Samstag, 2. April 2016

Buchkritik: Feine Herzen, grobe Herzen in Nicki Pawlows neuem Buch “Der bulgarische Arzt”

von Axel Reitel

2019 wird die bulgarische Stadt Plovdiv die europäische Kulturhauptstadt. Und in Plovdiv spielt auch ein Gutteil der spannenden Handlung des Romans der 1964 in Köthen, Sachsen-Anhalt, mitten im Kalten Krieg als Tochter eines bulgarischen Vaters, des Arztes, und einer deutschen Mutter, geborenen Nicki Pawlow. In Plovdiv lebt die Familie des Vaters, dessen wuchtiger Schädel bald einem befreundeten Ostberliner Bildhauer als Vorlage für eine Karl-Marx-Büste dient. Diese wird von der Tochter im “Haus des Lehrers” am Stralauer Platz erinnert, wo sie sie einmal bewundert und von wo sie nach dem Ende der DDR über Nacht verschwindet.


Das wäre sozusagen der Türöffner des Romans, bei dem es sich einerseits um die Spurensuche nach der Biografie des gutherzigen, doch von Wutanfällen heimgesuchten Vaters mit der “slawischen Seele” und der zwischen Narzißmus und Eiseskälte taumelnden deutschen Nachkriegsfamilie der Mutter dreht. Andererseits spielt Nicki Pawlow wie bereits in ihrem Roman, “Die Frau in der Streichholzschachtel”, äußerst geschickt mit politischer Zeitgeschichte und ihren Folgen für die betroffenen Menschen. Und diese treten am deutlichsten am zweiten Schauplatz des Romans hervor, in der zwischen Ost und West gespaltenen DDR. Dass dabei vor allem der Neid auf Freiheit und Besitz der anderen eine Rolle spielte und ganz speziell der Neid auf den Westen, der ganze Familienstrukturen und Liebesverhältnisse zerreißt, arbeitet die Autorin in einer Schlüsselszene heraus, wie in jener zwischen der Mutter Rose und deren Geliebten Jakobi (sic), einem Befürworter des rigiden Staatssystems, heraus: “Sie erzählte, wie Jacobi an einer roten Ampel gehalten hatte und wie ihr Blick auf einen weißen Transporter auf der anderen Straßenseite gefallen war...Vor dem Transporter parkte ein "Tschaika" [russische Luxus-Limousine]. Die Möbelträger verstauten gerade Tische, Stühle, Kommoden und Schränke.” Eine Wohnung eines in den Westen Geflohenen wird von den Dienern der Staatsmacht ausgeräumt, das Interieurs beschlagnahmt, was Rose entrüstet und Jacobi gefällt: “Verräter brauchen kein Privateigentum!” (S.306)


Diese herablassende Haltung des Mitläufers Jacobi, in seiner Neugier auf Schlechtes, empört Roses Prinzip der Bereitschaft zur Freude. Vor allem aufgrund der Tatsache, dass die Unvereinbarkeit, die am Ende der Szene beide voneinander trennt, auch an anderen, heute noch existierenden Orten – und nicht allein in der DDR -, spielen könnte, verweist auch auf die universellen Grundproblematiken innerhalb der Handlung.


Ja, die Autorin Nicki Pawlow führt uns in der Tat so einiges vor Augen und beweist, dass die DDR weder “auserzählt” ist - noch auserzählt sein kann. Wie auch kann von einem Staat mit seinen nahezu zahllosen internationalen Verflechtungen wie zum Beispiel in die Volksrepubliken Afrika, Asien und die Karibik jemals alles erzählt sein? Überall da waren Menschen wie die Familie Nikolow unter der Maßgabe einzuhaltender Gesetze und gegebener Gesetzmäßigkeiten unterwegs. Natürlich waren jene Gesetze auf die Unterwerfung der Menschen ausgerichtet und erzeugten Konflikte. Genau das ist der Stoff, aus dem Nicki Pawlows höchst bemerkenswerter Roman ist. So wird das eigentliche dramaturgische Ziel der Protagonisten, nämlich die Flucht in den Westen, vom äußersten Rand her und durch Nebenfiguren – durch Mitglieder des deutschen Teils der deutsch-bulgarischen Familie-, eingeführt: [...] “Aber es geht doch um die Freiheit!” rief Rose. Und Lotti sagte: “Genau!” “Von einem Schlamassel sind wa in den nächsten jerutscht”, kam es von Max, der nervös an seiner kalten Zigarre zog. “Unser Bruder hat’s richtig gemacht, der ist im Westen!”, sagte Lotti.[...] (S. 68)
Die gesamte Szene entwickelt die Autorin über drei Seiten und sie gehört mit zu den besten des Romans. Vor allem spricht Lottiaus, was Wantschos Familie letzten Endes nur übrigbleibt. Dabei wird vorher zunächst aus der DDR nach Bulgarien zu Wantschos Eltern umgezogen, was sich einerseits aus scheinbar kulturellen Unvereinbarkeiten -die von der deutschen Schwiegermutter Wantscho ständig in wahrlich eiskalten Briefen unter die Nase gerieben werden. Andererseits verdient Wantscho, obwohl er schnell eine gute Stelle als Arzt findet, so gering, dass es zum Ernähren einer Familie – Rose wird in Bulgarien schwanger -, kaum reicht.


So bleibt am Ende nichts anderes als die Rück-Siedlung in der DDR. Dort lässt es sich zunächst gut an, doch überschlagen sich gerade jetzt jene politischen Ereignisse, die heute als Anfang vom Ende des Kommunismus gelten. Die Panzerkolonnen der Warschauer Paktstaaten 1968 überraschen die Familie während des Badeurlaubes in Heiligendamm. 1976 folgt die Ausbürgerung Wolf Biermanns, die sich gerade für die DDR als Sargnagel erwies.


Beeindruckend schildert die Autorin eines der letzten Konzerte Manfred Krugs in jenem kleinen Kaff in Thüringen, in dem Familie Nikolow in der DDR bis zur ihrer ausgeklügelten Flucht in den Westen lebt. Der herzhafte Auftritt des beliebtesten Schauspielers und Jazzsängers der DDR, der sich mit seinem Freund und Kollegen Biermann solidarisierte, gerät zum Alptraum für die zum Konzert geschickten FDJ- und MfS-Schlägerbanden, als Krug von der Bühne herab mit ihnen Klartext redet und anschließend die Bühne verlässt.


Es wimmelt von VoPos und schließlich soll Wantscho wegen des Konzertbesuches der Doktortitel aberkannt werden (S.304). Nichtsdestotrotz erhält er am Tag des Gesundheitswesens eine hohe Auszeichnung, doch als er das Podest für die Dankesrede besteigt, denkt er nur an die eigene Flucht. Auch mit der Beschreibung der beinahe in letzter Sekunde gescheiterten Flucht der Familie Nikolow über Österreich gelingt der Autorin ein Stück ganz hervorragender Prosa.

Überhaupt hält dieser großartig geschriebene Roman das Krachen der Gegensätze von einst in ungeheuer lebendigen Bildern fest. Und last but not least lebt dieser Roman auch von der Tatsache, dass die Autorin, mit Georg Steiner gesprochen, ihr Thema nicht einfach mal so auswählte, sondern hier suchte sich zweifelsfrei ein Thema seine Autorin. Das lässt sich gerade einmal von den Glaubwürdigsten sagen.

Nicki Pawlow, Der bulgarische Arzt, Roman, Langen Müller Verlag, 496 Seiten, € 23,70.

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