die Gedichte der Bixley-Bände geben sich nicht nur so. Die frühe Lyrik Ivan Blatnýs umfasst insgesamt vier Bände, der letzte erschien gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erschien. Zu „Quellen der Inspiration“(Serke) seiner Inspiration zählte Ivan Blatný die Dichtungen von T.S. Eliot, Carl Sandberg, Dylan Thomas und Walt Whitmann.
Eines seiner Hauptthemen ist das Glück auf dieser Welt. In einem Gedicht aus dem Jahr 1941 schrieb dazu Blatný: Siehe, wir sind in der Landschaft der neuen Wiederholungen, / und die Stadt auf den Hügeln unter uns tritt aus dem Morgen wie aus einem Bade heraus […][3].Ivan Blatnýs später „Bixley-Dichtung“ gibt sich in ihrer interessierten Kontemplation noch immer diesen Bildern hin. Eine Kostprobe aus Band I. Ivan Blatný nennt das Gedicht schlicht „Anarchie“. Jede der insgesamt sieben Verse dieses Gedichtes spricht der Welt zugewandt. Das lyrische Ich im Gedicht lebt noch immer gern und hat doch einen Kontrahenten, den es in Gegenüberstellungen zu bannen versucht.
Hier ist die Welt ohne Mief
Hier ist die Welt ohne Chief
Tschechisch heißt Eis mit Schoko Eskimo
Wie immer sitze ich froh
auf der dritten Bank in der Felixtown Road
Immer am Wochenende
Behütet – doch bis Ende?
Mit Berücksichtigung der Biografie Ivan Blatnýs wäre jener „Chief“ einerseits mit dem kommunistischen Herrscher„Stalin“ entschlüsselbar, doch kann jeder ex-beliebige Dogmatiker gemeint sein, wobei die Nennung dieses oder jenes Namens das Gedicht zu Fall bringen würde. Offenkundig verweist dieser Fakt auf die Unvereinbarkeit zwischen der Poesie, die die Freiheit ist, und politische Verordnung, die gezielte Unfreiheit ist.
Anstatt Klage bevorzugt das Gedicht Bilder der Freude und des Scherzes und manifestiert ein konstruktives Interesse an einem Leben, das keine Feindbilder nötig hat. Die einzige Bedrohung bleibt bestehen im gedimmten Codewort „Chief“, dessen zu ahnende hierarchische Ordnung(und ihrem Heer) aber in der Felixtown Road ausgeschlossen bleibt, was den heiteren Grundton des Gedichts bestimmt.
Dass lyrische Ich, „froh“ darüber, sich auf immer die gleiche Bank niederzulassen, verweist auf Blatnýs Philosophie der Heimat, in der eine Bank gleichfalls Hoheitsgebiet der Unantastbarkeit menschlicher Würde ist.
Die Unantastbarkeit dieser Würde speist sich aus den einfachen, seit Kinderzeit bewahrten Freuden. Sei es nun wie bei Blatný im darauffolgenden Vers eine tschechische Eis-Sorte oder wie im verwandten Gedicht einer antiken Schönheit mit Namen Sappho ein „Apfel“[4]
Einsam rötet und ründet sich
Zuhöchst im Gezweige
Der süßeste Apfel.
Vergaßen die Pflücker ihn?
O sie vergaßen ihn nicht;
Zu fern nur
Reift er den Händen ...
Wer die Verwandtschaft beiden Gedichte erkennt, sei herzlich aufgenommenin den Kreis der wahren, echten Leser. Felixtown Road – Felix, Felice, das Glück. Was ist in meinen Augen Glück? So lautet in beiden Gedichten die Frage. Und seit den frühesten Zeiten ist die Lyrik der Antwort auf diese Frage auf der Spur. Und das weitab von den glücksverheißenden Meta-Erzählungen politischer Utopie. Denn am Ende eines Gedichtes befindet kein Reich sondern es fehlt sogar jede Spur usurpatorischer Bedrängnis.
Ebenfalls kein regierendes Amt hindert im Gedicht der Sappho daran zeitlos über jenen „süßesten“ Apfel nachzusinnen, sowie auf der Felixtown Road die Anwohner von „deskriptiv-pragmatischen Sehweisen“ (Joisten) wie in Diktaturen keine Notiz nehmen.
Mit dem Denken im anderen nur zu bekannten Leben, zusammengepfercht auf einem Gesellschaftsfloß „der Medusa“ (Géricault) - zu peinigen, wer nicht spurt, bis er erstarrt - können beide nichts anfangen.
Dennoch versteckt sich Blatný in seinen Gedichten nicht: er ist in nahezu jedem seiner Verse zu sehen. Sein lyrisches spricht heiter im Waren House die Wahrheit aus: „ich habe heute zwei Stifte und jede Menge Papier / Tinte und Federn schäkern vor Tisch“. Das Synonym schäkern steht für flirten. Und auch hier ist es ein Flirten von Clowns eher, die am Ende die vermeintlichen Götter hinter ihren falschen Masken – mit Papiergeschossen natürlich – schließlich hervor zerren.
Diese Haltung folgt ebenfalls – der Rezensent kommt zum Schluss – der bildende Künstler Lutz Leibner mit seinen gelungenen grafischen Beigaben. Was die Entsprechung von Bild und Text betrifft, sei auf die allgemeingebräuchliche Reduzierung kongenial verzichtet. Lutz Leibners (unbetitelte) Bilder lassen in beiden Bänden die Gedichte Blatnýs förmlich zu Form und Farbe werden, ohne mit seinen Bild-Kompositionen auf bloße Dekoration anzuzielen.
Im Gedicht „Schicksal“ formulierte Blatný ein philosophisches Bonmot, der es zumindest geschafft hat, inzwischen in aller Munde zu sein: „Du hast keine Chance also nutze sie“. Der Gedanken-Ball wird in den Schlussversen des Gedichtes „Anarchie“ aufgefangen. Das lyrische Ich sitzt auf der Bank in der Felixtown Road:
Immer am Wochenende Behütet – doch bis ans Ende?Zwar spielt der „Chief“ im Schlussvers unsichtbar noch einmal seine unheimliche Rolle. Solange Felixtown Road aber existiert – werden Gemeinschaften, die jeden zur selben Sitte zwingen, keine Einkehr finden, wiewohl der Grauton im Schlussvers fragt, ob das bis ans Ende gelingt.
Behütet – doch bis ans Ende?
Die Bilder von Lutz Leibner nutzten die ihnen zur Verfügung stehende räumliche Polarität in beiden Bixley-Bänden für einen von Blatnýs Gedichten inspirierten zwar doch – wie gesagt - eigenständigen feinsinnigen wie lebendigen Dialog mit dem Dingen, was vorzüglich gelingt. Ohnehin die einfach großartigen Übertragen von Frank Wolf Matthies.
PS: Wie der Rezensent erfuhr, befindet sich „Hilfsschule Bixley Band III“ in Progress.
Ivan Blatný, Hilfsschule Bixley & andere Gedichte. Mit Bildern von Lutz Leibner. Ausgabe nur für Privat und zum Verschenken. Nicht paginiert. Nachdichtungen von Frank Wolf Matthies. Alle Rechte beim Nachdichter.
Ivan Blatný, Hilfsschule Bixley II. Gedichte. Mit Bildern von Lutz Leibner. Ausgabe nur für Privat und zum Verschenken. Nicht paginiert. Nachdichtungen von Frank Wolf Matthies. Alle Rechte beim Nachdichter.
Besuchen Sie auch die Internetseite des Nachdichters:
www.frankwolfmatthies.de
Erstveröffentlichung: http://tabularasamagazin.de/artikel/artikel_6264/ [1]Jürgen Serke, Die verbannten Dichter, Fischer TB 1982, S.178.
[2] Ebenda, S.175.
[3] Jürgen Serke S. 181.
[4] Sappho, Der Apfel, übersetzt von Rudolph Bayr, in: Die Klassische Gedichte der Weltliteratur, Verlag Das Bergland Buch, Salzburg/Stuttgart 1966, S.137.
Zu dieser Zeit lebte Ivan Blatný bereits seit drei Jahrzehnten zurückgezogen in einerpsychiatrischen Anstalt, dem „Warren House“ im St. Clemen's Hospital, bei Ipswitchtown, in England. Im Jahre 1948 hatte sich Blatný in London von einer tschechoslowakischen Delegation abgesetzt, um den geahnten stalinistischen Säuberungen in der Heimat zu entgehen.
Und Ivan Blatný sollte Recht behalten. Beispiel liefernd in Erinnerungen zu bringen wäre an dieser Stelle der Historiker Záviš Kalandra, dem in Prag ein Schauprozess gemacht wurde, bei dem von vornherein feststand, dass man am Ende den „Angeklagten“ aufhängen würde.
Ein weiteres Vernichtungsmittel gegen ihre vermeintlichen politischen Gegner, war für die an die Macht gelangten kommunistischen Putsch- Spezialisten schließlich deren Entführung aus dem Ausland. Ein Gutteil dieser Entführten wurde im Auftrag von Partei und Geheimdienst nach der „Rückführung“ dann auch tatsächlich umgebracht.
Dass Ivan Blatný auch seine eigene Entführung zu Recht befürchtete, legen die Akten der tschechischen Staatssicherheit nahe. Aber wo konnte er sich jetzt sicher vor dem Zugriff verbergen? Als Ivan Blatný als Zufluchtsort schließlich eine „Klapsmühle“ wählte, ging sein Plan zumindest soweit auf, dass tatsächlich die halbe Welt von einmal glaubte, er sei „verrückt“ geworden. Zu seinem Leidwesen ging aber auch das Anstaltspersonal im „Warren House“ davon aus.
Was Ivan Blatný fortan hinter den Anstaltsmauern schrieb, wurde ihm von den Wärtern im Warren-House Personal weggenommen, um es als das Geschreibsel eines Nicht-Zurechnungsfähigen wegzuschmeißen. Dies änderte sich – welch wundersame Fügung – mit einem Schlag im Jahre 1976.
Zu dieser Zeit war Ms. Frances Meacham als Krankenschwester tätig. Durch einen Angestellten kam ihr die Liste der Insassen des „Waren House“ in die Hände. Dabei machte sie der Name Ivan Blatný aus einem höchst erklärlichen wie schicksalhaften Grund hellhörig.
Am Ende des Zweiten Weltkrieges hatte Frances Meacham eine Liebesbeziehung mit einem tschechischen Piloten, der in der englischen Luftwaffe gegen Nazideutschland kämpfte.
Diese Beziehung zerbrach zwar nach dem Krieg, doch besuchte Ms. Meacham die CSSR immer wieder. Dieser Ivan Blatný, sagte sie sich, muss ein Tscheche sein.
Sie besuchte Ivan Blatný im „Warren House“ und bekam von ihm am Ende ihres Besuchs einen Packen Zettel mit der Bemerkung in die Hand gedrückt, die würden sonst doch nur „vom Wärter“ weggeworfen.“[2] Sie erkannte sofort, dass sie kein Geschreibsel eines Geisteskranken sondern hohe Dichtkunst las.
In der Folge sorgte Ms. Meacham mit Erfolg dafür, dass Ivan Blatný ab sofort einen „Tisch in der Ecke einer Anstaltswerkstätte“ bekam, wo er in Ruhe schreiben konnte: die Wärter warfen hinfort nichts mehr weg und Blatný bekam sogar eine Schreibmaschine. Derweil nahm sie, wieder mit Erfolg, Kontakt auf mit dem in Kanada ansässigen tschechischen Exil-Verlag „Sixty-Eight-Publishers“ auf.
Es war der vom Verlag veröffentlichte Band „Ivan Blatný Pomocná škola Bixley“ (1979), der Milan Kundera auf dem Slawisten-Kongress in Philadelphia schwärmen ließ. Weitere Gedichtbände Ivan Blatnýs folgten 1987 und posthum 2011.
In den Jahren 2013 und 2014 legte der Schriftsteller und Dichter Frank Wolf Matthies „Bixley“ in deutscher Übersetzung komplett in zwei Bänden vor, jedoch „ausschließlich für den privaten Gebrauch und als Geschenk gedacht“, was der Rezensent mehr als bedauerlich findet, denn Milan Kunderas Schwärmen lässt sich bei der Lektüre im Jahr 2015 immer noch nachvollziehen. Mit seinen Übertragungen ist wirklich Frank Wolf Matthies etwas Wunderbares gelungen.
Bereits der Titel „Hilfsschule Bixley“ verweist auf ein zu erwartendes singuläres Ereignis und ist eines schon selbst. Man kann lange auf dem aktuellen „Lyrik-Markt“ nach einem Vergleich suchen: die Gedichte der Bixley-Bände geben sich nicht nur so. Die frühe Lyrik Ivan Blatnýs umfasst insgesamt vier Bände, der letzte erschien gegen Ende des Zweiten Weltkrieges erschien. Zu „Quellen der Inspiration“(Serke) seiner Inspiration zählte Ivan Blatný die Dichtungen von T.S. Eliot, Carl Sandberg, Dylan Thomas und Walt Whitmann.
Eines seiner Hauptthemen ist das Glück auf dieser Welt. In einem Gedicht aus dem Jahr 1941 schrieb dazu Blatný: Siehe, wir sind in der Landschaft der neuen Wiederholungen, / und die Stadt auf den Hügeln unter uns tritt aus dem Morgen wie aus einem Bade heraus […][3].Ivan Blatnýs später „Bixley-Dichtung“ gibt sich in ihrer interessierten Kontemplation noch immer diesen Bildern hin. Eine Kostprobe aus Band I. Ivan Blatný nennt das Gedicht schlicht „Anarchie“. Jede der insgesamt sieben Verse dieses Gedichtes spricht der Welt zugewandt. Das lyrische Ich im Gedicht lebt noch immer gern und hat doch einen Kontrahenten, den es in Gegenüberstellungen zu bannen versucht.
Hier ist die Welt ohne Mief
Hier ist die Welt ohne Chief
Tschechisch heißt Eis mit Schoko Eskimo
Wie immer sitze ich froh
auf der dritten Bank in der Felixtown Road
Immer am Wochenende
Behütet – doch bis Ende?
Mit Berücksichtigung der Biografie Ivan Blatnýs wäre jener „Chief“ einerseits mit dem kommunistischen Herrscher„Stalin“ entschlüsselbar, doch kann jeder ex-beliebige Dogmatiker gemeint sein, wobei die Nennung dieses oder jenes Namens das Gedicht zu Fall bringen würde. Offenkundig verweist dieser Fakt auf die Unvereinbarkeit zwischen der Poesie, die die Freiheit ist, und politische Verordnung, die gezielte Unfreiheit ist.
Anstatt Klage bevorzugt das Gedicht Bilder der Freude und des Scherzes und manifestiert ein konstruktives Interesse an einem Leben, das keine Feindbilder nötig hat. Die einzige Bedrohung bleibt bestehen im gedimmten Codewort „Chief“, dessen zu ahnende hierarchische Ordnung(und ihrem Heer) aber in der Felixtown Road ausgeschlossen bleibt, was den heiteren Grundton des Gedichts bestimmt.
Dass lyrische Ich, „froh“ darüber, sich auf immer die gleiche Bank niederzulassen, verweist auf Blatnýs Philosophie der Heimat, in der eine Bank gleichfalls Hoheitsgebiet der Unantastbarkeit menschlicher Würde ist.
Die Unantastbarkeit dieser Würde speist sich aus den einfachen, seit Kinderzeit bewahrten Freuden. Sei es nun wie bei Blatný im darauffolgenden Vers eine tschechische Eis-Sorte oder wie im verwandten Gedicht einer antiken Schönheit mit Namen Sappho ein „Apfel“[4]
Einsam rötet und ründet sich
Zuhöchst im Gezweige
Der süßeste Apfel.
Vergaßen die Pflücker ihn?
O sie vergaßen ihn nicht;
Zu fern nur
Reift er den Händen ...
Wer die Verwandtschaft beiden Gedichte erkennt, sei herzlich aufgenommenin den Kreis der wahren, echten Leser. Felixtown Road – Felix, Felice, das Glück. Was ist in meinen Augen Glück? So lautet in beiden Gedichten die Frage. Und seit den frühesten Zeiten ist die Lyrik der Antwort auf diese Frage auf der Spur. Und das weitab von den glücksverheißenden Meta-Erzählungen politischer Utopie. Denn am Ende eines Gedichtes befindet kein Reich sondern es fehlt sogar jede Spur usurpatorischer Bedrängnis.
Ebenfalls kein regierendes Amt hindert im Gedicht der Sappho daran zeitlos über jenen „süßesten“ Apfel nachzusinnen, sowie auf der Felixtown Road die Anwohner von „deskriptiv-pragmatischen Sehweisen“ (Joisten) wie in Diktaturen keine Notiz nehmen.
Mit dem Denken im anderen nur zu bekannten Leben, zusammengepfercht auf einem Gesellschaftsfloß „der Medusa“ (Géricault) - zu peinigen, wer nicht spurt, bis er erstarrt - können beide nichts anfangen.
Dennoch versteckt sich Blatný in seinen Gedichten nicht: er ist in nahezu jedem seiner Verse zu sehen. Sein lyrisches spricht heiter im Waren House die Wahrheit aus: „ich habe heute zwei Stifte und jede Menge Papier / Tinte und Federn schäkern vor Tisch“. Das Synonym schäkern steht für flirten. Und auch hier ist es ein Flirten von Clowns eher, die am Ende die vermeintlichen Götter hinter ihren falschen Masken – mit Papiergeschossen natürlich – schließlich hervor zerren.
Diese Haltung folgt ebenfalls – der Rezensent kommt zum Schluss – der bildende Künstler Lutz Leibner mit seinen gelungenen grafischen Beigaben. Was die Entsprechung von Bild und Text betrifft, sei auf die allgemeingebräuchliche Reduzierung kongenial verzichtet. Lutz Leibners (unbetitelte) Bilder lassen in beiden Bänden die Gedichte Blatnýs förmlich zu Form und Farbe werden, ohne mit seinen Bild-Kompositionen auf bloße Dekoration anzuzielen.
Im Gedicht „Schicksal“ formulierte Blatný ein philosophisches Bonmot, der es zumindest geschafft hat, inzwischen in aller Munde zu sein: „Du hast keine Chance also nutze sie“. Der Gedanken-Ball wird in den Schlussversen des Gedichtes „Anarchie“ aufgefangen. Das lyrische Ich sitzt auf der Bank in der Felixtown Road:
Immer am Wochenende Behütet – doch bis ans Ende?Zwar spielt der „Chief“ im Schlussvers unsichtbar noch einmal seine unheimliche Rolle. Solange Felixtown Road aber existiert – werden Gemeinschaften, die jeden zur selben Sitte zwingen, keine Einkehr finden, wiewohl der Grauton im Schlussvers fragt, ob das bis ans Ende gelingt.
Behütet – doch bis ans Ende?
Die Bilder von Lutz Leibner nutzten die ihnen zur Verfügung stehende räumliche Polarität in beiden Bixley-Bänden für einen von Blatnýs Gedichten inspirierten zwar doch – wie gesagt - eigenständigen feinsinnigen wie lebendigen Dialog mit dem Dingen, was vorzüglich gelingt. Ohnehin die einfach großartigen Übertragen von Frank Wolf Matthies.
PS: Wie der Rezensent erfuhr, befindet sich „Hilfsschule Bixley Band III“ in Progress.
Ivan Blatný, Hilfsschule Bixley & andere Gedichte. Mit Bildern von Lutz Leibner. Ausgabe nur für Privat und zum Verschenken. Nicht paginiert. Nachdichtungen von Frank Wolf Matthies. Alle Rechte beim Nachdichter.
Ivan Blatný, Hilfsschule Bixley II. Gedichte. Mit Bildern von Lutz Leibner. Ausgabe nur für Privat und zum Verschenken. Nicht paginiert. Nachdichtungen von Frank Wolf Matthies. Alle Rechte beim Nachdichter.
Besuchen Sie auch die Internetseite des Nachdichters:
www.frankwolfmatthies.de
Erstveröffentlichung: http://tabularasamagazin.de/artikel/artikel_6264/ [1]Jürgen Serke, Die verbannten Dichter, Fischer TB 1982, S.178.
[2] Ebenda, S.175.
[3] Jürgen Serke S. 181.
[4] Sappho, Der Apfel, übersetzt von Rudolph Bayr, in: Die Klassische Gedichte der Weltliteratur, Verlag Das Bergland Buch, Salzburg/Stuttgart 1966, S.137.
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